Zum Inhalt springen

Aus der Wandermappe der Gartenlaube/Guggisberg und seine Hochgebornen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Guggisberg und seine Hochgebornen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 686–689
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[686]

Aus der Wandermappe der Gartenlaube.

Nr. 5.0 Guggisberg und seine Hochgebornen.

Noch immer giebt es romantische Thäler und lauschige Winkel in der Schweiz, die seitwärts vom Stromgebiet der Touristen liegen, die kaum der Fuß eines fremden Wanderers betreten – Erdflecken, die sich ihres stillen Glückes, ihres Alleinseins, ihrer ungestörten Häuslichkeit erfreuen.

Wohl wahr, an Großartigkeit landschaftlicher Schönheit können solche Thäler sich nicht allemal mit denen des Berner Oberlandes oder des Engadins messen. Dafür aber liegt über ihnen, wie über einem Urwalde, der Reiz der Jungfräulichkeit ausgebreitet und unter ihren Bewohnern finden wir noch jene unverfälschten Originale, jene ausgeprägten Charaktere und uralten Sitten, Sprachen und Trachten, die sich nur in abgeschlossenen, sich selbst überlassenen Gemeinwesen erhalten. Eine solche verborgene Insel ist das bernerische Bergdorf Guggisberg.

Das Dorf Guggisberg.
Nach der Natur aufgenommen von E. Rittmayer.

Nicht nur den Touristen, selbst den Schweizern ist das alte Cucansperc fast unbekannt, und aus eigener Anschauung kennen nur Wenige das „Schneewittchen über den Bergen“ – das hoch und in einem vergessenen Winkel gelegene, von Bergen und wilden Bergströmen wie eine Festung umschlossene Dorf, das höchste des ganzen bernerischen Amtes Schwarzenburg.

Das Dorf Schwarzenburg ist mit der Stadt Bern durch eine gute Poststraße verbunden, deren Endstation es bildet. Wer Guggisberg besuchen will, kann Schwarzenburg, das sich überdies einiger recht guter Gasthäuser rühmt, kaum umgehen, weshalb wir es auch zum Ausgangspunkt unserer Wanderung gewählt haben. Die Entfernung von Schwarzenburg bis Guggisberg beträgt kaum zwei Stunden; von Postverbindung ist aber keine Rede mehr, dafür ist die Straße zu holprig und „stritbar“ (steil). Wer also nicht zu Fuß wandern will, mag eines jener leichten federlosen Fuhrwerke besteigen, die unter dem Namen Bernerwägelchen in ganz Deutschland bekannt sind.

Da doch Niemand aus unserm Leserkreise diesen Artikel als Wegweiser auf seine Alpenreise mitnehmen wird, so unterlassen wir auch die Wegschilderung und begrüßen sofort im Angesicht des Guggershorns, und nachdem wir 3500 Fuß über Meer angelangt sind, unser Reiseziel und ein vielversprechendes Gasthaus dazu. Guggisberg, das scheinbar kleine Dörfchen mit der weißen Kirche, an das ehrwürdige Guggershorn angelehnt, rings von Hügelland mit üppigen Weiden umgeben (siehe Abbildung), gewährt sofort ein freundliches Bild. Bescheiden genug sieht es [687] freilich aus, da es fast nur aus der Kirche, dem Pfarr- und Wirthshaus und einigen Wohngebäuden besteht, so daß man über die Größe der Kirche erstaunt wäre, wenn man nicht wüßte, daß die Pfarrgemeinde Guggisberg aus zwanzig Dörfern und Weilern mit 5600 Seelen besteht, die rings zerstreut sind und die an Sonntagen ihre Einwohner nach jener Kirche ergießen. Es ist ein einziges, wirklich rührendes Schauspiel, an einem Sonntagmorgen im Sommer, wenn die Glocken zum Gottesdienste einladen, auf dem Friedhofe zu stehen und die Ankunft der Beter zu erwarten. Aus weiter Ferne, von Berg und Thal, kommt Jung und Alt herbeigeströmt in Feierkleidern, und jene alte, im Aussterben begriffene Frauentracht, die man an Wochentagen nicht mehr zu sehen bekommt, erscheint dann noch bei alten Matronen, während die Jugend sie schon längst abgelegt und die schmuckere und weniger excentrische Landestracht des Unterlandes angenommen hat.

Am Sonntagmorgen in Guggigsberg.
Nach der Natur aufgenommen von E. Rittmayer.

An einem solchen sonnigen Sonntagmorgen ist denn auch das schöne Bild Rittmayer’s entstanden, das wir den Lesern der Gartenlaube vorführen und das uns den Charakter und die Physiognomie von Guggisberg und seinen Bewohnern mit sprechender Treue wiedergiebt. Möge es der geneigte Leser in guter Erinnerung behalten, es sind Reliquien einer alten Zeit in der Tracht der Menschen und im Baustyl der Häuser, die es uns vorführt, und wer in zwanzig Jahren auf jenem Kirchhof steht, wird umsonst nach den ernsten Matronen aus dem vorigen Jahrhundert und den noch viel älteren Holzpalästen sich umsehen. Die Neuzeit nivellirt auch hier oben, beide werden zu Grabe gegangen sein!

Die charakteristische Männertracht besteht seit Jahrzehnten nicht mehr, sie war weder bequem noch malerisch. Kniehosen mit Schnallen, Schnallenschuhe, lange rothe Weste, langer Rock mit großen Schößen und ein breitrandiger aufgekrempter Filzhut. Die Träger dieser auffallenden Kleidung wurden, wenn sie das Weichbild ihrer Heimath verließen, nicht selten verhöhnt. Jetzt haben die Männer des Guggisberg an Schnitt und Stoff dieselbe Kleidung, wie sie die Landleute im Canton Bern allgemein tragen.

Die Frauen trugen ursprünglich einen kleinen flachen, mit Perlschnüren geschmückten Strohhut, unter dem die offen getragenen Zöpfe mit langherabwallenden Zopfbändern herunterhingen. Später wurde das dunkelfarbige seidene Kopftuch angenommen, das über dem Nacken geknüpft wird und dessen Schleifen herunter hängen. Es kam erst zu Anfang dieses Jahrhunderts auf, die alte Dame auf unserm Bilde trägt es auch noch und es findet auch bei jüngern Mädchen und Frauen wegen seiner Bequemlichkeit Gnade. [688] Die übrige Tracht: der kurze, nur bis zum Knie reichende, enge und faltenreiche Rock (Jeppe), die glänzende, fast einem Bergmannsschurze ähnliche, über den Leib gespannte und hinten mit einer Schnalle befestigte Schürze und die unförmliche Jacke (Tschöppli) mit den flügelförmigen Ansätzen, die weißen Strümpfe und weit ausgeschnittenen Schuhe, welche das Bild vervollständigen, zeigt die Illustration mit der Treue eiues Modenbildes. Irren wir nicht, so hat die Frauentracht in Sachsen-Altenburg viel Aehnliches mit dieser aussterbenden Guggisberger Frauentracht; nordische Reisende fanden sie dagegen gewissen Landestrachten in Norwegen ähnelnd.

Wiewohl Guggisberg einer jener abgelegenen Erdenwinkel ist, wo nach dem Schweizersprüchwort „Füchse und Hasen sich gute Nacht wünschen“, so bildet es doch den Mittelpunkt, von dem aus eine Reihe von Ausflügen und Bergbesteigungen sich ausführen lassen. Nach Westen führt die Straße in den Canton Freiburg nach einem malerischen Bergsee, Lac noir, an dem ein berühmtes Schwefelbad liegt; im Oberamt selbst liegt das nicht minder bekannte Bad Schwefelberg, nicht weit jenseits der Grenze der viel fashionablere Gurnigel. Die Aussicht, die wir von dem viertausenddreihundert Fuß hohen Gipfel des Guggershorns genießen, vergilt reichlich die darauf verwandte Mühe. Zunächst zu unsern Füßen breitet sich das Guggisberger Ländchen im Schmucke seiner reichen Wiesen und Weidegründe, seiner Wälder und Kornfelder aus. Darüber hinaus schweift der Blick über die schweizerische Hochebene hin, die Bergkette des Jura, das Rebland von Neuenburg, die Cantone Freiburg und Waadt und einen Theil des Bernerischen Tiefthales, die Seen von Murten, Biel und Neuenburg. Von der Süd- und Ostseite ist der Horizont von der Stockhornkette und ihren Ausläufern begrenzt, hinter welchen sich verstohlen einige Firnen erheben. Auf den nächstliegenden Bergen weiden zahllose Schafheerden, die von Hirten den Sommer hindurch gehütet werden, bis der Futtermangel sie im Herbst in die Thäler treibt.

Das Leben dieser Schäfer ist ein wildromantisches, fern von allem Umgang mit menschlichen Wesen verleben sie bei kärglicher Nahrung und ungenügender Kleidung den ganzen Sommer fast ausschließlich im Freien, nur bei rauhem Ungewitter Schutz unter elenden steinernen Hütten suchend. Ihr Dasein ist von Gefahren umgeben; oft müssen sie Tage lang einem verlorenen oder verstiegenen Lamm nachspüren, um es dann, wenn es sich gefunden, mit Lebensgefahr über Felsen und Trümmer zur Heerde zurückzutragen. Diese wettergebräunten Söhne der Berge sind bei alledem ein munteres, lebensfrohes Völklein und sehen ruhigen Blickes jeder Gefahr in die Augen. An schwindligen Abgründen, wo auch der geübte Bergsteiger nur behutsam auftritt, sieht man sie stehen, mit weit ausgeholtem Peitschenschwung das Echo der Berge wecken, einen im Thale unten vorüberziehenden Wanderer begrüßen oder mit melodischem Jodeln von Grat zu Grat dem Cameraden den Morgen- und Abendgruß zujauchzen. Die von ihnen bewachten Schafheerden sind nicht ihr Eigenthum, sondern das anvertraute Gut verschiedener Thalbewohner. Am ersten Donnerstag im Monate September werden diese Heerden alle in’s Thal getrieben und haben in dem sonst unbedeutenden, aber durch seine großartigen Schafmessen berühmten Weiler Ryffenmatt ihr Stelldichein. Dort empfangen die Hirten von den verschiedenen Eigenthümern ihren Jahreslohn, dort findet auch das „Scheiden“ der Schafe statt. Ein. wahres Volksfest gestaltet sich an diesem Tage in Ryffenmatt; viele Tausende von Schafen strömen herbei, Hunderte von Eigenthümern, Kauflustigen und Neugierigen aus dem „Land herauf“ drängen sich hinzu.

Jedes Haus wird dann zu einer vorübergehenden Schenke oder Herberge. Jede einzelne Heerde wird in ihre bestimmte Hürde getrieben, und kaum sind die vier- bis sechshundert Stücke eingeschlossen, so dringen auch die Eigenthümer hinein. Nun geht es an ein Suchen und Finden, Prüfen und Wiedererkennen, Betrachten, Anbinden und Herausführen, daß man kaum weiß, wohin sich seine Blicke wenden. In zwei bis drei Minuten ist die ganze Heerde gesichtet und getheilt, ohne daß dabei viel Worte gewechselt werden. Auch an tragischen Scenen fehlt es oft nicht; nicht alle Thiere finden sich vor, das eine und andere ist den Unbildem der Witterung oder den tückischen Abgründen zum Opfer gefallen, und manch’ ein Bübchen vergießt heiße Thränen, wenn ihm statt des Lieblings-„Lämmschi“, das er in Empfang nehmen wollte, nur dessen Todtenschein: ein paar abgeschnittene Ohren oder das hölzerne Täfelchen mit der Nummer, das es am Halse zu tragen pflegte, gereicht wird.

Das Aeußere eines Guggisberger Hauses zeigt das Figurenbild unseres Künstlers in charakteristischer Weise. Ein einziger Blick verräth uns, daß es zwar auch von Holz, aber in seiner Bauart von den Chalets des Berner Oberlandes und Siebenthales ganz verschieden ist. Groß, an Länge und Breite von gewaltigen Dimensionen, ist es nur ein Stockwerk hoch, während das eigentliche Chalet hierin bekanntlich sich von einem steinernen Hause nicht unterscheidet. Ueber dem ernsten, sehr schrägen, einen stumpfen Winkel bildenden Dache, das mit Schindeln bedeckt und mit großen Lattnägeln und centnerschweren Steinen beschwert ist, erhebt sich nur wenig der hölzerne Rauchfang mit seiner gleichfalls hölzernen Schnee-, Sturm- und Regenhaube, die von der Küche aus ab- und zugedeckt werden kann. Gegen Südwesten, woher fast alle Gewitter kommen, reicht das Dach fast auf die Erde hinunter. Die Fenster sind mit kleinen, runden oder vieleckigen und in Blei gefaßten Scheiben versehen. Von außen sind die Wohnräume der Menschen mit reichen, schön symmetrisch geschichteten Holzvorräthen umgeben, während vor dem Stalle der nicht minder sorgfältig ausgebaute Düngerhaufen der Maßstab für den Viehstand, mithin Reichthum des Besitzers ist. – Jedes echte alte Haus in Guggisberg trägt über den Fenstern einen Spruch als Wahrzeichen, der entweder religiösen Inhaltes ist, zum Beispiel:

Gott lasse dieses Haus in Seinem Schutze sein,
Er segne jedermann, der hier geht aus und ein.
Sein großer Allmachtsarm soll Feu’r und Wasser wehren,
Und gnädig wende ab, was immer kann zerstören.
Und wann das irdisch’ Haus an unsrer Hüllen bricht,
So schenk uns einen Bau von Dir selbst zugericht.

oder mehr eine Lebensregel der Klugheit enthält:

Siehe Du in den Spiegel bald,
Wie Du Dir selbst gefallst,
Ehe Du einem anderen Mann
Sein Gebrechen zeigist an.
 Brandelen Wagner.

Nicht jedem nächsten besten Neugierigen ist es verstattet, auch das Innere eines Guggisberger Hauses zu betreten. Wir aber sind eingeführt und von dem freundlichen Hausbesitzer und der rothwangigen jungen Frau dringend eingeladen. Treten wir also ein, aber ja recht demüthig, mit gebücktem Haupte, damit dasselbe nicht unsanft mit der obern Schwelle der Hausthür und an der Wohnstube nicht mit dem „Unterzug“, dem die Decke stützenden Querbalken, in Berührung komme. Hier fällt uns denn beim ersten Blicke eine Reinlichkeit und Zierlichkeit auf, wie sie das runzlige wettergebräunte Dach gar nicht erwarten ließ. Längs der krystallhellen Fenster, die täglich gewaschen oder mit einem in Kirschgeist getauchten Lappen abgerieben werden, laufen der Wand nach die hölzernen Bänke, welche die Stelle der Divans vertreten, blank gescheuert. In der Ecke steht ein mächtiger Tisch aus Hartholz, oft mit reich geschnitzten oder gedrechselten Beinen, und rings um denselben an den Wänden stecken in besonderen „Rygeln“ die runden Blechlöffel. Dort aber hinter der blendend weißen, von der Decke bis zum Fußboden reichenden Leinengardine steht das riesige, hochaufgethürmte Ehebett, welches mit seinem ungeheuern Gestelle, mit seiner Bettwäsche und dem Ueberfluß von Flaum ein kleines Vermögen repräsentirt und mit Recht der Stolz jeder Guggisberger Frau ist.

Während wir in der geräumigen Wohnstube uns umgesehen haben, hat ein dienender Geist uns im „Hinterstüble“ ein Frühstück bereitet. Das neben dem Wohnzimmer gelegene Hinterstüble ist das Allerheiligste des Hauses, wo nur der Eingeweihte Zutritt hat. Dort ist der einfache Schreibtisch des Hausvaters mit dem Rechnungsbuch und dem Geldfach, dort bringen die erwachsenen Töchter den Sonntag-Nachmittag zu, und die Dienstboten haben nur dann Zutritt, wenn es sich um eine Strafpredigt unter vier Augen oder um einen neuen Vertrag handelt; dort endlich werden auch angesehene Besuche empfangen und bewirthet. Ein reiner Tisch ist mit Landesproducten bedeckt: mit einer Flasche Kirschgeist, Brod, Honig, Käse, „Ziger“ und einer Flasche Wein. Laß Dich nicht zu sehr nöthigen, die vorgesetzte Speise ist nicht blos Schaubrod, und je größere Stücke Brod und Käse Du „wegsprengst“, [689] um so größere Ehre widerfährt Deinem Gastfreunde. Erwarte aber keine Teller und Messer oder daß man Dir vorschneide und vorlege; der Gast führt ein Messer in der Tasche, er mag es herausnehmen. Auch ist für die zahlreiche Gesellschaft nur Ein Glas oder Gläschen vorhanden, das der Hausherr füllt und Dir „bringt“, d. h. er winkt Dir freundlich zu, verbeugt sich vielleicht gar leicht und leert es dann selbst. Dann erst wird es auf’s Neue gefüllt und Dir selbst dargebracht. Willst Du ein feiner Mann sein, so leere es in Einem Zuge; auf keinen Fall stelle es auf den Tisch ab, nachdem Du einen Schluck getrunken. Die Etikette verbietet das, Du mußt es dem Wirth oder dem nächsten Gast in die Hand geben; nur dem „Henker oder Schinder“ stellt man das Glas auf den Tisch hin, nachdem man „Bescheid gethan“. Selbst wenn Du als Fremder eine Wirthsstube betrittst, wird Dir’s mancher „bringen“ und Du läufst Gefahr, mehr „Bescheid thun“ zu müssen, als Dir lieb ist. Auf den Tanzböden „bringen’s“ die jungen Bursche den Mädchen, eine Dorfschöne erhält oft sechs bis acht Gläser auf einmal, die sie alle gleichzeitig in oder auf den Händen behalten muß, bis sie ein Glas nach dem andern dem Eigenthümer in die Hand zurückgebracht hat. Das letzte Glas muß sie nach der Etikette Demjenigen zurückerstatten, den sie auszeichnen will, und so hat sie oft Mühe, sich der vielen Trinkgefäße zu entledigen, weil jeder der Letzte sein möchte. – Die Weigerung, Bescheid zu thun, ist aber eine arge Beleidigung, ein Zeichen von Geringschätzung oder Verachtung.

Manches in diesen Sitten und Gebräuchen erinnert an das bayerische Hochland, mit welchem Guggisberg auch das Haberfeldtreiben gemein hat. Diese eigenthümliche Art von Vehmgericht wird hier „Trachselfahren“ genannt und wird unter denselben Verhältnissen abgehalten, wie das Habern. Hat ein junger Bursche ein Mädchen betrogen, wird irgendwo frecher Ehebruch getrieben, ist ein Wirth als Weinverfälscher, ein Hagestolz als Wucherer, Betrüger u. s. f. bekannt, so sammeln sich Nachts die gefürchteten Rächer. Kuhglocken, Ziegenschellen, alte garnirte Posaunen und Trompeten, Pfannendeckel, metallene Waschbecken dienen als Musikinstrumente; ein Mann mit geläufiger Zunge und kecker Stirne wird zum öffentlichen Ankläger gewählt; dann setzt sich der Zug in Bewegung mit einer Musik, die „Steine erweichen, Menschen rasend machen kann“. Das Dorf und die Umgebung wird durchstreift, auf öffentlichen Plätzen Halt gemacht und vom Sprecher das Sündenregister des Frevlers mit eindringlichen Worten verlesen. Zeugen werden verhört, die Umfrage an die Richter wird gehalten und das Urtheil gesprochen, das natürlich auf „Trachselfahren“ oder „Karren“ lautet.

Vor dem Hause des Opfers wird der Lärm, der bisher nur zur Sammlung diente, verdoppelt. Oft wird selbst eine Strohpuppe aufgestellt, auf einer Armensünderbank befestigt und nach allen Regeln des öffentlichen Gerichtsverfahrens zu irgend einer ungeheuren Strafe, Prügel, Pranger, Landesverweisung oder Verbrennung verurtheilt. In neuerer Zeit ist das Gericht aber ausgeartet, hat von seinem früheren Ernste verloren und ist bestechlich geworden. Schlaue Angeklagte ließen vor ihrem Hause, um die Execution zu verhindern, blitzableitende Korbflaschen mit Wein, Körbe voll Brod und Käse aufführen, was den zur Strafe erhobenen Arm der Volksjustiz lähmte. Natürlich duldet die weltliche Gerechtigkeit diese Eingriffe in ihre Befugnisse nicht, und die Thäter werden zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Doch sind es kaum vier Jahre, daß eine übelbeleumdete Familie auf diese Weise gebrandmarkt wurde.

Fragen wir nun nach dem Charakter und der Organisation des Guggisberger Völkleins, das wir bereits in seinen verschiedenen Lebenslagen beobachtet haben, so sind die Männer von Guggisberg, wie alle Bergbewohner, schon als Hochgeborene, von großer Körperkraft. Sie gehören ohne Zweifel zu den kräftigsten Volksstämmen und von einzelnen besonders bevorzugten Athleten werden Thaten erzählt, die an Simson erinnern und geradezu unglaublich wären, wenn sie nicht von so glaubwürdigen noch lebenden Augenzeugen verbürgt wären. Dabei sind sie von großer Gutmüthigkeit, heiter, voll Mutterwitz, worin sie kaum den Appenzellern nachstehen, gegen Fremde erst zurückhaltend, wenn aber einmal gewonnen, zutraulich und gastfreundlich. Mit allen Bergvölkern haben sie einen tiefen religiösen Ernst gemeinsam, der bis zur Neigung zum Sectenwesen geht. Es kann daher auch nicht befremden, wenn die reformatorischen Bestrebungen, die im dreizehnten Jahrhundert als Vorläufer der eigentlichen Reformation von dem südlichen Frankreich ausgingen, in diesem Hochlande lebhaften Anklang fanden und daß es Feuer und Schwert brauchte, um die „Irrlehre“ mit Stumpf und Stiel auszurotten.

Haushälterischer, vorsorglicher Sinn und Genügsamkeit zeichnen den Guggisberger aus. Leider hat sich in einigen Ortschaften der Branntwein, das Trostmittel der Armen, mit seinem ganzen Gefolge eingeschlichen. Auffallend ist die Intelligenz und mannigfache Begabung dieser auf sich selbst angewiesenen Menschenclasse, die Autodidakten sind geradezu Legion und zeigen sich nicht nur in Handwerken (z. B. Uhrmacher, die nie eine Lehre gemacht und doch untadelhafte Uhren zusammensetzen und deren kleinste Theile eigenhändig anfertigen) oder in der Musik (Orgel- und Clavierspieler von bedeutenden Leistungen, die nur das angeborene Genie zum Lehrmeister hatten), sondern auch in so abstracten Wissenschaften, wie Mathematik und Astronomie. So erzählt Herr Jenzer in seinem Buche über Schwarzenburg von einem Müller, der zugleich Schreiner, Orgelspieler, Glasschleifer, Mathematiker und Astronom war, Sonnen- und Mondfinsternisse und Planetendurchgänge auf viele Jahre hinaus genau berechnete u. dgl.

Gerne würden wir noch einen Streifzug in die Geschichte von Guggisberg unternehmen und namentlich in die ehrwürdige Vergangenheit des nördlichen und tiefer gelegenen Landesteiles, wo Kelten, Römer, Burgunder und Alemannen bereits Jahrhunderte lang geschaltet hatten, als der Urwald von Cucansperc sich zu lichten begann. Aber das Alles würde uns zu weit auf die Seite führen. Vielleicht bleibt es einem zweiten Ausflug in’s Schwarzenburgische vorbehalten.