Aus der „Sternkammer“ in Wiesbaden
Das kleine Nassau ist nicht nur reich an „Sieben wonnigen W’s“ – „Wasser und Wiese und Wald; Wild, Wein und Weizen und Wolle“ – es erzeugt auch einen ausgezeichneten Menschenschlag, schlanke kräftige Männer- und blühende schwellende Frauengestalten. Dazu anmuthige sittige Frauen, echt deutsche Hausfrauen und Mütter; und verständige patriotische Männer, die ihr engeres Vaterländchen warm lieben und ein großes gemeinsames Vaterland heiß ersehnen. Und die Zahl von zähen energischen Patrioten ist unverhältnißmäßig groß, denn die Nassauischen Verfassungskämpfe datiren nicht erst seit 1848, sondern schon von den Befreiungskriegen ab; der mehr als fünfzigjährige Widerstand gegen die Miß- und Uebergriffe einer verblendeten Regierung hat, wie es unter anhaltendem Druck, unter wirklichen Leiden stets zu geschehen pflegt, die Herzen und Geister geläutert und gestählt; der frische Muth und die gläubige Ausdauer in diesem Kampfe hat sich hier von Vater auf Sohn vererbt, und das ganze Ländchen
[89] ist gewissermaßen nur Eine große Familie, fast Jedermann kennt den Andern persönlich und es ist fast, als ob Alle untereinander verwandt oder verschwägert wären. In jeder Stadt, in jedem Dorfe sitzen Mitglieder der national-liberalen Partei, Jeder wachsam und nach Kräften thätig für die gemeinsame Sache; sie unterhalten einen engen Briefwechsel, sie besuchen sich gegenseitig und versammeln sich von Zeit zu Zeit an bestimmten Orten, wo sie ihre Ansichten und Erfahrungen austauschen und nach Lage der Dinge ihre Operationspläne entwerfen und festhalten. Meist sind es durch Besitz und Stellung unabhängige Männer, vornehmlich Advocaten, Landwirthe und Industrielle, wie überall auch hier die berufenen Träger der demokratischen Idee, an denen die kleinlichen Chicanen und Verfolgungen der endlich gestürzten Regierung ohnmächtig abprallten; aber nicht Wenigen hat sie auch empfindliche materielle Wunden zu schlagen oder gar ihre Existenz zu untergraben gewußt. Wie mancher Beamter konnte auf der Leiter der Carrière um keine Sprosse höher kommen; wie mancher Arzt – auch die Aerzte gehören bekanntlich in Nassau zu den Staatsdienern – wurde nach dem rauhen und öden Westerwald verwiesen; wie mancher junge Jurist wurde nicht zur Advocatur zugelassen; wie mancher Industrielle konnte nicht die Concession zur Errichtung einer Fabrik erlangen; – blos weil er mit der liberalen Partei ging und wählte! Trotzdem hat keiner dieser „Gemaßregelten“ gewankt, keiner hat sich von der Regierung durch angebotene Titel, Orden, Beförderungen oder sonstige Vergünstigungen verdrehen und zu ihr hinüberziehen lassen.
Die Führer der nationalen Partei sind naturgemäß in der Hauptstadt des Landes, zu Wiesbaden. In ihrem Clublocale, der sogenannten „Sternkammer“, habe ich die meisten von ihnen persönlich kennen gelernt, mit ihnen zusammen gesessen und getrunken und mich an ihrer echtsüddeutschen Einfachheit und Gemüthlichkeit erfreut und erfrischt.
Das untere Ende des einzigen langen Tisches nahm gewöhnlich und fast wie präsidirend die Frau „Sternkammerwirthin“ ein, eine Dame, die ihres angenehmen Wesens und ihrer vortrefflichen Eigenschaften wegen bei der ganzen Gesellschaft in großem Ansehen steht. Sie ist trotz ihres Geschlechts eine entschieden politische Natur, eine begeisterte Patriotin und betheiligt sich nicht selten an den Debatten, ohne deshalb die Grenzen der Weiblichkeit irgendwie zu überschreiten. Seit Jahren hat sie lebhaft für die Fortschrittspartei agitirt und ihr in allen Kreisen Anhänger und Diener zu werben gesucht, ohne sich daran zu kehren, daß ihre Wirthschaft darunter litt, indem diese von Mitgliedern der reactionären Partei systematisch gemieden wurde und noch heute gemieden wird.
An ihrer Seite saß in der Regel Dr. Lang, dessen treue Freundin und Verbündete sie war, mit dem sie – oft vielleicht nur, um ihn sein körperliches Leiden, das ihn noch während meiner Anwesenheit hinwegraffen sollte, auf Augenblicke vergessen zu lassen – halblaut und eifrig plauderte und dessen jäher Tod sie tiefer zu verwunden schien als seine intimsten Freunde. Noch sehe ich sie mit starrem Entsetzen die Hiobspost anhören, einen gellenden Schrei ausstoßen und dann in die Nacht hinausstürzen, nach dem Sterbehause, um mit der verzweifelten Gattin des Dahingeschiedenen zu weinen und mit ihr zu wachen. – „Eine fürchterliche Nacht,“ „sagte sie später zu mir, als sie wieder stumm und mit leise rinnenden Thränen unter uns saß; „eine Nacht, die ich um keinen Preis der Welt noch einmal durchleben möchte!“
Da war ferner Karl Scholz, Director der Rheinischen Versicherungsgesellschaft und Mitglied der ehemaligen ersten Kammer; ein noch junger, kleiner und ziemlich unscheinbarer Mann, aber – wie das Aeußere den Menschen oft mehr verbirgt als ausdrückt – geschätzt durch Kenntnisse, Verstand und Rednergabe. Von diesen gab der einen glänzenden Beweis am Grabe Lang’s, wo er mit überströmenden Augen und erstickter Stimme dem Führers seiner Partei den durch die Blätter bekannt gewordenen schönen und wahrheitsgetreuen Nachruf hielt.
Da saß auch Procurator Schenck, ehemaliges Mitglied der zweiten Kammer, ein kräftiger Dreißiger und von sanftem, etwas wortkargem Wesen. Gleich seinem Freunde Lang, dessen politischen Anschauungen er wohl am nächsten steht, gehörte er zum Nationalverein, wo er ein eifriges Mitglied ist und im Ausschuß sitzt. So eben kam er von Berlin, wohin der Nationalverein eine Versammlung berufen, die Lang seiner wankenden Gesundheit wegen nicht mehr besucht hatte. Dort traf ihn die Nachricht vom Tode Lang’s, dessen Verlust die ganze Versammlung mit ihm als einen unersetzlichen fühlte.
Da sah ich weiter Baron v. Schwarzkoppen, ehemaliges Mitglied der ersten Kammer, als Vertreter der namentlich in Hannover begüterten Gräfin von Kielmannsegge; eine hohe ritterliche Gestalt von feinen Manieren und kluger Rede. Aber wie kommt der Aristokrat in die bürgerliche Gesellschaft? höre ich fragen. Weil er in der Ständekammer stets mit den Liberalen ging und ein entschiedener Feind von Feudalismus wie Absolutismus ist. Deshalb gehört er auch zu den Candidaten, die neuerdings in Nassau für das Norddeutsche Parlament aufgestellt sind, und wird wahrscheinlich gewählt werden.
Von Auswärtigen traf ich in der „Sternkammer“ unter Andern zwei Männer, die gleichfalls eines allgemeinen Ansehens sich erfreuen und in ihrer Heimath eine bedeutende Wirksamkeit ausüben: Born, Director eines großen Hüttenwerks bei Ems, und Procurator Hilf aus Limburg. Beide sind vermögende Leute und gediegene Charaktere, weshalb sie vom preußischen Civilcommissariat zur Berathung von Industrie- und Handelsfragen gegenwärtig zugezogen waren.
Neben Lang, dessen Umgang mir noch wenige Tage vergönnt war, erregte natürlich mein Hauptinteresse sein College und Freund Dr. Braun, dessen Thätigkeit und Bedeutung bekanntlich in Nassau und über ganz Deutschland keine geringere ist und dem nach dem Ableben Lang’s nunmehr die Führerschaft der nassauischen Fortschrittspartei im Großen und Ganzen obliegt.
Aber welcher Gegensatz zwischen beiden Männern, schon im Aeußeren und noch mehr nach Charakter und Begabung!
Lang blond und von untersetzter Gestalt, ernst und gemessen in Sprache und Bewegung; Braun brünett und etwas beleibt, beweglich, munter und gesprächig; Lang gegen Fremde ein wenig kühl und zurückhaltend; Braun entgegenkommend und verbindlich. So sah ich die beiden politischen Dioskuren am Wirthshaustische sich gegenübersitzen. Lang trank nur Wasser, war wortkarg und schien theilnahmlos; Braun schlürfte mit Behagen seinen Wein und erzählte dazu in lebendiger, dramatischer Weise Geschichten und Anekdoten, die von Witz und Laune übersprudelten.
In den nächsten Tagen besuchte ich beide Männer in ihrem Hause. Beide wohnten in derselben Straße, nur wenige Schritte von einander; deshalb und weil sie beide Hofgerichtsprocuratoren waren, meinte der Volkswitz: „Wenn die Bauern in Gerichtssachen nach der Stadt kommen, pflegen sie entweder in die Scylla oder in die Charybdis zu fallen.“ Jeder der Beiden besaß ein hübsches, geräumiges, gegen die Straße durch einen Vorgarten abgeschlossenes Haus, aber Braun zwar gewählter und eleganter eingerichtet, als Lang, dem in Kleidung und Wohnung die größte, oft auffällige Einfachheit genügte.
Ich fand Braun in einem Eckstübchen mit reizender Aussicht nach zwei Himmelsrichtungen, wo er auf dem Sofa ein Mittagsschläfchen hielt. Schon wollte ich zurücktreten, als er erwachte und munter aufsprang. „Ich bedarf nur eines Schlummers von wenigen Minuten,“ sagte er, „dann bin ich für die andere Hälfte des Tages wieder frisch und kräftig.“
Die neuesten Erscheinungen der Literatur, Bücher und Brochüren, Zeitungen und Journale, lagen umher; aber das war nicht sein eigentliches Arbeitscabinet, sondern, wie er sagte, der Ort, wo er zu lesen und zu meditiren liebe. Im Gegensatz zu Lang, der sich fast ausschließlich mit der Politik beschäftigte, interessirt sich Braun für Alles und ist von Allem unterrichtet. Literatur, Kunst und Wissenschaft, Handel, Gewerbe und öffentliches Leben sind ihm gleich wichtig und anziehend.
Die Arbeitskraft, Thätigkeit und vielseitige Begabung dieses Mannes sind wirklich erstaunlich. Er ist der gesuchteste und beschäftigtste Advocat der Stadt, aber neben dieser großen Praxis, wobei ihm allerdings ein paar junge Juristen helfen, läuft eine ebenso ausgedehnte politische, parlamentarische und literarische Wirksamkeit. Niemand sprach häufiger und eingehender in der Kammer denn er; er ist Vorsitzender oder Mitglied verschiedener wissenschaftlicher und gemeinnütziger Vereine, er besucht die meisten Volksversammlungen im Herzogthum und alle Abgeordnetentage in Deutschland, und überall spielt er eine hervorragende Rolle durch Rede oder Schrift. Er ist Verfasser zahlreiche Flugblätter und [90] Brochüren, Mitarbeiter an verschiedenen Journalen, wie „Grenzboten“, „Volkswirthschaftliche Vierteljahrsschrift“, auch an der „Gartenlaube“, und regelmäßiger Correspondent mehrerer Zeitungen, wie der Kölnischen. Und dabei scheint ihm nichts Mühe zu machen, nichts Anstrengung zu kosten, und er findet noch immer Zeit und Muße für alle Genüsse und Ergötzlichkeiten, die das Leben zu bieten vermag. Mit Einem Wort, er ist eine jener vollen glücklichen Naturen, welche die Götter in einer Feiertagslaune erschaffen und mit ihren reichsten Gaben ausgestattet haben.
Seine große Verschiedenheit von Lang trat namentlich auch in den Kammerdebatten hervor. Des Letzteren Reden waren kurz und schmucklos, wenn auch nicht ohne schlagfertige und drastische Wendungen. Braun dagegen liebt Bilder und Gleichnisse, Citate und Sentenzen; auch die trockenste und ernsteste Sache weiß er durch Anekdötchen, historische Parallelen und mythologische Anspielungen zu würzen und zu illustriren. Während Lang seinen Gegnern gerade auf den Leib ging und sie mit Keulenschlägen zu Boden schmetterte, liebkost sie Braun, um ihnen dann ganz unversehens Püffe und Ohrfeigen zu versetzen, doch immer mit Grazie. Lang war ein fester, strenger Demokrat, der von seinen Gesinnungsgenossen gleiche Festigkeit und Strenge verlangte und starr auf das einmal gesteckte Ziel losging; Braun ist neben dem Demokraten zugleich Diplomat und Weltmann, er nimmt Jedermann wie er ist, weiß sich in Zeit und Umstände zu schicken und geht mit der Zeit und den Ereignissen.
„Sind Sie je mit dem Herzog in persönliche Berührung gekommen“ fragte ich Braun im Laufe unserer Unterhaltung.
„Vor Jahren sind Lang, ich und Andere von unserer Partei zuweilen nach Hofe geladen worden; wir folgten auch einige Male, ließen uns aber bald entschuldigen, da wir einsehen mußten, daß mit dem Landesherrn eine Verständigung nicht zu erreichen war. Da kann ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die Zweierlei beweist: einmal, daß der Herzog um Wissenschaften sich gar nicht kümmerte, und zweitens, daß er von jeher eine instinctive Furcht vor dem mächtigen Nachbarstaate Preußen hegte und sich stets mit der dunkeln Ahnung seines nunmehr erfüllten Schicksals trug. Wie Sie wissen, bin ich ein eifriger Jünger der Nationalökonomie und gründete im Verein mit den namhaftesten deutschen Vertretern dieser Disciplin 1858 den volkswirthschaftlichen Congreß zu Gotha. Also eines schönen Tages kommt der Herzog plötzlich auf mich zu und fragt: ‚Sagen Sie ’mal, lieber Braun, was ist denn eigentlich Volkswirthschaft?‘ Sie können sich mein Erstaunen denken, aber ich gab ihm, so gut es mir möglich war, eine kurze Erläuterung. ‚Ah!‘ sagte er sichtlich zufrieden, ‚dachte schon, es wäre wieder so ein preußischer Kniff.‘
„Sobald die Regierung sich den Klerikalen und Oesterreichern in die Arme geworfen,“ fuhr Dr. Braun fort, „betrachtete der Herzog jeden Liberalen als persönlichen Feind und Beleidiger seiner Person. Er duldete es – wenn er’s zuweilen nicht selber that – daß seine Umgebung an offener Tafel und vor seinen Ohren von den ‚Fortschrittsadvocaten‘ sprach und sie ‚Kerls‘ und ‚Canaillen‘ titulirte. Er gab zu, daß die officiösen Blätter den ganzen Stand der nassauischen Anwalte der ‚Beutelschneiderei‘ beschuldigten, ihn eine ‚Landplage‘, einen ‚Krebsschaden‘, ein ‚eiterndes Geschwür‘ nannten. Lesen Sie selber, sonst würden Sie diese Art von officiösem Stil nicht für möglich halten, folgenden Passus der ‚Neuen Wiesbadener Zeitung‘, des damaligen Regierungsblattes, vom Jahre 1863:
‚– – Im Uebrigen halten wir den Tag für den leuchtendsten Glanzpunkt in der deutschen Geschichte, als nach der Schlacht im Teutoburger Walde unsere Altvordern die römischen Advocaten, welche deutsches Recht verdrängt und mit römischen Formeln und Distinctionen in Germanien das Recht gebeugt hatten, abfingen, ihnen die Zungen ausschnitten und an Bäumen aufhängten. Wir selbst würden heute noch mit größtem Vergnügen einige Procuratoren, etwa an der Lichtweißhöhle, eigenhändig abschlachten, der Wissenschaft zum Sühnopfer, den Raben zum Fraß.‘
Auf speciellen Befehl des Herzogs wurden gegen mehrere der ‚Fortschrittsadvocaten‘, darunter immer wieder Lang und ich, wiederholentlich Untersuchungen wegen ‚Verletzung der Amts- und Dienstehre‘, ‚Ueberschreitung der Gebührentaxe‘ etc. eingeleitet; einige Amtleute waren auch so gefügig, uns zu verurtheilen, aber das Hofgericht sprach uns in der Appellation jedes Mal frei. Das versetzte den Herzog in Zorn, er ließ die Mitglieder des Gerichtshofes theils durch die officiellen Blätter als ‚ehemalige Advocaten‘ angreifen, theils machte er ihnen persönlich bittere Vorwürfe. Hören Sie ein Beispiel: Einer unserer kenntnißreichsten Juristen, der sich in seinen knapp zugemessenen Mußestunden mit antiquarischen Forschungen beschäftigte, wurde endlich zum Rath am Hofgerichts befördert, und als er, wie es vorgeschrieben war, deswegen dem Herzog zu danken kam, unterbrach ihn dieser: ‚Schon gut!‘ rief er. ‚Höre aber, daß Sie sich mit Nebendingen, Bücherschreiben etc. beschäftigen. Das gefällt mir nicht, führt auf fortschrittliche Abwege.‘ Der junge Rath wagte ehrfurchtsvoll einzuwenden, daß es seiner unterthänigen Meinung nach einem Beamten nur ersprießlich sein müsse, wenn er sich außerhalb seines Dienstes auch um die Wissenschaft kümmere. ‚Ach was!‘ schrie der Herzog, ‚Wissenschaft?! Verlange von meinen Dienern Gehorsam. Aber man gehorcht mir nicht, man verurtheilt meine Feinde, die Feinde des Landes nicht, man läßt sie frei ausgehen.‘
„Unter diesen Verhältnissen,“ fuhr Braun fort, „mußte der Beamtenstand schwer corrumpirt werden, und in letzter Zeit florirte ausschließlich die ‚holde Mittelmäßigkeit‘. Der Aerger und Haß gegen die ‚Fortschrittsadvocaten‘ war dem armen Herzog schließlich zur fixen Idee geworden und versetzte ihn in eine beständige nervöse Aufregung. Er las nichts weiter als die von Herrn Abt, berüchtigten Angedenkens, für ihn eigens geschriebene ‚Nassauische Landeszeitung‘, und als der Biedermann wegen Beleidigung und Verleumdung mehrerer Mitglieder unserer Partei zu einer Menge von Geld- und Gefängnißstrafen verurtheilt war, kam ihm von oben herab der Wink, diesen aus dem Wege zu gehen. Er verließ das Herzogthum und verfügte sich nach dem nahen Frankfurt, wo er in der neubegründeten ‚Kritik‘ seine Schmähartikel gegen uns fortsetzte und dadurch den Herzog auch ferner mit der allein ihm zusagenden Lecture versorgte. Der von der Hofcamarilla gegen sein Volk sorgsam abgeschlossene und so immer ärger verblendete Fürst war zuletzt zu dem Glauben gekommen, die wiederholten liberalen Majoritätswahlen seien nichts weiter als eine Fälschung der Volksabstimmung durch die ‚Fortschrittsadvocaten‘; und als der Krieg drohte und dann wirklich ausbrach, behauptete das Regierungsblatt, wir trügen daran die Schuld, und bot Alles auf, um den Pöbel gegen uns loszulassen. Hier werden Sie finden,“ schloß Braun, und übergab mir eine lange Folge von Nummern der ‚Nassauischen Landeszeitung‘, „wie man uns täglich und auf jeder Seite als ‚Spione‘, ‚Landesverräther‘ etc. bezeichnete.“
Am Abend dieser Unterredung starb Lang, nachdem er noch eine Viertelstunde vorher in der „Sternkammer“ gewesen; und als ich am nächsten Tage wieder zu Braun ging, fand ich diesen gar sehr verändert: mit überwachtem Gesicht, geschwollenen Augen und in nachlässiger Kleidung. Er hatte den Freund verloren, mit dem er von der Schulbank an, seit dreißig Jahren, fast ununterbrochen Hand in Hand gegangen, sowohl was die wissenschaftliche Ausbildung und politische Gesinnung, als die Berufswahl und Carrière betrifft. Beide befanden sich in gleichem Alter, im fünfundvierzigsten Lebensjahre; aber der Eine hatte bereits vollendet und war eine Leiche, der Andere stand noch blühend und kräftig da und ging wahrscheinlich einer noch langen Zukunft mit reicherem, umfassenderem Wirken und steigendem Ruhme entgegen.
Das ganze Land hatte sich daran gewöhnt, diese beiden Männer stets bei einander zu sehen und ihre Namen wurden nur zusammen genannt. Noch heute Morgen war Braun’s kleiner Junge an das Bett seines Vaters gekommen und hatte ihn in kindlicher Naivetät gefragt: „Onkel Lang ist gestorben; wann wirst Du denn sterben, Papa?“
Ebenso verschieden wie die beiden Freunde von einander waren, ebenso sehr ergänzten sie sich auch gegenseitig. Gerade ihre Verschiedenheit führte sie zusammen und ließ sie vereinigt so mächtig wirken und so Großes leisten. Bis in die letzten Tage pflegten sie an jedem Morgen ein paar Stunden mit einander spazieren zu gehen und dabei ihre Gedanken und Erfahrungen auszutauschen; daher konnte es scheinen, als ob sie die Rollen ausdrücklich verabredet und unter sich vertheilt hätten; indeß war das, wie auch Braun versicherte, keineswegs der Fall, sondern jeder handelte nach seiner Neigung und Begabung, wenngleich sich der Eine durch des Andern Ansichten und Rathschläge häufig leiten [91] und bestimmen ließ. Naturgemäß kamen auch zwischen ihnen zuweilen Meinungsdifferenzen, kleine Mißhelligkeiten und Eifersüchteleien vor, aber sie wurden stets bald ausgeglichen, indem der weiche versöhnliche Braun meist zuerst den starren zürnenden Freund aufsuchte und ihm die Bruderhand bot.
Wenn Braun an Kenntnissen und Talenten reicher war, so überragte ihn Lang durch Energie, Menschenkenntniß und Scharfblick. Auf diesen Scharfblick legte Braun auch jetzt, als er mit mir von dem todten Freunde sprach, den Hauptaccent; und wirklich hat er die Richtigkeit und Sicherheit dieses Blicks zu erproben oft Gelegenheit gehabt, ihn wider Wunsch und Vermuthen oft hinterher bestätigt gefunden und schließlich daran glauben gelernt. Lang’s Blick und Urtheil bewährten sich an den meisten Persönlichkeiten, mit denen die Freunde in ihrer politischen Thätigkeit freundlich oder feindlich zusammentrafen; beispielsweise auch an dem Prinzen Nikolaus. Dieser, Halbbruder des Herzogs und Präsident der ehemaligen ersten Ständekammer, ein junger, schöner, eleganter Herr, Liebling der Damen und von etwas großen Bedürfnissen, dazu nicht ohne Kenntnisse und Talente, spielte zuweilen den Liberalen und liebäugelte dann mit der Opposition. Er lud die Führer der Fortschrittspartei zur Tafel, rauchte mit ihnen gemüthlich eine Cigarre und bedauerte, auf die Regierung so gar keinen Einfluß zu haben, schlug sich jedoch in der letzten Stunde immer auf die Seite des Herzogs. Lang durchschaute bald die zweideutige Rolle, welche der Prinz spielte, und da er sich nicht äffen lassen wollte, zog er sich von ihm zurück, rieth auch Braun, desgleichen zu thun. Aber Braun meinte, sein Freund urtheile zu streng, und versuchte es noch eine Weile mit dem Prinzen, bis er sich denn auch gezwungen sah, ihn aufzugeben. Prinz Nikolaus hat, nebenbei gesagt, sein diplomatisches Talent auch in der neuesten so kritischen Zeit bewährt, wo er, ohne mit dem Herzog zu brechen und ohne andererseits der liberalen Kammermajorität offen entgegen zu treten, geschickt zwischen den Parteien lavirte und sich eine neutrale Stellung gewann, die es ihm jetzt möglich macht, auch bei der preußischen Regierung zwischen dieser und seinem entthronten Bruder den Vermittler zu spielen.
Die Blicke und Hoffnungen des nassauischen Volks sind jetzt vorzugsweise auf Braun gerichtet, ohne Zweifel wird es ihn in’s Norddeutsche Parlament entsenden, und diese Wahl würde eine ebenso verdiente wie glückliche sein; denn mit seinen reichen Gaben wird er dort, wie früher in der nassauischen Kammer, zu den bedeutendsten und angesehensten Mitgliedern gehören.