Aus der Jugend eines Sängerfürsten
[868] Aus der Jugend eines Sängerfürsten. Es war in dem Jahre des Heils 1848. Die großen Tage der französischen Revolution schienen auch für unser friedliches Vaterland gekommen zu sein, überall, wohin man blickte, gab es Unruhe, Toben, Aufgeregtheit, an einzelnen Stellen war schon Blut geflossen. Man pflegt zu sagen, daß vom Erhabenen bis zum Lächerlichen nur ein Schritt sei, nicht leicht hat Jemand so sehr Gelegenheit gehabt diese Erfahrung zu machen, wie die Zeitgenossen der Sturm- und Drangtage von 1848. Wer jene große Zeit in einer der größeren Städte wie Frankfurt oder Berlin verlebt hat, wird vorwiegend das Großartige, Hochtragische, was die ganze Erscheinung bot, in der Erinnerung behalten haben. In den kleineren Städten und auf dem platten Lande trat dagegen die große Bewegung doch auch häufig ihrer komischen Seite nach hervor.
So auch in Erxleben, dem großen,wohlhabenden Dorfe auf der Grenze der Altmark und der Börde. Auch dorthin war nachgerade der neue Geist gedrungen, und wenn es auch dort keine Barrikaden, keine Leichen, kein Blut gab, so zeigte sich doch der hohe Sinn für die beglückende allgemeine Wehrpflicht auch unter den Bauern Erxlebens in bewundernswerther Größe.
Eine fürchterlich grimmige Miliz war es, die ein vergnügter Feuereifer für Uniformen und Waffengerassel aus dem Boden stampfte. Ja, „der König rief – nicht, und Alle, Alle kamen,“ der ehrsame Schuster und der tapfere Schneider, der grobe Gastwirth und der geschmeidige Müller, alle angethan mit den Waffen, welche die Ahnen einst getragen, oder – welche die jetzigen Besitzer billig vom Juden erstanden hatten. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß diese Elite-Truppe des Dorfes einen erhebenden Eindruck machte, wenn sie durch die breite Hauptstraße Erxlebens zog, und daß das ganze Dorf, bestehend aus Greisen, Weibern und Kindern – die Männer waren hoffentlich bescheiden genug, sich nicht selbst zu bewundern – mit gerechtfertigtem Stolze auf sie blicken durfte.
Gerade in dieser unruhigen Zeit hatte in Erxleben der Vater des nunmehr bei Jung und Alt bekannten, überall hochgerühmten Sängers Albert Niemann – dort war derselbe geboren und aufgewachsen – es über sich gewonnen, das Dorf durch ein neues Wirthshaus zu verschönern. Der ehrliche Wirth, ein wahres Enakskind, gerieth eines schönen Tages mit einem widerhaarigen Knechte arg an einander; ein grobes Wort gab das andere – denn fein konnte man den alten Niemann beim besten Willen nicht nennen, zumal wenn er in seinem harzer Dialekte zu wettern anfing – und die gegenseitigen Differenzen gediehen schließlich zu dem Grade, daß Niemann, endlich die Geduld verlierend, den widerbellenden Burschen beim Kragen ergriff und ihn in echt patriarchalischer Weise mit höchsteigenen Händen durchprügelte. Aber bald sollte er erfahren, daß die seligen Zeiten, in denen eine solche Handlungsweise ungestraft vorüber ging, vorbei waren; stolz erschien der in seiner Freiheit gekränkte Bursch vor dem hohen Dorftribunal und forderte stürmisch sein Recht.
Das war nun ein Fall, der so recht in die unruhigen Zeiten hineinpaßte. Einen freien Menschen schlagen, nein, das war unerhört, das hieß ja denselben in gleichen Rang mit dem Vieh stellen und die vorsündfluthliche Epoche wieder einführen, nein, „das dürfe,“ versicherten die wütendsten Schreier, „dem Thäter nicht ungeahndet dahingehen, das müsse blutig gerächt werden.“ Noch vor wenigen Monaten würde man die Handlungsweise des alten Niemann vollkommen recht und billig gefunden und den für verrückt gehalten haben, der gewagt hätte, an dem Rechte der Faust nur zu zweifeln. Aber freilich: jetzt war das anders. In der Schenke ging es bald toll her.
„Datt is so üm de Kränk to krig’n,“ näselte der Schneider, „abber wenn ich den schabbigen Kärl, den Niemann, mal in de Mack (Mache) krieg, denn is sin End’ dao. Dat is so gewiß, as t’ Amen in der Kärk“ (Kirche).
Die Uebrigen lachten bei diesen Drohungen des dünnen Männchens auf, als sie an den baumstarken Niemann dachten.
„Aebber de Snider seggt ganz recht, mit sönn’ Kärl is ken Verdrag; wi schall dat nich liden,“ fuhr ein Anderer fort, „wi muß bi enanner stan und bei schall dat betaollen (bezahlen), segg’ ich, an daobi blifs’t, un daomit Holla!“
„De Jöchen hat Recht,“ sagte ein Dritter, „un wer dat oak glov’t, de kimm’ med!“
„So denk’ ick oak, ick oak,“ tönte es ringsum, und bald befand sich der stattliche Haufen auf der Straße.
Man stand vor dem Hause des Uebelthäters, wo die Haltung des Pöbels, der sich bereits dort eingefunden hatte, von Minute zu Minute drohender wurde. Aller Orten hörte man Flüche, und da man keinen anderen würdigeren Gegenstand besaß, an dem man seinen Enthusiasmus für Freiheit und Gleichheit und seine Erbitterung gegen die Knechtschaft beweisen konnte, so versuchte man sich endlich an den Fensterscheiben des Niemann’schen Hauses; ein Stein flog nach dem andern, eine Scheibe klirrte nach der andern zu Boden, endlich war das große Werk vollbracht, und den edelen Republikanern Erxlebens war es, als wenn der große Polterabend der Freiheit gekommen wäre. Zum ersten Male sah man auch hier in seiner vollen Größe den Vortheil der allgemeinen Volksbewaffnung, und die stolze Bürgergarde des Dorfes prangte in ihrer ganzen Glorie. Anstatt, wie man doch hätte erwarten sollen, das Eigenthum ihres Mitbürgers zu schützen, war sie es gerade, die sich am eifrigsten bei dem Steinbombardement betheiligte.
Immer höher stiegen die Wogen des Tumultes, und man hätte schon längst einen Sturm auf das Haus gewagt, wenn man nicht die Drohung Niemann’s gefürchtet hätte, daß er jedem, der ihm zu nahe käme, den Kopf einschlagen würde.
Endlich beruhigte der Commandeur der tapferen Bürgergarde, der damalige Kreisrichter, das Volk damit, daß er öffentlich erklärte, er werde selbst den Frevler dem rächenden Arme der Gerechtigkeit überliefern, damit dieselbe für immer ein warnendes Exempel statuire. Es verlief sich denn auch allmählich die tobende Menge. Mancher freilich etwas niedergeschlagen, wenn er an die Lorbeeren dachte, die er sich sicher, wenn der Kampf ausgebrochen wäre, in demselben erworben haben würde. Alle jedoch mit der Genugthuung, daß der Gerechtigkeit Genüge geschehen würde, ohne daß Einigen vorher die Hirnschale eingeschlagen wäre.
Den alten Niemann entführte in der That bald nachher der Arm der Gerechtigkeit seinem Heimwesen und lenkte seine Schritte einem Gebäude zu, das für gewöhnlich verlorenen Söhnen der Landstraße ein stilles Heim bot; mit Heine zu reden:
„Nach frommer Häscher Sitte,
Nahm man still ihn in die Mitte,
Und das Wachthaus, heilig groß,
Nahm ihn auf in Mutterschooß.“
Daheim ging jetzt beim Baue Alles drunter und drüber, das erkannte Keiner besser, als der junge Albert Niemann, der damals bereits von Magdeburg, wo er das Maschinenbaufach erlernen sollte, wieder nach Erxleben zurückgekehrt war und seinem vielbeschäftigten Vater zur Hand ging.
Albert sah die Unordnung und den Krebsgang der Wirthschaft eine Weile mit an, dann erklärte er seiner Mutter kurz und kategorisch, „der Vater müsse wieder frei werden, möge kommen, was da wolle“. Damit verließ er das Haus und begab sich geraden Weges zur Gerichtsbehörde des Dorfes. Mit kurzen eindringlichen Worten erzählte er dort, wie es zu Hause stände, und daß es ohne den Vater nicht weiter ginge, wenn die beleidigte Gerechtigkeit des Dorfes nun einmal eines Opfers bedürfe, so böte er sich selbst als Geisel für seinen Vater an.
Die Herren von der Justiz sahen sich eine Weile verwundert an, schüttelten die Köpfe, lächelten und sahen sich wieder an; endlich fühlten sie ein menschliches Rühren und beschlossen, den Vorschlag des vierzehnjährigen Jungen anzunehmen. Bald öffneten sich die Pforten des Gefängnisses für den alten Niemann, um sich hinter seinem Sohne zu schließen.
Indeß Niemann’s Gefängniß muß kein hartes gewesen sein, da er den Tag über in dem angrenzenden Garten sein Wesen treiben konnte, und Langeweile sollte ihn auch nicht plagen, da er einen Leidensgefährten hatte. Und was war das für Einer! Wahrlich wie geschaffen für den jungen romantisch angelegten Albert. Dieser Leidensgefährte büßte nämlich hier schwere politische Verbrechen ab. Der junge Bursche hatte sich das eigenthümliche Vergnügen gemacht, Pasquille in die Welt hinauszustreuen, deren Spitzen den damaligen Rector von Erxleben verwunden sollten, und als Platz für seine feurigen Thesen hatte er sich die Läden der Apotheke ausersehen. „Doch der Gassenvogt ihm grollte“; er paßte dem Burschen auf und ertappte ihn auf der That. So wurde er, der sich doch nur aus einem etwas ungewöhnlichen Wege literarisch ausgezeichnet hatte, der Märtyrer seiner kritischen Feder.
Die beiden jungen Leute verstanden sich bald, zumal der Pasquillenmacher etwas nähere Kenntniß vom Theater besaß, während Niemann’s Interesse für die dramatische Kunst noch von Aschersleben her, wo eine Schauspielertruppe ihr Asyl aufgeschlagen hatte, ein sehr reges war. Kurz und gut, bald kamen die hoffnungsvollen Jünglinge auf die kühne Idee, sich die Zeit mit Ausübung der dramatischen Kunst zu vertreiben. Das Gefängniß ward zum Musentempel, der Garten bildete die Bretter, welche die Welt bedeuten, und die Leistungen der jungen Musensöhne gingen im lieben Sonnenscheine vor sich. Es müssen wunderliche Aufführungen gewesen sein, in denen der große Niemann dort zum ersten Male debütirte, denn der damalige Rector G., der dazu verdammt war, von seinem Fenster ihnen zuschauen zu müssen, war zuerst höchst verblüfft über das unmenschliche Gebahren dieser Jünger der Kunst. Als er aber endlich über ihre Absichten klar wurde und merkte, wo sie hinaus wollten, [869] ergriff er laut lachend ein Buch und warf es den agirenden Jungen mit den Worten hinab:
„Bengels, wenn Ihr denn durchaus Theater spielen wollt, dann spielt wenigstens daraus!“
Die beiden Künstler waren zwar zuerst etwas verblüfft über diese sonderbare Unterbrechung und daß so plötzlich „der Segen von oben“ kam, dann aber griffen sie neugierig zu – es war Shakespeare’s „Heinrich der Vierte“, und von nun an probten sie Shakespeare.
Bald nachdem Albert das Gefängniß verlassen hatte, hieß es, er wolle Schauspieler werden, und ein wenig später, er träte in Aschersleben zum ersten Male auf. Die weitere Laufbahn unseres anerkannt ersten Heldentenors kennt die Welt. Lange ist auch schon in das Haus der hochbetagten, biedern Mutter Niemann’s der Ruf ihres großen Sohnes gedrungen, und mit mütterlichem Stolze zeigt sie, wenn einmal alte Bekannte von ehemals aus Berlin sie besuchen, das Bild desselben und hört dann verwundert oft genug die abwehrende Antwort: „Lassen Sie nur, liebe Frau Niemann, den kennen wir schon; er steht in Berlin ja in jedem Bilderladen.“