Böse Zungen (Ernst Muellenbach)
Böse Zungen.
An einem ziemlich heißen Augusttage, so gegen halb sieben Uhr abends, sagte die Frau Amtsgerichtsrat Braun in Grünau zu ihrem Gatten: „Mein Lieber, du willst ja nun wohl auch heute wieder ins Kasino, um da mit den anderen bei Wein und Kartenspiel die häuslichen Sorgen eurer armen Ehefrauen zu vergessen – wie du es leider jetzt schon seit sechsundzwanzig Jahren jeden zweiten Nachmittag treibst. Sei so gut und erinnere den Doktor Franz Hertel, wenn du ihn siehst, recht freundschaftlich daran, daß wir jeden Sonntagabend für unsere Freunde zu Hause sind und daß er sich zu rar macht. Ich hatte es dir schon längst sagen wollen, aber ich habe mir wieder einmal eingebildet, du dächtest von selber an etwas, das möglicherweise im Interesse deiner Familie liegt.“
Der Herr Amtsgerichtsrat, ein großer, wohlbeleibter Mann mit den Zügen eines im Krieg ergrauten Reiterobersten, blickte etwas unsicher nach seiner kleinen Frau hinüber und bemerkte höflich: „Gewiß, liebe Elfriede, ich werde es nicht vergessen. Ich würde es auch ohne Zweifel schon von selbst gethan haben; aber ich glaubte mich zu erinnern, daß du dich verschiedenemal über den Herrn Doktor Hertel sehr ungünstig ausgesprochen hast.“
„Wenn ich das gethan habe,“ erwiderte seine Gattin mit ruhiger Schärfe, „so werde ich meine Gründe gehabt haben. Du weißt, ich habe es gottlob noch nie nötig gehabt, mein Urteil über einen Menschen zu ändern. Der junge Mann ist Dichter, und ich halte das Dichten ganz allgemein für einen verfehlten Beruf. Das schließt aber nicht aus, daß er auch seine guten Seiten hat; als Ehemann würde er sich vielleicht besser in seine Stellung zu finden wissen als mancher andere; ein hübsches Vermögen hatte er schon, ehe seine Tante Adele ihm das große Haus am Michaelismarkt vermachte, was mich eigentlich noch immer wundert, denn sie war sonst eine ziemlich vernünftige Person, und wir waren ja doch auch noch von meiner Großmutter her mit ihr verwandt; ich verstehe nicht, wie sie das so völlig vergessen konnte, solltest du sie einmal vor den Kopf gestoßen haben? Männer wissen ja nie, was sie sagen. Du solltest dich wirklich einmal etwas zusammennehmen, Albrecht! Am Ende ist ja auch ein Dichter, wenn er Vermögen hat, etwas ganz Respektables. Und es war mir anfangs schon, als ob sie sich für einander interessierten. Du weißt, wie unsere Helene immer für Poesie war, sie hat sich auch seine Romane aus der Leihbibliothek geholt, ich finde, das gute Kind sorgt unbewußt mehr für sich als sein Vater mit klarem Bewußtsein. Nun, du weißt jetzt, wie ich über die Sache denke.“
„Gewiß, liebe Elfriede,“ sagte der Gatte und griff nach seinem Hut. „Hast du mir sonst noch etwas aufzutragen?“
„Nein,“ anwortete sie und reichte ihm den Spazierstock. „Du kannst gehen. Ich hoffe, daß du um Neun wieder hier bist.“
Während man so in der Wohnstube des Amtsgerichtsrats für die Zukunft des Dichters sorgte, schlenderte dieser im Grünauer Stadtwalde umher, ganz der Gegenwart hingegeben. Er sammelte Blumen und Gräser zu einem hübschen kleinen Strauße: goldgelbe, blaßrote und violette Blumen mit nickenden, federnden Waldgräsern. Dabei dachte er so wenig an Fräulein Helene Braun wie an irgend ein anderes der vielen jungen Fräulein, die einen so hübschen Strauß aus den Händen eines so stattlichen Mannes mit so sprechenden braunen Augen – und sogar dem Schatten eines Lorbeerkranzes auf der hohen Stirne – verheißungsvoll errötend angenommen hätten. Die Liebe hatte durchaus keinen Anteil an dieser sinnigen Beschäftigung, die er seit den Knabenjahren mit gleicher Neigung und wachsendem Geschmack übte. Wie es die Minnesänger des Mittelalters so gern von sich erzählen, konnte er Stunden damit verbringen, irgendwo im Walde „den lieben Vögelein“ traumhaft zu lauschen und dazu „Blumen weiß, gelb, rot und blau zu brechen“. Er unterbrach diese Beschäftigung niemals, um irgend ein über dem Blumenbrechen so ganz von selber fertig gewordenes Gedicht niederzuschreiben, ja er führte nicht einmal das in veilchenblauen Sammet gebundene Notizbuch mit silbernem Bleistift und der Aufschrift „Poesie“ bei sich, ohne welches sich gewisse Spötter einen deutschen Dichter im Walde nicht zu denken vermögen. Immerhin ist anzunehmen, daß er unbewußt von seinen Blumen und Sträußen manch gute Eingebung bekam und auch mehr für seinen poetischen Stil von ihnen lernte, als sich aus Büchern lernen läßt; denn die Gesetze der Harmonie sind dieselben im Reiche der Farben, der Düfte wie der Töne und Worte, und wer zum Beispiel eine wilde Rose, eine Mohnblume und ein Gänseblümchen zu einem Strauße zusammenstellt, ohne vor sich selber zu erschrecken, von dem kann man auch als Dichter nur Schreckliches erwarten. Man erkennt den Menschen an seinen Sträußen! Auf großartige Symphonien von Blumen und Farben ging Franz Hertel nicht aus, aber was er sich von seinen nachmittägigen Waldgängen heimbrachte, das paßte zusammen, es wirkte durchs Auge erfrischend und beruhigend auf die Seele wie ein reiner Accord oder ein wahres, schlichtes Wort, und so sprach auch aus seinen Erzählungen und Gedichten eine heitere, schlichte Schönheit, welcher sturmgeprüfte reife Leser nur zuweilen etwas schärfere Linien – einige Dornen zwischen den Blumen gewünscht hätten. Er besaß schon damals einen gewissen Ruhm, der nicht hell aufloderte, aber um seine ruhige Flamme einen mäßig großen, um so treueren Kreis von Verehrern sammelte, und er trug ihn mit einer bequemen Gelassenheit, die den Grundzug seines Wesens bildete.
Uebrigens war er in der Grünauer Gesellschaft noch eine neue und kaum bekannte Erscheinung. Vor einigen Monaten hatte er die Stadt seit seinen Kinderjahren zuerst wieder besucht, um die unvermutete Erbschaft anzutreten, deren wichtigster Teil in einem weitläufigen, an verschiedene Parteien vermieteten Patricierhause bestand. Die anmutige Lage der Stadt, der unmoderne Zuschnitt des kleinstädtischen Lebens und sogar die altfränkische Ausstattung der ererbten Wohnung boten dem jungen Dichter nach den Aufregungen eines großstädtischen Winters und Frühlings eine wohlthuende Abwechslung; er verschob die Abreise, bis er sich schließlich ganz heimisch machte und von den Honoratioren schon fast als neuer Mitbürger behandelt wurde. Als behäbiger Einsiedler, ohne leidenschaftliche Anregungen – denn sein Interesse an Helene Braun und einigen anderen Musen und Grazien von Grünau war von Leidenschaft weit entfernt – drohte er schon ein klein wenig anzuphilistern, trotz der poetischen Sträußchen, die er sich von jedem seiner Waldgänge mitbrachte. Aber so leichten Kaufs wollte die Poesie ihren treuen Ritter doch nicht verlieren, und als sie merkte, daß er schon so weit war, der Frau Amtsgerichtsrat als eine solide Partie zu erscheinen, da griff sie ein und warf ihm ein Abenteuer in den Weg.
Der Ort dieses Abenteuers war das Brezelgäßchen, ein schlechtgepflasterter Durchgang, knapp einen Wagen breit, der den bescheidenen Ansprüchen früherer Geschlechter als Verbindung zweier Hauptstraßen genügt hatte, nun aber längst zu gunsten eines neuen, geräumigen Durchschnitts außer Dienst gestellt war. Von romantischer Architektur und dergleichen hatte das Brezelgäßchen gar nichts aufzuweisen: auf der einen Seite reihten sich ziemlich unsaubere Hinterhäuser in langweiliger Einförmigkeit aneinander, und gegenüber diesen Wohnungen der Armut zog sich ebenso einförmig die Mauer eines jetzt als Bleiche benutzten ehemaligen Klosterkirchhofs hin, ungefähr in der Mitte des Gäßchens unterbrochen von einem breiten, verrosteten Gitterthor, das von zwei kleinen einstöckigen Wärterhäuschen bewacht wurde. Selbst der Dichterblick Franz Hertels hatte bisher in dem Gäßchen nichts Anmutiges noch Anregendes entdecken können; auch benutzte der Doktor es nur seit einigen Tagen, weil die neuere Parallelstraße zwecks irgend einer Röhrenlegung aufgerissen war. Als er aber an diesem Abend nichts ahnend an dem ersten Wärterhäuschen vorübergeschritten war, löste sich aus dem schon dunklen Pförtchen des zweiten eine schlanke, dunkel gekleidete Mädchengestalt ab. Franz blickte in ein errötendes schönes Gesicht, aus dem ihm unter goldblondem Stirnhaar große blaue Augen bittend entgegenschauten, und eine überaus wohlklingende Stimme sagte leise: „Sie verzeihen, mein Herr … Ich sehe Sie schon seit drei Tagen jeden Abend mit einem frischen Waldblumenstrauß hier vorübergehen ... Möchten Sie mir wohl diesen kleinen Strauß da überlassen?“
[882] Und da Franz Hertel etwas betreten erst auf die schmale weiße Hand, die sich nach seinem Strauß ausstreckte, und dann wieder in das schöne Gesicht blickte, schlug sie, noch tiefer errötend, die Augen nieder und stammelte kaum hörbar: „Es ist für eine Kranke, die sich über alles nach einem solchen Strauße sehnt … Ich denke, auch Sie lieben die Waldblumen, aber Ihnen ist es leicht, sie zu pflücken …“
„Aber ich bitte, mein Fräulein,“ erwiderte Franz Hertel und reichte ihr das Sträußchen, „es ist mir eine große Freude … zumal zu solchem Zwecke … Aber,“ fügte er treuherzig hinzu, „dann müssen Sie mir schon erlauben, daß ich den kleinen Dienst wiederhole. Ich bin es gewohnt, jeden schönen Nachmittag mir ein solches Andenken vom Walde mitzunehmen … Es ist wohl nur eine Spielerei … aber wenn Sie mir erlauben wollten, sie nützlich zu machen, um einen Menschen damit zu erfreuen …“
Ein prüfender Blick traf sein Antlitz, aus dem in diesem Augenblicke nur die ehrlichste Freude am Gutthun sprach. „Ich danke Ihnen sehr,“ sagte sie einfach. „Wenn Sie die große Güte haben wollten … morgen abend um diese Zeit werde ich wieder hier sein … Nochmals vielen, vielen Dank!“ Dazu neigte sie das Haupt – ein vornehmes, fast stolzes Nicken; und sogleich hatte sich das Pförtchen hinter der Schönen geschlossen.
An jenem Abend suchte der Amtsgerichtsrat den juugen Dichter vergebens im Kasino; aber ein glücklicher Zufall ließ ihn tags darauf gegen acht Uhr dem Ersehnten begegnen, der eben in das Brezelgäßchen einbiegen wollte, mit einem überaus sorgsam zusammengestellten Strauß von Waldblumen in der Hand. Franz Hertel unterbrach die wortreiche Einladung mit einer hastigen Zusage, die dem Amtsgerichtsrat wieder einmal Anlaß gab, den Scharfblick seiner Gattin zu bewundern. „Der junge Mann ist doch wirklich zu schüchtern,“ dachte er im Weitergehen; „wenn er schon so verwirrt wird vor lauter Freude bei der Aussicht, unsere Helene wiederzusehen, warum macht er denn meiner Frau nicht das Vergnügen schon längst?“ „Gott sei Dank, daß er geht,“ dachte Franz Hertel gleichzeitig mit einem Blick auf die Uhr. „Das hätte gerade noch gefehlt, daß mich der alte Knabe hier eine halbe Stunde festhielt, um mir von seiner Tochter vorzuschwärmen. Es ist so schon zu spät geworden.“ Denn er hatte fast bis zum Beginn der Dämmerung im Stadtwalde an seinem Strauße herumgemodelt und fürchtete, darüber die Zeit zur Ablieferung des Kunstwerkes versäumt zu haben. Als er sich aber dem Wärterhäuschen näherte, öffnete sich die kleine Pforte, das schwarzgekleidete Fräulein erschien, erwiderte des Dichters Gruß mit huldvollem Neigen des Hauptes, ergriff den Strauß mit einem bewundernden „Wie herrlich! Ich danke Ihnen recht sehr!“ und wollte sich mit einem stummen Gruße zurückziehen. „Darf ich fragen, wie es – wie es heute geht?“ stammelte Franz Hertel mit einem höchst ungeschickten Winken nach dem Häuschen hin, da ihm keine genaue Bezeichnung des Gegenstandes seiner freundlichen Nachfrage einfiel. Das Fräulein verstand ihn gleichwohl. „O, ich danke … es geht besser!“ erwiderte sie leise – nickte Gute Nacht und war verschwunden.
Am folgenden Abend verkürzte sie die kurze Unterhaltung noch, indem sie ihr tröstliches „Es geht etwas besser!“ sogleich der Begrüßung beifügte, noch ehe er gefragt hatte; und auch am fünften oder sechsten Abend waren ihre Gespräche noch nicht länger geworden. Trotzdem waren diese wenigen Worte, diese abendliche halbe Minute einer fast stummen Begegnung für Franz Hertel bereits der beste Teil des Tages geworden, das, worauf er sich ein ganzes Heute lang freute, um es als Labung für ein ganzes Morgen mitzunehmen. Das Bild dieser ernstfreundlichen lieblichen Mädchenschönheit, die mit ihrer stillen blühenden Anmut viel eher in die Welt der besten alten florentinischen Maler als in das Brezelgäßchen von Grünau paßte, verschwand für ihn nicht hinter dem dunklen, verwitterten Pförtchen: es blieb beständig vor seinem inneren Auge, und von dem blonden Haupte ging ein sanftes stetiges Leuchten aus, das den jungen Dichter seine ganze kleinstädtische Umgebung zeitweilig vergessen ließ. Wenn das Pförtchen sich geschlossen hatte und Franz Hertel sich mit einem tiefen Atemzuge zur Heimkehr wandte, so gewahrte er nichts von den grauhaarigen Weiberköpfen, die hinter den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser mit platt an die Scheiben gedrückten Nasen herunterstarrten und tuschelnd zusammenfuhren; oder wenn er sie doch mit den Augen wahrnahm, so blieben sie für seine verklärte Seele gleichgültige Dinge, dergleichen unsere Sinne allezeit eine Unmenge wahrnehmen, ohne daß wir sie in irgend eine Verbindung mit uns und unseren Gedanken bringen. Am allerletzten aber hätte Franz Hertel diese niederländischen Charakterköpfe in eine Verbindung mit seiner „schönen Florentinerin“ – wie er sie für sich zu nennen pflegte – gebracht. Noch immer wußte er ihren Namen so wenig wie irgend sonst etwas über ihre Verhältnisse. Ein Adreßbuch gab es in Grünau noch nicht, und ein merkwürdiges Gefühl verbot ihm, auf Umwegen sich nach ihr bei seinen Grünauer Bekannten zu erkundigen; das wäre ihm wie eine Art Beleidigung gegen die Schöne erschienen. Es machte ihm schon fast Gewissensbisse, daß er, einem unwiderstehlichen Drange folgend, ein paarmal in später Abendstunde an dem Häuschen vorüberstrich, ohne mehr zu bemerken als dunkle Mauern und verschlossene Holzläden, zwischen denen ein ganz schmaler Lichtstreif durchschimmerte.
Aber so wunderlich sein karger persönlicher Verkehr mit der Holden begonnen hatte, sollte er auch abbrechen. Am siebenten oder achten Abend, als Franz Hertel mit einem Meisterstück der Blumenbinderei ins Brezelgäßchen einbog, vertrat ihm ein ärmlich gekleideter Junge mit kurzborstigen Haaren und sommersprossigem, magerm Gesicht den Weg. „Sind Sie der Herr mit den Blumen für das Fräulein da hinten?“ fragte er, indem er mit einer schubsenden Bewegung der linken Schulter nach dem Wärterhäuschen deutete. Und da Franz Hertel unwirsch verwirrt fragte: „Was willst du denn, Junge?“ fuhr der Sommersprossige fort: „Dann soll ich Ihnen das hier mit einer schönen Empfehlung geben.“
Damit überreichte er dem Dichter ein kleines Briefchen, verschlossen, ohne Aufschrift. Hastig öffnete Franz Hertel den Umschlag, mit einer Spannung, in die sich eine gewisse Enttäuschung mischte; es durchzuckte ihn, wie wenn plötzlich ein sehr irdisches Schlaglicht über das romantische Bild in seiner Seele hinginge. Aber sogleich stand das Bild wieder im alten Scheine, nur schmerzlich weit entrückt, vor ihm, als er im letzten Abenddämmern mühsam die wenigen Worte entziffert hatte, die in zierlich feiner Schrift auf dem kleinen Briefkärtchen standen:
„Herzlichen Dank und Lebewohl!“
Sonst nichts. Kein Name und gar nichts weiter.
Franz Hertel spähte das Gäßchen hinunter, als wollte er seine Augen zwingen, das Pförtchen sich öffnen und die schlanke Gestalt hervortreten zu sehen, dann wandte er sich nach dem Jungen zurück, der mit den Händen in den Hosentaschen da stand und den Bestürzten, wie diesem schien, mit einer diabolischen Neugier betrachtete.
„Hat dir das Fräulein sonst nichts bestellt?“ fragte Franz Hertel.
„Ich soll Ihnen sagen, sie reiste ab, hat sie gesagt,“ berichtete der Junge.
„So?“ bemerkte Franz Hertel. „Woher kennst du sie denn?“
„Gar nicht. Sie hat mir bloß einen Nickel gegeben und ich sollte Ihnen das da bestellen. – Und sonst hat sie mir gar nichts gesagt,“ fügte der Sommersprossige hastig hinzu und lief davon.
Schließlich blieb Franz Hertel nichts übrig, als seinen Strauß mitsamt dem Briefchen heimzutragen. Es war ihm aber in seinem einsamen Zimmer so öde an diesem Abend, daß er sich am Ende ins Kasino flüchtete. Dort zog ihn der Amtsgerichtsrat, der heute seinen häuslichen Urlaub überschritten hatte, an seinen Tisch und verwickelte ihn in ein politisches Gespräch. Dem alten Herrn that es sehr wohl, einen Zuhörer zu finden, der ihm mit allen Zeichen gespannten Nachdenkens gegenüber saß und ihn nur zuweilen mit einem Worte höflicher Zustimmung unterbrach.
„Weißt du, mein Herz,“ berichtete er daheim der Gattin, „ich hatte eine lange Unterhaltung mit dem Doktor Hertel, und da wollte ich doch nicht so kurz abbrechen. Es scheint wirklich ein ausgezeichneter junger Mann zu sein, er äußert vortreffliche Ansichten.“
„Wenn du ihn nur nicht kopfscheu machst, Albrecht,“ erwiderte die Gattin mit sanfter Strenge. „Mit dem Assessor vor drei Jahren ist es dir auch so gegangen.“
An den nächsten Tagen ging Franz Hertel nicht zum Walde. Er saß viel an seinem einsamen Schreibtisch, rauchte eine Cigarre [883] nach der andern, starrte das Sträußchen an, das in einer kleinen Vase neben dem Tintenfaß stand, und verfaßte zahlreiche Gedichte in einer schwermütigen, etwas unklaren Art, die ihm sonst fern lag. Er machte eine kleine Abendgesellschaft im Hause des Amtsgerichtsrats mit, in der selbstquälerischen Absicht, sich gründlich zu langweilen, was ihm aber nur halb gelang. Die joviale Art des Hausherrn und die treffliche Bewirtung, die zu den erfreulichen Seiten der Frau Amtsgerichtsrat gehörte, ließen ihn fast wider Willen jenes Behagen empfinden, das einen „alleinstehenden“ Mann von gutem Geschmack jedesmal überkommt, wenn er auf kurze Zeit in einer wirklichen Häuslichkeit weilen darf. Die anderen Gäste, zumal die jüngere Weiblichkeit, waren freilich sehr unbedeutend, so sehr, daß sich Fräulein Helene von ihnen beinahe glänzend abhob, denn sie besaß von der Mutter her eine gewisse Fähigkeit, schnell zu beobachten und das Beobachtete leicht auszusprechen, und war klug genug, dem jungen Dichter gegenüber diese Fähigkeit zu ihrem Vorteil zu üben, indem sie sich möglichst viel nach seinen eigenen Ansichten und Urteilen richtete, die sie aus seinen Büchern kannte. Auf diesem Wege sind Dichter womöglich noch leichter zu täuschen als andere Männer: Franz Hertel erstaunte verschiedenemal aufrichtig darüber, welche Weite des Geistes sich dieses Mädchen doch inmitten ihrer alltäglichen Umgebung bewahrt habe, er glaubte zu verstehen, wie eingeengt sie sich in ihrem Kreise fühlen müsse, und folgte ihrer etwas überschlanken Gestalt mit Blicken einer nachdenklichen Teilnahme, die von der Mutter gern gesehen und äußerst falsch gedeutet wurden.
Am Tage nach dieser Gesellschaft hatte Franz Hertel sich wieder in den Wald gewagt. Nach einigen Stunden gedankenvollen Umherschlenderns fand er sich unversehens auf einer großen Lichtung wieder, die über und über mit Blumen bedeckt war, wie sie diese Jahreszeit noch bietet. Er erinnerte sich, daß er hier jenes letzte, nicht mehr ans Ziel gelangte Sträußchen gebunden hatte, und ganz wunderlich überlief es ihn, als er merkte, daß er heute zum erstenmal der alten lieben Gewohnheit vergessen und keine Blüte gepflückt habe. Da sah er am Rande der Lichtung etwas Graues kauern und zappeln, und näherschreitend entdeckte er, daß es der sommersprossige Bote war, der ein gewaltiges Bündel armlanger Blütenstengel in der Hand hielt und noch immer neue dazu ausraufte.
„Nanu, Junge,“ rief Franz Hertel, „was machst du denn da? Das soll wohl für eure Ziege sein?“
Der Junge sah ihn etwas ungewiß an und sagte: „Wir haben gar keine Geiß.“
„Wozu raufst du denn alle die Blumen aus?“
Der Junge grinste und schwieg. Da kam dem Dichter eine glückliche Eingebung. „Sieh mal,“ sagte er sanft und holte ein Geldstück hervor, „dieses Zwanzigpfennigstück bekommst du, wenn du mir jetzt hübsch ordentlich sagst, wozu du die Blumen abreißest.“
Auf dem Gesicht des Sommersprossigen spiegelte sich ein großer Seelenkampf. Endlich, nach mehrmaligem Auf- und Zuklappen des Mundes, ließ er die Blumen aus der Hand fallen, griff nach dem Geldstück und brummte: „Für das Fräulein!“
„Für welches Fräulein?“ fragte Franz Hertel hastig, ganz geblendet von dem Lichte einer plötzlichen Ahnung.
„Na, für das schöne Fräulein aus dem Brezelgäßchen,“ erwiderte der Junge. „Sie hat mir ja gesagt, ich soll ihr alle Abend einen Strauß aus dem Wald bringen, für zehn Pfennig. Aber sie passen ihr nie recht; sie will sie immer kleiner haben, und überhaupt ganz anders. Und gestern hat sie mir gesagt, ich könnt’ es jetzt schon besser, aber wenn ich ihr mal so einen recht schönen brächte, dann kriegte ich fünfzehn Pfennig. Und da wollt’ ich mir jetzt zuerst einen ordentlichen Haufen zusammenholen, damit setz’ ich mich dann nachher hinten auf die Bank und such’ mir was aus.“
„– So?“ sagte Franz Hertel nach kurzem Bedenken. „Nun pass’ mal auf, mein Junge, nun will ich dir was sagen, und dann wollen wir sehen, ob du wirklich so ein kluger Junge bist wie du scheinst.“
Auf diese schmeichelhafte Einladung hin ging der Sommersprossige mit seinem neuen Bekannten eine Verhandlung ein, die zu folgendem mündlichen Vertrag führte: Der Junge verpflichtete sich, von weiterer Waldverwüstung abzusehen und den Dichter jeden Abend um halb acht Uhr an einer stillen Ecke zu erwarten. Der Dichter verpflichtete sich, ihm dort jedesmal einen Strauß und zehn Pfennig zu überreichen; der Junge verpflichtete sich, den Strauß als sein eigenes Machwerk dem Fräulein zu überliefern – die zehn Pfennig verblieben ihm zu freier Verfügung. Beide Parteien verpflichteten sich, über die Geschichte zu schweigen.
Nachdem dieser Vertrag geschlossen war, mußte der Junge noch eine gute Stunde warten, bis der Dichter einen Strauß fertig hatte, den er statt seines eigenen Futterbündels dem Fräulein bringen sollte. Es war ein sehr hübscher kleiner Strauß, aber Franz Hertel war doch noch nicht von ihm befriedigt, wenn er ihn auch nicht so geringschätzig betrachtete wie der Junge, der sein Urteil in die Worte zusammenfaßte: „Dafür gäb’ ich keine zwei Pfennig!“
Franz Hertel ließ ihn mit dem verachteten Kunstwerke abziehen. Er selbst blieb noch eine Weile zurück, um über diese neue Wendung seines Abenteuers nachzusinnen. Den Jungen hatte er während seiner gärtnerischen Arbeit nach Kräften ausgehorcht, aber der kannte zwar schon Namen und Wohnung des Dichters, schien dagegen nicht mehr über das Fräulein zu wissen als er, und es widerstrebte Franz Hertel, einen solchen Zwischenträger geradezu auf Kundschaft auszusenden.
Die Verbindung war auch so schon wunderlich genug. Franz Hertel versuchte eifrig, sich einzureden, daß er den ganzen Vertrag nur geschlossen habe, damit das Fräulein – vielmehr ihre Kranke nicht noch länger durch die irrigen Auffassungen des Jungen über die Schönheiten eines Waldblumenstraußes grausam enttäuscht werde. Des weiteren redete er sich sogar ein, daß es ihm ganz gleichgültig sei, weshalb die schöne Namenlose einem solchen zerlumpten Schlingel lieber die Sträuße abkaufe, als sie von ihm umsonst zu nehmen. Nachdem Franz Hertel mit seinem Gewissen darüber einig geworden war, daß ihm die Einfälle und Launen seiner schönen Florentinerin so gleichgültig seien wie alle Frauenlaunen der Welt, und daß sein Abkommen mit dem Sommersprossigen durchaus nichts weiter bedeute als eine etwas romantisch verkleidete Ausübung schuldiger Nächstenliebe, ging er heim, um die ganze Nacht von der holden Unbekannten zu träumen.
Der Vertrag zwischen dem jungen Dichter und dem Knaben wurde nun etwa vierzehn Tage lang und, dank der Beständigkeit des guten Wetters, ohne einen einzigen Tag Pause ausgeführt, wobei sich der Sommersprossige als ein brauchbarer Bote erwies; übrigens schien das Fräulein den Verkehr mit ihm in denselben engen Grenzen zu halten wie zuvor den mit Franz Hertel. Nur das erste Mal hatte sie sich über die außerordentlichen Fortschritte des Jungen in der Straußbindekunst lobend ausgesprochen, was diesen so verwunderte, daß er es seinem Auftraggeber am nächsten Abend grinsend erzählte. Der Dichter belohnte ihn für die Erzählung mit einem Zuschuß von fünf Pfennig, worauf sich beides, Erzählung und Zuschuß, noch ein paarmal wiederholte; da aber Franz Hertel einmal zufällig den Zuschuß vergaß, hörte auch die Erzählung auf, und der Dichter fing an zu zweifeln, ob sie überhaupt jemals wahr gewesen sei. Jedenfalls schien es ihm geraten, die Erfindungsgabe des Jungen nicht noch durch Fragen zu reizen. Er zog es vor, seine früheren spätabendlichen Forschergänge durch das Brezelgäßchen wieder aufzunehmen. Einmal, an einem etwas nebligen Abend zu Anfang des September, glaubte er auch die Empfängerin seiner Sträuße in einer vor ihm herwandelnden schlanken Gestalt in dunklem Regenmantel zu erkennen, unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte und hatte sie am Ausgange der Straße eingeholt. Als sie sich aber dort unter der Laterne umwandte, blickte ihm unter der Kapuze statt des holden Florentinermädchens eine ältliche, spitznasige Frau entgegen, die ihn so feindselig musterte, daß er ganz entsetzt auswich und weitereilte.
Der Nebel war nicht das Einzige in der Natur, woran Franz Hertel den herannahenden Herbst mit Betrübnis wahrnahm. Sein Blumenbestand verringerte sich täglich. Herbstzeitlosen oder Silberdisteln, falbe und rote Blätter mit reifen Beeren sind ja unschwer zu Sträußchen von großer Wirkung zu vereinigen, aber einer Kranken darf man sie doch nicht senden; und wenn man sich in der Hauptsache auf spätblühende Glockenblumen, lilafarbene [884] Skabiosen, rote Kuhblumen und gelben Waldklee beschränkt sieht, so läuft man auch bei der größten Kombinationsgabe doch leicht Gefahr, sich zu wiederholen. Noch aber war ein Notbehelf in Menge vorhanden – das Heidekraut, oder wie es mit seinem alten deutschen Namen so sinnvoll heißt, das Immerschön, mit seinem zierlichen, zumal bei Lampenlicht in so wundervollem Grün strahlenden Gefieder, mit den zarten, gleich gotischen Spitztürmchen aufsteigenden Blütenrispen und dem kräftigen, lebensfrohen Duft.
Als der Sommersprossige eines Abends in der Hand seines Gönners nur einen sorgsam komponierten Strauß Immerschön entdeckte, blickte er verächtlich darauf und sagte: „Herrje, das ist ja Besenheide! Na ja, nun ist’s überhaupt mit den Blumen bald alle. Unser Fräulein merkt wohl auch so was. Sie bestellt ab.“
„Was meinst du damit, Junge?“ fragte der Dichter erschreckt.
„Sie hören es ja,“ erwiderte der Junge. „Sie bestellt ab. Morgen soll ich zum letztenmal kommen. Möglich, daß die kranke Frau es nicht mehr braucht.“ Damit steckte er seinen Nickel ein und trollte gefühllos pfeifend davon.
Diese Neuigkeit brachte in Franz Hertels Seele einen großen Entschluß zur Reife. Als er am folgenden Abend an der Ecke erschien, trug er außer einem zierlichen Strauß Immerschön ein Briefchen bei sich, das in den anmutigsten Versen der schönen Namenlosen huldigte und zum Zeichen ihres Verzeihens um eine Zeile mit ihrem Namen flehte. Das Gedicht brauchte sich der Unterschrift Franz Hertels wahrhaftig nicht zu schämen; wenn die Florentinerin noch eine Spur weiblicher Eitelkeit besaß, so mußte sie die Bitte erfüllen, zumal auch das Geheimnis der späteren Sträußesendungen darin in einer spannenden Weise mehr gestreift als enthüllt wurde. Dieses Briefchen sollte der Bote zugleich mit dem letzten Strauß überreichen und sodann, mit bewährtem Geschick, durchbrennen, ohne sich auf weitere Fragen einzulassen. Aber kein Junge ließ sich sehen, obgleich Franz Hertel anderthalb Stunden an der Ecke wartete. Wahrscheinlich war das Wetter sogar dem Sommersprossigen zu schlecht gewesen; denn ein abscheulich kalter, scharfer Nordoststurm pfiff durch die Gassen; dem Wartenden brannten die Wangen, wie wenn sie mit Eis abgerieben wären, nur mit Mühe hielt er zuletzt in den frostklammen Händen noch die zitternden Heidezweige fest, von denen der Wind die rotweißen Blütenknöpfchen längst alle abgerissen hatte. Es blieb ihm nichts übrig, als nach Hause zu gehen. Dabei widerstand er der Versuchung nicht, den Weg durch das Brezelgäßchen zu nehmen. Hier, in den schadhaften hohen Dächern der alten Hinterhäuser, heulte der Wind ganz greulich: und deutlich klang durch das Geheul aus dem kleinen Häuschen, hinter den Holzläden mit dem schmalen Lichtstreif her, ein scharfes Klopfen wie wenn eine Kiste zugenagelt wird – oder sonst etwas Hölzernes. Den Dichter durchzuckte es mit jedem Hammerschlag, eine unheimliche Vermutung stieg in ihm auf, und er mußte hart mit sich kämpfen, daß er nicht an das Pförtchen pochte, um sich zu vergewissern, daß da drinnen das blühende junge Leben noch nicht mit dem Tod zusammenwohne.
Als er eben das Ende der Gasse erreicht hatte, bog vom andern Ende eine schwerfällige Droschke ein und arbeitete sich mühsam, unter lautem Fluchen des Kutschers, auf dem holprigen Pflaster bis zu dem ehemaligen Kirchhofthor durch.
Ueber Nacht schlugen Wind und Wetter um. Als Franz Hertel am Morgen das Fenster öffnete, rieselte draußen ein unendlicher Landregen nieder. Mit dem Blumenpflücken war es nichts mehr – aus allen Gründen. Mißmutig setzte er sich hinter ein Buch, ohne recht zu verstehen, was er las. Noch nie hatte er die niederdrückende Wirkung des ersten trübfeuchten Herbsttages so empfunden.
Aus seinem schwermütigen Brüten wurde er durch den Besuch einer Frau aufgeschreckt, die das einladende Herein gar nicht erst abwartete und überhaupt nicht aussah wie der Genius, der Höflichkeit. Sie war nach Art der Hökerinnen gekleidet, das feuerrote Gesicht von einem ungeheuren bunten Kopftuch umrahmt, führte in der einen Hand einen triefenden Regenschirm und in der andern einige Bündel Mohrrüben. Das Merkwürdigste an ihr aber war die Beweglichkeit ihrer Sprechwerkzeuge, welche bei den ersten Worten jeden Versuch einer Gegenrede als aussichtslos erkennen ließ.
„’n Tag,“ begann sie, „ich bin hier ja wohl recht beim Herrn Doktor Hertel, nicht wahr? Und Sie sind ja wohl der Herr, der meinem Jaköbchen alle Tag Geld gegeben hat, und das Fräulein in der Brezelgaß hat ihm auch Geld gegeben, damit daß er die Sträußchen und so was von Ihnen an das Fräulein bringt, nicht wahr? Dann wollt’ ich Ihnen nur sagen, Herr Doktor, daß ich mir so was verbitte, denn es ist unmoralisch und es führt die Kinder auf Abwege, wenn man ihnen so Geld in die Finger giebt; was meinen Sie wohl, wie viel mein Jaköbchen in der letzten Zeit durch Sie vernascht hat? Und so kommen sie dann ans Naschen, und von da kommen sie ans Stehlen, wie das Jüngste von meinem Vetter Wilhelm, nicht wahr? Und überhaupt muß ich sagen, das ist eine unmoralische Geschichte, wenn man dann noch so einem Kind von vierzehn Jahren sagt, es soll nichts davon sagen: du lieber Gott, hätten Sie ihm noch gesagt, er sollt’ das Geld seiner armen Mutter geben, die sich den ganzen Tag für ihre Würmer abrackern muß, dann wollt’ ich noch gar nichts sagen, denn man muß seinen Mitmenschen behilflich sein; die vornehmen Leute, die haben manchmal so Bestellungen und Heimlichkeiten untereinander, man kennt das ja, ich bin auch einmal jung gewesen, nicht wahr? Aber so, wo der Junge alles verschleckt, und wird noch angehalten, daß er es nicht verrät, und ich krieg’ es gestern nur so durch Zufall heraus und muß mich an ihm müd’ prügeln, eh’ er mir sagt, wo er das viele Geld her hat – ne, Herr Doktor, das ist nichts Moralisches mehr, und wenn Sie noch mal was zu bestellen haben, dann suchen Sie sich gefälligst einen anderen, und das können Sie auch dem Fräulein Braut bestellen und können ihr sagen, das hätt’ die Frau Schmitz gesagt, nicht wahr?“
Bei den letzten Worten tippte sie sich nachdrücklich mit dem Mohrrübenbündel vor die Brust und verschwand sogleich hinter der Thür, die sie mit kräftiger Faust zuschlug. Franz Hertel war überhaupt nicht zu Wort gekommen, es dauerte sogar noch eine Weile, ehe er zum Verständnis des Gehörten kam. Alsdann kleidete er sich mit besonderer Sorgfalt an und begab sich auf den Weg nach dem Brezelgäßchen, um eine Pflicht zu erfüllen, die für sein Gefühl nach dem, was er eben vernommen, ganz selbstverständlich war: die junge Dame um Verzeihung zu bitten für das unvorsichtige Spiel, durch das er sie den moralischen Betrachtungen alter Weiber mit Mohrrüben in der Hand ausgesetzt hatte.
Als er vor dem wohlbekannten Häuschen anlangte, waren die Holzläden zurückgeschlagen und ließen dem Blick freien Einlaß durch die gardinenlosen, saubergeputzten Fensterscheiben in die niedrigen, einfach ausgestatteten Räume. Hinter einem der Fenster war ein Mann in Eisenbahnuniform eben damit beschäftigt, einen großen gedruckten Zettel anzukleben: „Möblierte Wohnung zu vermieten. Bescheid im Nebenhause.“
Trotz allem Mißlichen, das diese neue Entdeckung für ihn bedeutete, seufzte Franz Hertel aus tiefster Brust erleichtert auf: das Klopfen am gestrigen Abend erklärte sich durch den Umzug der bisherigen Bewohnerinnen ganz harmlos.
Der Mann am Fenster drinnen schien in dem salonmäßig gekleideten Herrn einen ersten und besonders Vertrauenswerten Bewerber um die Wohnung zu ahnen. Mit einer höflichen Verbeuguug verließ er seinen Posten und öffnete das Hauspförtchen.
„Sie wollen sich wohl die Wohnung ansehen, mein Herr? Entschuldigen Sie, bitte, einen Augenblick – ich will meine Frau herüberholen, sie weiß besser Bescheid: ich selber bin nämlich meist dienstlich abwesend. Wenn Sie sich, bitte, inzwischen schon hinein bemühen wollen – entschuldigen Sie nur die Unordnung; die Damen, die bisher hier wohnten, sind erst gestern abend abgereist, ich kam gerade von der Reise, als sie in die Droschke stiegen. Einen Augenblick, bitte!“
Damit eilte er nach dem andern Häuschen hinüber, während Franz Hertel mit einer gewissen Scheu das kleine Wohnzimmer betrat. Von Unordnung konnte eigentlich kaum die Rede sein: in seinem eigenen Arbeitszimmer sah es auch ohne Umzug selten so aufgeräumt und ordentlich aus. Er hatte aber keine Zeit, sich langen Betrachtungen hinzugeben: denn bereits hörte er hinter sich den Beamten zurückkehren, im halblauten Gespräch mit seiner Frau. Als Franz Hertel sich umwandte, erkannte er mit einigem Schrecken [886] die Frau mit dem Regenmantel. Auch diese schien ihn wieder zu erkennen, sie kniff die Lippen zusammen und verfärbte sich.
„Ich bedauere, mein Herr, die Wohnung ist bereits vermietet,“ sagte sie.
„Aber Frau –!“ begann der Beamte ganz verdutzt. Ein schlecht verborgener Rippenstoß brachte ihn zum Schweigen.
„Entschuldigen Sie,“ erwiderte Franz Hertel höflich, indem er aus dem Häuschen heraustrat, „ich kam auch eigentlich nicht – das heißt nicht bloß der Wohnung wegen. Die Damen, die hier bisher wohnten –“
„Die Damen sind gestern abend mit der Bahn abgereist, wie Sie wohl schon wissen. – Adieu, mein Herr!“ Die hagere Frau machte so etwas wie einen Knix, faßte ihren Gatten am Arm und schloß das Hauspförtchen hinter sich mit einer Behendigkeit, als hätte sie das der bisherigen Bewohnerin abgelernt.
„Hm,“ brummte Franz Hertel, „das wird ja heiter. Jetzt will ich aber wissen, wer und wo sie ist und was das alles bedeutet, und wenn ich sämtliche Honoratioren von Grünau aushorchen müßte. Also zuerst zum Stadtphysikus. Der kennt sich ja in jedem Hause der Stadt aus.“
Der Herr Stadtphysikus war leider nicht zu Hause; aber während Franz Hertel noch mit dem Dienstmädchen verhandelte, trat die rundliche Hausfrau aus der sogenannten guten Stube und bemächtigte sich seiner. „Wollen Sie nicht ein wenig näher treten, Herr Doktor? Sie finden noch andern lieben Besuch drinnen.“
Der „andere liebe Besuch“ waren die Frau Amtsgerichtsrat und Fräulein Helene, sie waren von einem Einkaufsgang „nur auf einen Augenblick“ hereingesprungen, um mit der Hausfrau und deren beiden Töchtern einige dringende Neuigkeiten auszutauschen. Die drei jüngeren Damen begrüßten den Dichter mit gewinnender Freundlichkeit; die Frau Amtsgerichtsrat musterte mit einem gewissen Schrecken seine feierliche Gesellschaftstracht: „Sollte er am Ende um eine von den beiden da anhalten wollen?“ dachte sie; „diese jungen Männer von heutzutage sind ja so dumm, die lassen sich von jeder Gans fangen.“ Da aber Franz Hertel mit diplomatischer Fassung versicherte, er habe eigentlich nur den Herrn Sanitätsrat wegen einer medizinischen Stelle in seinem neuesten Roman konsultieren wollen, wurde sie wieder heiter. „Ja, ja, die Herren Dichter müssen doch allerlei wissen,“ meinte sie. „Mich wundert nur, mein lieber Herr Doktor, wo Sie immerzu die Stoffe hernehmen.“ „O, die lassen wir uns von den andern Leuten liefern,“ erwiderte Franz Hertel. Die Mädchen kicherten, und Fräulein Babette, die ältere der beiden Haustöchter, sagte: „Ach ja, wir sprachen eben von einer Geschichte, die gäbe gewiß auch einen Stoff für Sie.“ „Erzählen Sie dem Herrn Doktor doch die Geschichte, liebe Helene,“ bat die Hausfrau; „meine Mädchen können so etwas doch nicht so frei erzählen, sie sind gar zu schüchtern bei solchen verfänglichen Dingen.“ „Warum soll ich die Geschichte nicht erzählen, Tante Sanitätsrat?“ parierte Fräulein Helene; „die falsche Schüchternheit kann man sich ja für spätere Jahre aufsparen. Also denken Sie sich, Herr Doktor, was da einer Verwandten von unserer Waschfrau begegnet ist. Sie wohnt in dem Brezelgäßchen – das kennen Sie wohl gar nicht? Es wohnen lauter gewöhnliche Leute dort; und ihr gegenüber, in einem kleinen Häuschen –“
„Es ist nämlich ein großer Bleichhof da, mit zwei kleinen Häuschen am Thor,“ warf eine der Haustöchter ein.
„Nun ja,“ fuhr Fräulein Helene fort. „Also in einem von den Häuschen hatte sich eine fremde kranke Dame –“
„Dame?“ fragten die beiden Haustöchter ironisch.
„Warum nicht?“ versetzte Fränlein Helene mit einem Seitenblick. „Heutzutage verlangt man ja nicht mehr, daß das, was sich so nennt, sich auch so benimmt. Also die hatte sich da mit ihrer Tochter, oder was es sonst war, eingemietet. Und die läßt sich jeden Abend einen Strauß bringen, erst ein paar Tage lang von einem jungen Herrn, und dann von einem zerlumpten Straßenjungen. Wie das aber so eine Zeit lang gedauert hatte, da entdeckt die Nachbarin – wissen Sie, die Base von unserer Waschfrau – daß die Sträuße noch immer von dem jungen Herrn kamen; der Straßenjunge war nur der Zwischenträger ––“
„– postillon d’amour,“ kicherten die Haustöchter.
„Aber Kinder!“ bemerkte ihre Mutter verweisend.
„– die Frau hat gesehen, wie ihm der Herr an einer Straßenecke die Sträuße gab, ein paar Abende nacheinander. Das hat sie denn der Wirtin gesteckt, und da haben die Fremden natürlich gleich ausziehen müssen.“
„Ja, aber das Beste“ – warf die Frau Amtsgerichtsrat ein.
„Ja, das kommt noch,“ fuhr Fräulein Helene etwas ungeduldig fort. „Das ist ja die eigentliche romantische Lösung, Nämlich als unsere Waschfrau gestern die Geschichte erzählte, kam sie uns erst ganz unerklärlich vor. Sträuße bringen ist doch nichts so Gefährliches, dazu braucht man doch keinen Zwischenträger und so was. Da fiel mir ein, daß neulich im ,General-Anzeiger‘ etwas über Blumensprache gestanden hat. Zufällig hatte ich das Blatt noch bei der Hand, und richtig, da steht ein ganzes Kapitel: ‚Verabreden von Zeit und Ort durch bestimmte Blumen.‘ Sehen Sie, das war es. Die Sträuße waren weiter nichts als Einladungen zum Rendezvous. Wie romantisch, nicht wahr?“
„Daß Sie das aber auch gleich so richtig gemerkt haben, liebe Helene,“ bemerkte die Hausfrau. „Ich glaube, Kinder, ihr könntet euch in so etwas gar nicht recht hineindenken.“
„Unsere Helene ist eben immer ein kluges Kind gewesen,“ versetzte die Frau Amtsgerichtsrat. „Und denken Sie sich, Herr Doktor, wie die Sache zutraf! Meine Tochter hatte der Waschfrau kaum die ersten Zeilen vorgelesen, wo es heißt: ,Drei Kamelien und eine Tuberose – bedeutet: um zehn Uhr abends am Brunnen‘, da schreit die Frau ordentlich auf und sagt: ,Das stimmt! Um zehn Uhr ist er noch neulich durch die Straße gekommen, und sie ging vor ihm her, in einen dunklen Regenmantel ganz vermummt, das hat meine Base deutlich gesehen.‘ Und das wird denn wohl stimmen, denn wenn man durch das Brezelgäßchen geht und oben links abbiegt, dann kommt man durch das Lungengäßchen auf den Eselsmarkt, wissen Sie, wo die neuen Anlagen sind, mit dem Laufbrunnen in der Mitte. Es ist auch eine schöne Ruhebank daneben.“
„Nun, Mama, für gewöhnlich werden sie es sich doch bequemer gemacht haben,“ meinte Fräulein Helene. „Sie wohnte ja dicht an dem alten Kirchhof, auf den Bleichen da ist es abends ja sehr menschenleer, und er konnte ja über die Mauer steigen. Die Frau hat ihn oft des Nachts da herumstreichen sehen. Es heißt ja auch in dem Zeitungsaufsatz: ,Drei Nelken und eine Calla – um eilf Uhr auf dem Friedhof.‘“
„Gräßlich,“ seufzte die Hausfrau. „Daß man so etwas drucken darf. Da sollte doch die Regierung einschreiten. Das muß doch jugendliche Gemüter verderben.“
„Nun, wissen Sie, Liebe,“ erwiderte die Frau Amtsgerichtsrat, „wenn eine sich mal mit so etwas abgiebt, an der ist nicht mehr viel zu verderben. Es ist nur gut, daß es keine Hiesige war.“
„Was sagen Sie denn nun zu der Geschichte, Herr Doktor?“ fragte die Hausfrau.
„O,“ antwortete Franz Hertel mit einer unnatürlichen Ruhe, „ich denke, es ist eine Geschichte, wie ihrer viele gemacht werden. Irgend eine Waschfrau oder deren Base, die einen ganz harmlosen Vorfall gesehen hat, setzt den Brei an, andere gießen allerlei Einfälle zu und rühren ihn um, und zuletzt ist das Zeug fertig. Solange man noch keine Namen nennt, bleibt der Sport ziemlich ungefährlich; wenn man aber so unvorsichtig ist, deutlich bezeichnete Personen hineinzuziehen, kann es für diese und für die Verbreiter recht traurige Folgen haben.“
Auf diese Rede folgte eine große, drückende Pause. Fräulein Helenens Antlitz war tief errötet, das ihrer Mutter war ganz erblaßt, und die anderen Damen blickten ziemlich verständnislos drein. Endlich sagte die jüngere Haustochter: „Ja, man soll nie zu viel erzählen.“
Und ihre Schwester fügte hinzu: „Man weiß nie, was daran ist.“ Die Hausfrau unterdrückte eine dritte Bemerkung gleichen Inhalts und brachte das Gespräch auf andere Dinge.
Nach einer Weile erhoben sich die Gäste. Beim Abschied wandte sich Fräulein Helene, die ihre Fassung äußerlich ganz wieder gefunden hatte, mit süßem Lächeln an den Dichter: „Nun, Herr Doktor, Sie erzählten mir ja neulich auf unserer Abendgesellschaft, daß Sie jetzt Ihr erstes größeres Drama schreiben [887] wollten. Darf man denn wissen, wie es heißen soll? Es wird wohl ein Lustspiel?“
„Doch nicht, mein Fräulein,“ erwiderte Franz Hertel artig. „Es wird ein bürgerliches Trauerspiel, und der Titel soll heißen: ,Ueble Nachrede!‘“
Franz Hertel meinte es vollkommen ernst: ein unendlicher Zorn und Widerwillen gegen das ganze Unwesen kleinlicher, gedankenloser Klatschsucht hatte sich seiner bemächtigt, und sogleich war er entschlossen, dies Gefühl in einem großen Werke zu entladen, kraft der Gewalt, die dem Dichter ward, „zu sagen was er leidet“ und ganz besonders was ihn ärgert.
Zwei oder drei Wochen verschwendete er darauf, eingeschlossen in sein Arbeitszimmer, fast ganz ohne geselligen Verkehr, über diesem Werke zu brüten, das in Wahrheit seinem heiteren und gesunden Wesen so durchaus fern lag. Ein großes dramatisches Strafgericht sollte es werden; ein zweites „Kabale und Liebe“, nur daß hier die Kabale nicht von schurkischen Großen und ihren Helfershelfern, vielmehr von gutbürgerlichen Klatschbasen beiderlei Geschlechtes, gebildeten und ungebildeten, jungen und alten, gesponnen ward. In den grellsten Farben wollte er schildern, wie das Glück harmloser Menschen, der Friede frommer Familien durch gedankenlose Neugier und Neuigkeitssucht Unberufener, durch pharisäische Splitterrichterei und Wohlweisheit zernagt wird und wie an der Unzerstörbarkeit dieses gesellschaftlichen Giftes selbst die tragische Gerechtigkeit scheitert: denn „noch an der Bahre des gedankenlos hingeschlachteten Opfers späht die blöde Klatschsucht vornehmer und geringer Pharisäer ungestraft und ungerührt schon nach neuen aus, und sie findet immer neue.“
Solcher Kraftstellen hatte er schon eine ziemliche Menge auf Vorrat gearbeitet, frostig und trostlos wie das graue Herbstwetter, das mit Regenschauern und Hagelschlacken an seine Fenster pochte. Aber glücklicherweise hielt er es nicht lange aus. Seine kräftige und lebensfrohe Künstlerseele empörte sich gegen eine Aufgabe, die so wenig zu ihr paßte, und nach einer kurzen Krisis genügte ihr ein kleiner Anlaß, um den ganzen widrigen Plan entschlossen umzustoßen.
Es war an einem Markttage: draußen auf dem Michaelisplatz drängte, stieß und vertrug sich die Menge der Verkäuferinnen und Käuferinnen, zum erstenmal nach vielen Tagen wieder einmal vom freundlichen Sonnenlichte bestrahlt, das den alten grünspanigen Kupferbelag des Michaelisturms in eine Malachitkuppel verwandelte und selbst die Regenlachen zwischen dem Pflaster drunten wie Lavaspiegel glänzen ließ. In einer dieser Lachen war eben ein ländliches Mädchen mit einem Korb Eier zu Fall gekommen, weinend stand das junge Ding da und blickte trostlos auf das schreckliche Ergebnis des Sturzes, während neben ihr ein Marktpolizist sich anschickte, ein Strafprotokoll wegen Störung des Straßenverkehrs wider sie aufzunehmen. Da drängte sich die unverkennbare Gestalt der Frau Schmitz durch die gaffende Menge, Franz Hertel sah, wie sie mit wirksamen Gesten auf die Leute einredete und zum Schluß ihrer Rede ein Geldstück in einen Teller warf, der, von ihr mit ermunternden Worten rundgereicht, sich rasch mit kleiner Münze füllte. Das Bauernmädchen strich getrösteten Antlitzes die milde Beisteuer ein, der Polizist lächelte versöhnt und zog mit seinem riesigen Notizbuch weiter, während ein paar Marktweiber in freiwilligem Wetteifer die Spuren des Unfalls beseitigten.
Und drüben auf der andern Seite des Platzes begegneten sich eben die Damen des Amtsgerichtsrats mit denen des Stadtphysikus, sie begrüßten sich liebevoll und plauderten lächelnd, dann trennten sie sich und blickten sich nach einigen Schritten um, mit jenem unerbittlichen Ausdruck, dessen nur eine eitle Dame fähig ist, wenn sie die Straßentoilette einer anderen verstohlen mustert; da aber beide Parteien bemerkten, daß sie sich zugleich umgesehen hatten, lächelten sie auch gleichzeitig und winkten sich liebevoll zu; es war unglaublich, wie rasch und gleichmäßig sich die Mienen änderten.
Franz Hertel beobachtete auch dies, und es fiel ihm auf einmal wie eine schwere schwarze Binde von den Augen. „Ach,“ rief er, „mit was für Dummheiten habe ich mich da abgequält! Die Leute sind ja gar nicht so schlimm. Der Klatsch gehört zu ihrem Wesen, aber er ist nur eine einzelne Aeußerung dieses Wesens, und es giebt hundert bessere und stärkere. Dieses Hökerweib, das die Moral anderer Leute danach abmißt, ob sein Junge das Trinkgeld vernascht oder der Mutter bringt, findet und thut doch, wo es werkthätige Hilfe gilt, das Moralische so gut und besser als mancher Professor der Philosophie. Diese Freundinnen, die sich gegenseitig nicht einmal einen neuen Hut gönnen und ihre Kinder durch tägliches Beispiel zum Schmähen und zur Lieblosigkeit abrichten, würden doch für ihre Kinder ihr Herzblut geben, und sie können sich über den wüstesten Klatsch doch noch nicht so herzlich freuen, wie sie sich freuen, wenn dem Gatten das Leibgericht einmal so richtig mundet. Sie haben alle ihr Bündel Sorgen am Halse, es ist ihr Schade, wenn sie’s sich mit Hilfe einiger Selbstgerechtigkeit leichter zu machen glauben; aber darum sind sie noch keine Ungeheuer.“
Die dicke Frau Schmitz hatte es sich unten auf dem Markte zum Elfuhrfrühstück bequem gemacht; sie saß auf einem umgestülpten Marktkorbe, hielt eine ungeheuere Kaffeetasse und einen Quadratfuß Bauernweck in den Händen und erzählte einigen Kolleginnen, zwischen Kauen und Schlürfen, eine ersichtlich sehr wirkungsvolle Geschichte, wobei sie öfters nach dem Hause des Dichters hinwinkte. Vermutlich schilderte sie seinen verderblichen Einfluß auf ihren Jungen. Franz Hertel nickte ihr freundschaftlich zu. Und da er einmal im Zuge war, so überlegte er weiter:
„Ist es denn auch wahr, daß die Leute mit ihrem Klatsch und ihrer Selbstgerechtigkeit anderen ehrlichen Leuten so gar entsetzlich mitspielen können? Daß eine bloße falsche Nachrede einen tüchtigen, wahrhaftigen Menschen zur Verzweiflung bringen oder gar das mit Liebe und Achtung verankerte Fundament eines ganzen Familienglücks sprengen kann? Gelesen habe ich es wohl schon ein paarmal, aber wo habe ich es denn schon erlebt? Und nun hätte ich beinahe gethan, als ob es die alltäglichste Geschichte wäre. Immer dieselbe Dummheit, die ganze Welt für verseucht zu erklären, weil man selber einmal thörichterweise an irgend einem Sümpflein geschlafen und sich ein winziges Fieberchen geholt hat. Wahrhaftig, wer hat denn bei der ganzen lächerlichen Geschichte Schaden genommen? Sie, die ich durch meine Albernheit mit in das Geklatsch von ein paar alten und jungen Weibern gebracht habe, lächelt in diesem Augenblicke vermutlich nur über Sottisen, die von einer reinen Seele machtlos abgleiten wie die Wassertropfen vom Schwanenkleid. Ich müßte ihr süßes Gesicht nicht gesehen haben, um zu glauben, daß sie über diese Leute etwas anderes thun kann als lächeln – und allenfalls auch über mich. Und mir können sie erst recht nichts an. Kinder, die mit Sandklümpchen nach dem Vogel in der Luft werfen! Der Vogel fliegt weiter und freut sich, daß er fliegen kann, und mit dem Sand treffen sie sich gegenseitig. Darauf läuft’s doch am Ende hinaus: die Klatscherei wendet sich wider ihren eigenen Herrn, wie alle Unwahrhaftigkeit, und der Entronnene behält etwas zum Lachen für die Zukunft. Wer weiß, ob ich meine schöne Florentinerin nicht einmal an einem würdigeren Orte treffe? Dann haben wir gleich etwas zusammen zu lachen, und das ist die bequemste Art, Bekanntschaft zu erneuern. Am Ende stiften die bösen Zungen noch Gutes, nur nicht für sich. Das ist aber doch zum Kuckuck keine Tragödie! Eine Komödie ist es, und eine Komödie soll’s auch werden! – Die aber schreiben wir anderswo als in Grünau!“
Nach diesem Selbstgespräch vertiefte Franz Hertel sich in das Reichskursbuch. Und am Abend saß er im Eisenbahnwagen und fuhr gen Süden, den Schwalben nach.
Die sämtlichen Entwürfe und Notizen zu seinem Trauerspiel hatte er vor seiner Abreise verbrannt, als ein Brand- und Dankopfer für das wiedererlangte Gleichmaß seiner Seele. Einige andere Andenken an sein Grünauer Abenteuer: die beiden unbestellten Sträußchen – zierlich getrocknet –, das Billet mit der Zeile von ihrer Hand und das gleichfalls unbestellte Gedicht an die schöne Namenlose nahm er sorgsam mit.
Theaterbesucher und besonders Theaterdirektoren erinnern sich noch mit Vergnügen des Erfolgs, den das Lustspiel „Ueble Nachrede“ von Franz Hertel auf seinem ersten Rundzug über die deutschen Bühnen erzielte. Das arme Publikum, so lange mit mißlungenen Experimenten aller Art gequält, war entzückt [888] über dies Stück, das einen Ausschnitt aus dem Kleinleben der Gesellschaft mit so viel Schärfe ohne Bitterkeit, so viel Wärme ohne Rührseligkeit wiedergab und mit so frischem Humor den Beweis für die Behauptung durchführte, die der „Held“ irgendwo im ersten Akt ausspricht: „Die bösen Zungen sind am Ende auch nur ein Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft!“ Sogar in Grünau ist es vorigen Sommer von einer durchreisenden Truppe aufgeführt worden, die Grünauer haben es bejubelt, und wenn der Dichter noch in ihrer Mitte geweilt hätte, so wäre er einem Fackelzug und Festessen auf keine Weise entgangen.
Einige Wochen vor der Erstaufführung – ungefähr ein Jahr nach seiner Abreise von Grünau – traf der Dichter in der Residenz ein, um den Vorbereitungen des für ihn so wichtigen Ereignisses nahe zu bleiben. Er hatte dort eine sehr werte Freundin, eine reiche Kaufmannswitwe, die wegen ihrer Kunstliebe und Gastfreundschaft, nebenbei auch wegen ihrer Neigung zu scharfen und freimütigen Bemerkungen einen gewissen Ruhm genoß. In dem Salon dieser Dame entdeckte Franz Hertel einige kleine Bilder, die ihn außerordentlich zu fesseln schienen.
„Wie kommen Sie denn dazu?“ fragte er.
Frau Konsul Preusch – ihr Gatte war Konsul irgend einer mittelamerikanischen Republik gewesen – lächelte geheimnisvoll.
„Ihre Neugier macht Ihrem Geschmack alle Ehre, lieber Doktor,“ meinte sie. „Diese Blumenstücke sind wirklich etwas Großes in ihrer Art, nicht wahr? Besonders das mittlere, mit dem Heidekrautsträußchen. Man merkt ihnen die Dilettantenarbeit nicht an. Eine liebe jüngere Freundin von mir hat sie gemalt, eine Stiftsdame, das heißt, sie ist Mitglied eines adligen Jungfrauenstifts irgendwo in Norddeutschland, wohnt aber mit ihrer Mutter meist hier, draußen in der Humboldtstraße. Beiläufig bemerkt, das wäre vielleicht auch was für Ihr Lustspiel; ihr gegenüber hat sich ein älteres Fräulein eingemietet, eine entfernte Verwandte, deren noch ältere Schwester die nächste Anwartschaft auf die Pfründe meiner Freundin hat, sobald diese stirbt, sich verheiratet oder durch eine andere unvorsichtige Handlung ihren Besitz verscherzt. Die alte Dame sitzt nun den ganzen Tag auf der Lauer, um ihrer Schwester gleich zu telegraphieren, wenn so ein Glücksfall eintreten sollte, und das ist ihr Beruf. Ja, brummen Sie nur innerlich über meine berüchtigte scharfe Zunge, ’s ist doch wahr!
Aber um auf die Bilder zurückzukommen – sehen Sie, das ist auch eine merkwürdige Geschichte, wie meine Freundin gerade zu der Liebhaberei für diese Art Malerei gekommen ist. Es ist so recht etwas für Dichter – hören Sie nur! Die Mutter meiner Freundin, Frau Major von Berthen, ist die Witwe eines braven Offiziers, der aber den Seinen nichts hinterließ als die Ehre – und eine Pension, – ja, richtig, und dann noch für seine Tochter Maria die Anwartschaft auf eine Stiftspfründe, deren Inhaberin aber einstweilen noch lebte und die ganze zähe Lebenskraft besaß, die solchen Erbtanten eigen ist. Ich weiß nicht, ob Sie eine Vorstellung von der Schwere des Daseinskampfes in einer solchen Lage haben: verwitwet und verwaist, vor der Welt zu einem gewissen vornehmen Scheinwesen gezwungen – und nur auf eine Pension angewiesen. Ich kenne mehrere Fälle dieser Art … Hier aber kam nun noch hinzu, daß Frau von Berthen seit vielen Jahren durch Krankheit ans Zimmer gefesselt ist und eigentlich stetiger Gesellschaft bedarf, somit also für Maria auch noch die Möglichkeit, für sich und die Mutter zu arbeiten, fast ganz benommen war. Nun, sie haben sich durchgeschlagen, kümmerlich und tapfer, in allerlei kleinen Nestern, wo sie vor bekannten Gesichtern sicher waren; Beisteuer von guten Freunden wollten sie nicht annehmen, zeitweilig waren sie für ihre Bekannten ganz verschollen. Ich weiß, daß Maria manche Nacht durch, wenn sie glaubte, daß ihre Mutter schliefe, geschafft hat – Handarbeiten, namentlich kleine Malereien für Fächer und dergleichen; sie selber will es nicht Wort haben, aber die Mutter erzählt es mir oft genug unter Thränen der Rührung.
Von der Mutter habe ich nun auch die merkwürdige Vorgeschichte dieser Liebhaberei für Blumen in Aquarellfarben. Nämlich die alte Dame, wie das bei solchen Kranken oft geht, faßt von Zeit zu Zeit eine ganz bestimmte Neigung für irgend einen kleinen Schmuck des, Lebens, eine Art ästhetischer Leidenschaft, die dann um jeden Preis befriedigt werden muß, und so hatte sie – vor anderthalb Jahren mag es gewesen sein – ihre ganze Schwärmerei den Waldblumen zugewandt. Sie wohnten damals in einem kleinen winkligen Provinznest, und wahrscheinlich nicht in der besten Gegend: wie sollte die arme Maria da zu Waldblumen kommen? Aber siehe da, zufällig trifft sie eines Abends vor ihrer Wohnung einen Straßenjungen, mit einem ganz reizenden Waldblumenstrauß in der Hand. Sie kauft ihm den Strauß für ein paar Pfennig ab, verabredet mit ihm, daß er ihr nun für denselben Preis jeden Abend einen Strauß, frisch aus dem Walde, bringt – und der Mutter war geholfen! Dieser Straßenjunge muß aber ein wahrhaftes Genie in seiner Art gewesen sein; denn die Sträußchen waren, wie mir beide versichern, reizender als alles, was unsere großen Blumenbindereien auszusinnen wissen, und das will ja wohl etwas heißen. Jedenfalls aber hat er Marias Talent auf die richtige Bahn gebracht. Wenn sie so neben dem Sofa der Mutter am Tisch saß, vor sich den Strauß, überkam es sie unwiderstehlich – sie versuchte das Meisterwerk nachzumalen, kann sein, daß sie dabei auch an die Möglichkeit gedacht hat, sich einen neuen, kleinen Erwerbszweig zu schaffen, – nun, das war ja nicht mehr nötig, denn sie waren glücklich an der letzten Station ihres Leidensweges angelangt: die alte Tante hatte endlich ein Einsehen, ging ins Erbbegräbnis und räumte Maria die Pfründe ein, die ihnen mit der Pension zusammen ein leidliches Auskommen bietet, bis das Mädchen der alten Verwandten im Haus gegenüber die Freude macht, sich zu verheiraten. Ihre Lust am Blumenmalen aber hat sie beibehalten und es darin, wie Sie sehen, alsbald zu einer hübschen Höhe gebracht.
Nun, wäre das nicht ein ganz netter Stoff für eine Novellette? Etwa ,Der Straßenjunge als Mäcen‘, oder so ähnlich? Ich sehe, es hat Sie ordentlich ergriffen.“
„Sehr,“ versicherte Franz Hertel. „Bitte, können Sie mir nicht eine Photographie der – Stiftsdame zeigen?“
Die Frau Konsul erhob mit schalkhafter Drohung den Zeigefinger. „Nehmen Sie sich in acht, mein lieber Dichter! Sie machen sich möglicherweise eine falsche Vorstellung von einer Stiftsdame. Es giebt welche, die ein leichtverliebter Poet nicht ungestraft sieht. – Uebrigens die Photographie sollen Sie doch sehen. Schon um der merkwürdigen Sympathie willen. Denn ich will Ihnen nur verraten, daß meine junge Freundin zu Ihren stillen Verehrerinnen gehört, seit sie Ihre Photographie bei mir gesehen und Ihren Namen erfahren hat. Sie lobt Ihre Werke, sie liest sie sogar, ja noch mehr, ich glaube, sie hat sich sogar Ihre Gedichte gekauft. Welches deutsche Frauenherz kann die Verehrung für einen deutschen Dichter noch weiter treiben? – Da, sehen Sie, das ist sie!“
„Die schöne Florentinerin!“ murmelte Franz Hertel in entzücktem Wiedererkennen und Anschauen.
„Nun wird mir’s aber zu arg,“ rief die Frau Konsul. „Sie sind ja da draußen im Reich ein ganz gefährlicher Heuchler geworden! Läßt sich da die ganze Geschichte dieser jungen Dame als etwas Neues erzählen, und dabei kennt er schon den jüngsten Spitznamen, den ihr unser berühmter Historienmaler vor drei Wochen gegeben hat! Woher wissen Sie den nun auch schon?“
„O, verehrte Freundin, wir Dichter wissen alles schon im voraus,“ erwiderte Franz Hertel sehr fröhlich. „Nun aber bitte ich um Urlaub – ich habe wirklich noch einen sehr wichtigen Besuch zu machen …“
„Wohl wegen Ihrer Aufführung?“
„Ganz recht. Es ist nichts Geringes … Später erzähle ich Ihnen auch davon.“
Etwas überrascht, etwas befangen, aber gar nicht erschreckt blickte die schöne junge Stiftsdame, als sie, Franz Hertels Karte in der Hand, in das kleine „Anspruchszimmer“ trat, wo der Besucher sie erwartete. In ihrer Erscheinung hatte sich eigentlich nichts geändert: dieselbe edle Haltung, dieselbe klare Anmut der Bewegungen, und auch die Kleidung war einfach gehalten wie damals; aber freilich kam ihre Schönheit hier, im Sonnenlichte des Tages und im gesicherten Heim, noch anders zur Geltung, als damals im Halbdunkel des Herbstabends – und der Sorgen.
[890] „Es ist freundlich von Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen nochmals zu danken,“ erwiderte sie auf seine etwas verworrene Begrüßung und reichte ihm die Hand. „Sie haben sich mir in einer trüben Zeit gütig erwiesen, das vergißt man nicht. – Also durch Frau Konsul Preusch haben Sie von uns gehört? Ich dachte es mir schon. – Ich verdanke ihr ja auch die erste Bekanntschaft mit Ihren Dichtungen,“ fügte sie mit einem leichten Erröten hinzu.
„Ja,“ begann Franz Hertel entschlossen, „Frau Konsul Preusch hat mir auch erzählt, wie Sie zu Ihren köstlichen Blumenstücken veranlaßt wurden – durch die Sträuße jenes Jungen, dem Sie damals mein Amt übertrugen. Gestatten Sie mir, daß ich ein Versäumnis dieses Glücklichen nachhole. Sie erinnern sich vielleicht, daß er am letzten Tage seines Dienstes – am Tage Ihrer Abreise von Grünau ohne Entschuldigung ausblieb. Hier ist der versäumte Tribut – leider sehr schlecht erhalten, wie Sie sehen. Der Schlingel sollte Ihnen dazu noch etwas von mir überreichen – eine thörichte gereimte Huldigung an die Namenlose, deren Namen ich wenigstens so gern gewußt hätte.“
Bestürzt blickte Maria von Berthen auf das kleine Bündel trocknen Heidekrauts hin, das in dem Seidenpapier vor ihr lag. „Wenn ich Sie recht verstehe,“ begann sie unsicher, „so stammten also auch jene Sträußchen alle von Ihnen? – Dann habe ich Ihnen ja wohl doppelt zu danken. Der arme Junge kommt freilich dabei um seinen Ruhm,“ fuhr sie mit einem schwachen Lächeln fort. „Aber ich verstehe nicht recht, weshalb Sie –“ sie stockte und sah ihn mit einem fast unwillig fragenden Blick an.
„Sie meinen: weshalb ich jetzt meine Urheberschaft geltend mache?“ entgegnete Franz. „Ich versichere Sie, daß ich es nicht aus Eitelkeit thue, um den armen Jungen um seinen Ruhm zu bringen, wie Sie sagen. Aber die bedauerlichen Folgen meines Versteckspiels, das ich gewiß nicht böse gemeint hatte, muß ich doch auf mich nehmen, nicht wahr? Und ich danke dem Himmel, daß mir endlich jetzt möglich wird, was Ihre Abreise – und meine Unkenntnis Ihrer Adresse damals verhinderte: Sie aufzuklären und um Verzeihung zu bitten wegen der albernen Kränkung, der ich Sie leider – leider aussetzte.“
Mit dem Ausdrucke ehrlichster Verwunderung blickte sie ihm ins Gesicht. „Nun verstehe ich Sie aber gar nicht mehr,“ sagte sie. „Wovon, von welchen Kränkungen reden Sie denn? Ich bitte um Aufklärung. Sie sind mit Ihren Gedanken wohl ganz bei Ihrem Drama? Da wird ja wohl viel von Kränkungen und übler Nachrede erzählt.“
„Von übler Nachrede muß ich denn wohl leider erzählen,“ versetzte er seufzend. „Am besten ist es, wenn ich Sie bitte, meine Beichte von Anfang an zu hören.“ Und ohne eine andere Antwort als von ihren freundlich fragenden Augen abzuwarten, begann er zu „beichten“ – mit Kunst und Auswahl, wie es sich für einen Dichter schickt; aber er konnte es doch nicht verhindern, daß sie bei der Schilderung seiner heimlichen Arbeit für sie bis unter die goldblonden Flechten errötete, und daß sich die schöngeschwungenen Lippen in verächtlichem Zorn zusammenpreßten, als er zögernd nur in Andeutungen die pikanten Neuigkeiten von Fräulein Helene wiedergab.
Im ganzen aber hörte sie ihm ruhig zu, mit der Miene lächelnden Staunens, und als er zum Schlusse eine wirkungsvolle Schilderung seiner Gewissensbisse unternahm, schnitt sie ihm mit einem köstlichen silberhellen Lachen die Rede ab.
„Aber das ist ja ein wunderliches Mißverständnis, Herr Doktor,“ rief sie. „Ich kann Ihnen versichern, daß ich von all diesen Leistungen müßiger Uebelrede erst durch Sie erfahre! – Daß Sie darunter gelitten haben, bedauere ich natürlich tief.“
„Wie,“ fragte er, „Sie hätten von all dem – “
„– wirklich nichts gemerkt,“ fiel sie ein. „So wenig wie ich, dank der Verschwiegenheit unseres barhäuptigen kleinen Geschäftsträgers, bis jetzt wußte, wer mir in Wahrheit die schönen Modelle zu meinen ersten Waldblumenbildern lieferte. – Es mag ja sein, daß ich ein gewisses Talent habe, Tuscheln und Winken hinter meinem Rücken nicht zu beachten. Man lernt das, wenn man arm ist,“ fügte sie ernst, aber ohne Bitterkeit hinzu.
„Aber daß man Ihnen deshalb die Wohnung kündigte –“
„– ist eben auch eine Erfindung Ihrer Waschfrauen, oder was die Damen sonst sein mögen. Wir reisten einfach ab, weil durch den Tod meiner Vorgängerin mein Platz im Stift freigeworden war. Nochmals – beruhigen Sie sich: Sie haben die Aufregung und den Aerger über die bösen Zungen von Grünau ganz allein getragen. – Und das finde ich eigentlich ungerecht,“ setzte sie mit einem schalkhaften Lächeln hinzu; „denn eigentlich – ich meine, eigentlich war ich’s ja doch, die mit der ersten Bitte um Ihre Blumen das ganze Unglück anstiftete!“
Diese Bemerkung und der Blick, mit dem sie ihn dabei ansah, erfüllten das erleichterte Herz des Dichters mit einem ahnungsvollen Entzücken; aber trotzdem war er noch nicht ganz zu Ende mit seinen Zweifelfragen. „Aber wenn dem so ist, warum mußte ich denn überhaupt zu gunsten des Jungen abdanken?“ fragte er. „Ich besitze die Entlassungsurkunde noch. Und ich hätte Ihnen doch so gerne die Blumen weitergebracht!“
Die schöne Stiftsdame nestelte einen Augenblick verlegen an ihrem Armband herum; dann erhob sie die Augen wieder zu ihm und sagte: „Das muß ich Ihnen denn freilich auch noch erklären, schon meiner Mutter wegen, ehe ich Sie mit ihr bekannt mache. Es war nämlich um ihretwillen. Ich hatte ihr von vornherein vorerzählt, daß ich die Sträußchen von einem Jungen gekauft hätte; und ich war immer sehr besorgt, daß sie die Wahrheit merken könnte. Denn meine Mutter ist kränklich, wie Sie wohl wissen; und Krankheit macht ängstlich. Da war es mir eine glückliche Fügung, daß ich eines Tages wirklich so einen Jungen fand .... Und also, nicht wahr, Sie verraten meiner Mutter nichts von unserer ersten Bekanntschaft? Näheres von mir haben Sie ja auch erst bei Frau Konsul Preusch erfahren!“
Bei dieser gemeinsamen Freundin lernten sie sich denn in den nächsten Wochen noch um vieles näher kennen – auch am Krankensessel von Marias Mutter, auf Spaziergängen und wer weiß wo; und wenn sich einmal eines von ihnen allein bei der Freundin fand, so redete es zumeist nur vom andern.
Die Frau Konsul hatte an diesen Gesprächen eine Zeit lang großes Gefallen, nach einigen Wochen wurden sie ihr aber doch zu „thatenlos“, und als eines Abends – es war zwei Tage vor der ersten Aufführung seines Lustspiels – Franz Hertel wieder einmal vor dem gemalten Immerschönsträußchen stand und sich in Bewunderung erging, klopfte sie ihn auf den Arm und sagte: „Hören Sie mal, mein lieber Freund, Rückert oder sonst einer von Ihren seligen Kollegen behauptet zwar, nur ein Dichter könne von der Dame seines Herzens reden, ohne die Hörer zu langweilen; aber ich finde, auf die Dauer langweilt es auch bei Dichtern. Thun Sie mir den Gefallen, ehe Sie mir ganz unausstehlich werden: gehen Sie doch morgen vormittag zu Frau von Berthen und halten Sie der – und Maria den Vortrag mit Motiven! Vielleicht wirkt er da noch durch den Reiz der Neuheit. Ich glaube Ihnen sogar versichern zu dürfen, daß er wirkt.“
Worauf Franz Hertel sich umwandte, ihr lange mit tiefsinnigem Ausdruck in das lachende Antlitz schaute, ihre Hand küßte und sich bald empfahl.
Am folgenden Morgen saß die Frau Konsul mit Maria in deren Wohnung am Fenster und plauderte scheinbar höchst unbefangen, während sie mit einem ihren resoluten Grundsätzen ganz widersprechenden Vergnügen das befangene, zerstreute Wesen der jungen Freundin beobachtete. Plötzlich erhob sie sich. „Nun muß ich aber aufbrechen, liebes Kind,“ sagte sie, „denn ich möchte der alten Dame an dem Fenster drüben noch gerne einen Besuch machen, damit die Spioniererei doch mal aufhört. Ich will ihr bestellen, daß sie das Telegramm an die Schwester nur ruhig absenden soll.“
„Mein Gott, Frau Konsul, wie kommen Sie auf solche Einfälle?“ fragte die junge Stiftsdame erschrocken.
„Nun, wissen Sie,“ antwortete die Frau Konsul, „ich sah da eben den Doktor Hertel um die Ecke biegen, im schwarzen Opferkleide mit weißer Halsbinde; er trug einen großen Strauß Waldblumen – in welcher Gärtnerei er die wohl um diese Zeit aufgetrieben hat? – und wenn ich nicht irre, klingelt er eben draußen bei Ihnen. Da will ich lieber gehen, denn mir ahnt was. Wissen Sie, im Ahnen und Deuten sind wir groß, wir – bösen Zungen!“