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Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens

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Textdaten
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Autor: Albert Fränkel
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Titel: Das Laubhüttenfest
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 628–632
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Erster Teil: Im Frieden des Sabbathlichtes
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Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens.
Nr. 2. Das Laubhüttenfest.

Als Felix Mendelssohn einst an einem mondhellen Septemberabend über den sogenannten Brühl in Leipzig schritt, stieß er im auf- und abwogenden Gewühl der charakteristischen Gruppen, welche zur Meßzeit diese verkehrsreiche Gegend bevölkern, auf die patriarchalische Gestalt eines greisen Juden, der eben segnend seine Hände auf das niedergebeugte Haupt eines vor ihm stehenden Knaben legte und diesen sodann mit zärtlicher Innigkeit in seine Arme schloß.

Derartige Genrebilder aus dem jüdischen Religions- und Familienleben gehören während der Messe auf dem Leipziger Brühl nicht zu den Seltenheiten und die Vorübergehenden beachten sie kaum. Für den gemüthreichen und leicht erregbaren Tondichter aber hatte die niemals von ihm gesehene malerische Scene etwas so Feierliches und Ergreifendes, daß er überrascht stehen blieb und die kleine Gruppe im Lichte des Vollmonds betrachtete. Dem Greise war der theilnahmvoll auf ihm ruhende Blick des Fremden nicht entgangen. Er griff verlegen an seinen breitkrämpigen Hut und sagte: „Verzeihen Sie, mein Herr, wir beginnen heut Abend eines unserer hohen Feste, wo es Brauch ist, unseren Kindern und Enkeln den Segen zu ertheilen. Aber wir sind hier fremde Leute und nur auf enge Schlafstätten angewiesen. Darum müssen wir häufig von unseren Gebräuchen auf der Straße verrichten, was sonst in der eigenen Behausung geschieht.“

Der ruhige, gebildete Ton und das ziemlich reine Deutsch, in welchem diese Worte von einem ärmlich gekleideten polnischen Juden gesprochen wurden, erhöhten die Aufmerksamkeit des Componisten. Er richtete sein Auge auf das bleiche Gesicht des neugierig zu ihm aufblickenden Knaben und erwiderte in seiner jovialen Weise: „Es hat mich gefreut, daß Sie den Knaben so lieb haben und daß er Ihre Liebe so herzlich erwidert. Aber er sieht schwächlich und leidend aus. Warum haben Sie ihn so weit her mit sich gebracht?“

„Damit er ein Mensch werden soll, lieber Herr, was bei uns zu Hause, im Innern Rußlands, nicht möglich ist,“ entgegnete wehmüthig der alte Mann; „er ist meiner Tochter Sohn, ein gutes und fleißiges Kind, die Freude unseres Lebens, es kostet uns großen Schmerz ihn von uns zu lassen, aber bei uns ist’s noch finster, da muß er mit all’ seiner Lust und Liebe verloren gehen. Darum habe ich meine letzten Groschen zusammengerafft und ihn mit nach Deutschland genommen. In Berlin ist eine große und reiche Judengemeinde. Dort will ich mit ihm zu wohlhabenden Glaubensgenossen von Thür zu Thür gehen und so lange ein Bettler sein, bis ich ihm einen Platz in einer guten Schule und den nothdürftigsten Unterhalt verschafft habe. Für das Weitere wird Gott und sein guter Wille ihm beistehen. Ist doch auch der große Weltweise Moses Mendelssohn einst als ein blutarmer, schwächlicher Judenknabe nach Berlin gekommen und doch nach überstandener Noth und Kümmerniß einer der verehrtesten Männer seines Vaterlandes und ein Licht in seinem Volke geworden. Mögen seine Tugenden meinem verlassenen Kinde ein Vorbild bleiben, ich erzähle ihm täglich davon und kann ihm in unserer Lage nichts Besseres zurücklassen.“

Felix Mendelssohn suchte die Bewegung zu verbergen, welche diese plötzlichen Erinnerungen an seinen Großvater in ihm hervorriefen. Einer Berliner Dame aber, welcher er später den ganzen Vorgang erzählte, legte er das Geständuiß ab, daß an jenem Abende auf den Straßen Leipzigs zum ersten Male eine Regung edlen Ahnenstolzes durch seine Seele gezogen sei, daß er zum ersten Male ein Gefühl wehmüthiger Erhebung empfunden, bei dem Gedanken nicht an den jetzigen Glanz und Einfluß seines Hauses, sondern an seinen inneren Zusammenhang mit jener geistigen und sittlichen Kraft, welche in dem verfolgten jüdischen Stamme Jahrhunderte hindurch dem Hasse einer Welt getrotzt, bis sie endlich in dem stillen Dunkel eines armen Dessauischen Judenhauses zu einem hell und warm in die Geister und Herzen leuchtenden Strahl sich angesammelt hatte. Wer ermißt das geheimnißvolle Walten des Volks- und Familiengeistes, die innere Erbschaft der Geschlechter? wer konnte ihm, dem christlich erzogenen

[629]

Am Laubhüttenfest.
Nach dem Oelgemälde von Moritz Oppenheim.

Meister, sagen, was von den Gefühlen und Stimmungen längst entschwundener jüdischer Dulder in Stunden schaffender Begeisterung durch seine Harfe gerauscht, in seine eigene Seele das Ringen nach Hohem und Edlem gehaucht, in ihm sich zu gewaltiger Melodie gestaltet, in seinen Liedern und Oratorien, seinen Psalmen und Kirchengesängen den herzbezwingenden Ausdruck gefunden hatte?

Dies waren die Gedanken, welche, seinem eigenen Bekenntniß zufolge, unseren jugendlichen Meister bewegten, als ihn ein armer polnischer Jude plötzlich an seine Abstammung und an die traurige und doch so erhebende Jugendgeschichte Moses Mendelssohn’s erinnert hatte. Daß der Jude nicht ahnte, an wen er seine Worte gerichtet, braucht wohl kaum erst bemerkt zu werden. Mit einem kurzen Neigen des Kopfes wendete er sich ab und wollte eben in der umherstehenden Menge verschwinden, als der lebhafte Felix seinen Arm ergriff und ihm sagte: „Bleiben Sie noch einen Augenblick, oder besser, kommen Sie ein Stück mit mir, ich glaube für den Knaben in Berlin etwas thun zu können. Zuvor aber müssen Sie mir noch ein paar Fragen beantworten.“

So schritten die drei an Jahren und Charakter, in Bezug auf Stellung und Anschauung so grundverschiedenen, und doch an einem [630] geheimen Seelenpunkte mit einander verknüpften Menschen erst schweigend durch eine Seitenstraße, bis sie in eine stille Gegend des schönen Stadtparks kamen, der sich bekanntlich wie ein frischer und blühender Kranz um die ehrwürdigen Straßen des altersgrauen Leipzigs windet. Hier unter den hohen Bäumen, die der milde Herbstwind noch nicht entblättert hatte, blieb Mendelssohn stehen und sagte: „Wie Sie vorhin bemerkten, mein Lieber, ist Ihre Heimath im Innern Rußlands, sehr fern von hier.“

„Allerdings, lieber Herr, in einer kleinen Stadt an einer der fernsten Grenzen des Reiches.“

,Und dort haben Sie von Mendelssohn gehört?“

„Nicht blos gehört von ihm, lieber Herr, schon in früher Jugend habe ich alle seine Schriften gelesen, die hebräischen und die deutschen, und mich in unserer dortigen Wüstenei mühsam an ihnen herangebildet. Mendelssohn’s Werke und die Werke seines großen Freundes Lessing hatte mein Großvater schon vor vielen Jahren aus Deutschland mitgebracht. Seitdem sind sie ein Erbstück unserer Familie geblieben, das wir bewahren und benutzen wie einen heiligen Schatz. Aber ich kann Ihnen noch mehr sagen, mein Herr; an dem Feste, das wir heute feiern, es ist unser Laubhüttenfest, hat einst mein Großvater in Gesellschaft Lessing’s als Gast am Tische des Weltweisen gesessen und ihn sagen hören: ‚Es kommt eine Zeit, und sie ist nicht so fern, als man glaubt, wo die Juden nicht mehr Fremde sein werden in ihrem Vaterlande. Das werden sie aber nicht von außen her erlangen, durch fürstliche Gnade und weltliche Gunst, sondern nur durch die Macht der fortschreitenden Bildung. Diese Macht der Bildung sehen wir jetzt leise wachsen und wenn sie einst stärker geworden sein wird, als alle Gewaltigen der Erde, werden auch die Juden schon durch ihre eigene Anstrengung lebendige und liebevoll sich anschließende Glieder der großen Volksfamilie geworden sein, mit der sie durch Geburt und Erziehung, durch Sprache und Sitte verwachsen sind.‘ Das hat Moses Mendelssohn damals an seinem Tische gesagt und seine Voraussagung hat sich für Deutschland bereits erfüllt. Die Deutschen jüdischen Stammes haben in ihrem Erlösungskampfe gesiegt, nicht durch Verleugnung ihrer väterlichen Religion und Sitte, nicht auf dem Wege der Gunst und der äußeren Gewalt, sondern durch den Geist der Bildung, der Veredlung und des arbeitsvollen Strebens, den vor kaum siebenzig Jahren ein kleines, verwachsenes Männlein durch sein Beispiel und seine Lehre in ihnen erweckt hat. Bei uns freilich sieht es in dieser Hinsicht noch schlimm aus und erst jetzt fängt es langsam an zu tagen, man liest wenigstens schon die hebräischen Schriften Mendelssohn’s und noch läßt sich nicht absehen, welche Veränderungen der Einfluß des jüdischen Reformators durch die zahlreichen Schüler, die er unter den russischen Juden gefunden, in der gesammten Welt des Ostens bewirken wird. In Deutschland ist man, wie ich höre, schon vielfach über den Standpunkt Mendelssohn’s hinausgewachsen. Für Rußland und Polen aber werden wir ihn jedenfalls noch eine hohe Bedeutung gewinnen sehen.“

Der Mann hatte diese lange Erklärung nicht so fließend, nicht ohne einen starken Anflug von polnisch-jüdischem Accent und wohl auch nicht ganz in denselben Worten, aber mit einer Wärme des Herzens und der Ueberzeugung gesprochen, die seinen Zuhörer mit ehrfurchtsvoller Achtung erfüllte. Wie er da im vollen Lichte des Mondes mit dem weißen, lang auf den schwarzen Kaftan herabwallenden Barte vor ihm stand, lag in seiner ganzen Erscheinung etwas Propheten- und Apostelhaftes. Auch der bleiche Knabe, der die Hand des Sprechenden ergriffen und sich kindlich an seinen Arm gelehnt hatte, schaute mit seinen stillen und tiefen Augen bewundernd zu ihm auf. Der Greis aber strich dem Enkel die Wange und fuhr fort: „Wenn Gott mich gelingen läßt, was ich mit diesem da vorhabe, wird er nicht blos glücklicher werden, als seine Väter waren, sondern auch vollenden helfen, was sie umsonst begonnen haben. Wenn er aus Deutschland als ein Mann zurückkehrt, wird er die Herzen schon geöffnet finden. Noch hängen sie mit fanatischer Strenge an dem Unwesentlichen, an all’ dem verwilderten Aberglauben, den Irrthümern und Mißbräuchen, die sich in den Jahrhunderten grausamer Verfolgung wie eine harte Kruste um den Kern unserer Religion gelegt und viele ihrer schönen und ehrwürdigen Gebräuche bis zur Häßlichkeit entstellt haben. Um diese Kruste allmählich zu erweichen, brauchen wir begeisterte Lehrer und ein solcher Lehrer, so denke und hoffe ich, soll dieses Kind hier werden. Darum habe ich ihm auch jetzt in Dessau das Stübchen gezeigt, in dem einst der dritte Moses seines Volkes geboren wurde.“

„Sie haben wirklich das Geburtshaus Mendelssohn’s besucht?“

„Unverändert steht es im Hofe eines kleinen Hauses noch auf derselben Stelle, wo es vor mehr als hundert Jahren gestanden hat. Als ich es betrat, fühlte ich ein tiefes Wehe in meinem Herzen und doch einen Stolz. Denn ein elendes Stübchen ist’s, lieber Herr, ein armselig Stübchen, wie es wohl selbst in jenen Zeiten nur die ärmsten Familien bewohnt haben können. Es muß aber ein hoher und himmlischer Glanz gewesen sein, der einst durch diese Behausung sorgenvoller Dürftigkeit geleuchtet hat; wie hätte sonst der schüchterne Sohn des von Noth und Elend gebeugten dessauischen Schreibers jener hohe und reine Charakter werden können, als den ihn die gesammte Mit- und Nachwelt gekannt und bewundert hat? Mag die große Welt, in die er mit dem vierzehnten Jahre getreten, seinen Geist geschult und sein Wissen bereichert haben, die Keime zu allen Tugenden seines Herzens, seine seltene Milde und Menschenfreundlichkeit hat er, bei dem damals völlig abgeschlossenen Leben der Juden, sicher nur aus dem engen Dunkel des jüdischen Elternhauses mitgebracht. Das Loos dieser gedrückten Menschen, denen man alle öffentlichen Schulen und Bildungsanstalten und eigentlich jeden ehrlichen Erwerb verschloß, war in jenen Tagen noch vielfach ein hartes, ein sehr hartes, lieber Herr!“

„Um so mehr ist es allerdings zu bewundern,“ entgegnete Felix mit anscheinender Ruhe, „daß sie bei so großem innerem und äußerem Drucke noch Charaktere, wie Mendelssohn, aus sich erzeugen konnten. Alle Berichte der Zeitgenossen rühmen seine hohe Tugend und Weisheit, den Zauber seiner Persönlichkeit. Nicht Wenigen ist er ein Vorbild geworden. Doch fiel es mir auf, daß Sie seinen Vater einen Schreiber nannten, in den Biographien heißt es, er sei ein Lehrer gewesen.“

„Es ist möglich, daß er auch unterrichtet hat, aber seinem eigentlichen Berufe nach war er ein Schreiber. Man weiß sonst überhaupt wenig von dem Manne, obwohl er der Vater und Erzieher eines berühmten Mannes, der Ahnherr einer so ausgezeichneten Familie gewesen, ist nicht einmal seine Abstammung bekannt und sein Grab nicht mehr aufzufinden. Aber ein Schreiber war er, das steht fest, und ein in der Gemeinde wegen seines stillen und makellosen Wandels sehr hochgeachteter Mann. Wissen Sie, was ein Schreiber ist? Es waren dies früher die einzigen Künstler unter den Juden. Auf Pergament schrieben sie die großen Thorahrollen und häufig auch die Gebetbücher, welche bei unserem öffentlichen Gottesdienste benutzt werden. Finden Sie einmal Gelegenheit, in einer Synagoge oder Bibliothek ein solches zuweilen auch mit farbigen Anfangsbuchstaben und Miniaturbildern geschmücktes Werk zu betrachten, so werden Sie inne werden, daß zu dieser Arbeit nicht blos wissenschaftliche Kenntniß und eine Art künstlerischer Fertigkeit, sondern auch Geschmack, Schönheitssinn und vor Allem jene unbeschreibliche Geduld gehörte, wie sie nur fromme Begeisterung den Menschen früherer Zeiten verliehen hat. Ich erwähne den Umstand, weil er nicht unwichtig ist. Sollte von einer solchen künstlerischen Thätigkeit nicht auch etwas in die Denkungsart und die Sitten Mendel’s übergeflossen sein und auch in die Seele seines Kindes schon frühe jenen Sinn für das Feine und Geordnete, das Anmuthige und Schöne gepflanzt haben, der später ein so wirkungsreicher Grundzug seines Wesens geblieben ist? Wie oft mag der arme Vater noch in später Nacht bei düster brennender Lampe in seinem erbärmlichen Zimmer gesessen und mit erhobenem Gemüthe, betend zugleich und schreibend, den Urtext jener Psalmen auf Pergament gezeichnet haben, die später sein Sohn in’s Deutsche übertragen …“

„Und sein Urenkel in Musik gesetzt hat,“ wollte Mendelssohn den Mann unterbrechen. Er verschluckte aber jede derartige Bemerkung und sagte nur: „Es ist eine weite Gedankenreihe, die Sie mir da eröffnen, und sie erregt mich tiefer, als Sie vielleicht glauben. Aber mir liegt noch eine Frage auf dem Herzen: Sie glauben also wirklich, daß das seit Mendelssohn wiederum in eine Bewegung gerathene Judenthum in den europäischen Ländern noch eine Zukunft habe?“

„Ich glaube es mit Tausenden und abermals Tausenden meiner Brüder und Schwestern, die heute mit mir unser fröhliches Laubhüttenfest feiern, wie mit Unzähligen, die es nicht mehr feiern. [631] Daß das Judenthum lebt und in seinen Wurzeln nicht abgestorben ist, können Sie in jeder Stadt und in jedem Dörfchen sehen, wo eine Gemeinde ist. Und warum wollen Sie es nicht leben lassen? Wurzelt es nicht, so gut wie das Christenthum, in einem höheren sittlichen Inhalt, der sich nur in besonderen, durch Geschichte und uraltes Herkommen geheiligten Formen offenbart, die Niemand stören und schaden und die Mancher nur fremdartig oder lächerlich findet, weil ihm die eigenen Gewohnheiten natürlich geläufiger und verständlicher sind? Muß denn Alles über einen und denselben Leisten geschlagen sein?“

Der Mann hatte die letztere Frage mit so eigenthümlicher Wehmuth betont, daß der große Tondichter seine Hand ergriff und sie herzlich drückte. „Sie haben mir,“ sagte er, „eine schöne Stunde bereitet und ich kann Ihnen wohl am Besten durch die Erklärung danken, daß es der Enkel Moses Mendelssohn’s ist, zu dem Sie gesprochen haben. Kommen Sie morgen zu mir.“ Hiermit übergab er dem Knaben seine Karte und war schnell in den Windungen der Anlagen verschwunden.

Als der Greis mit seinem Knaben am andern Tage in der Wohnung Mendelssohn’s erschien, breitete er mit thränenfeuchtem Auge und feierlicher Geberde, ein hebräisches Gebet murmelnd, seine Hände gegen den Meister aus und empfing dann von diesem Briefe, welche ihm selber eine beträchtliche Aufhülfe, dem Knaben aber auf Jahre hinaus in Berlin eine gute Erziehung nebst ausreichendem Unterhalte sicherten.

Dieser Knabe ist freilich kein Reformator der russischen Juden, sondern ein hochgebildeter, durch seine aufopfernde Menschenfreundlichkeit sowohl, als durch geistvolle schriftstellerische Leistungen ausgezeichneter Arzt geworden, der in der preußischen Stadt, wo er seit Jahren wirkt, sich einer weit verbreiteten Praxis und eines hohen Ansehens erfreut. Der zeitgemäßen Reform des mittelalterlichen Judenthums, und namentlich der Aufklärung seiner russischen Brüder wendet er aber, im Sinne seines Vorfahren, noch immer eine warme Aufmerksamkeit zu, wie er auch alljährlich, wenn das trauliche Fest der Laubhütten wiederkehrt, alle seine Lieben zu heiterem Mahle um sich versammelt und mit inniger Dankbarkeit der wunderbaren Schicksalswendung gedenkt, welche einst für ihn an diesem Abend aus dem altjüdischen Festsegen des längst zu seinen Vätern Heimgegangenen Großvaters entsprossen ist.




Als ich vor einiger Zeit auf dem Tische einer befreundeten Familie das nunmehr hier beifolgend mitgetheilte Bild Oppenheim’s fand, wurde ich durch eine unwillkürliche Ideenverbindung an die vorstehende Geschichte erinnert, welche von der Dame, der sie Mendelssohn erzählt hatte, niedergeschrieben und seit Jahren in meinen Besitz gekommen ist. Was hier und da im Ausdrucke und der Abrundung der einzelnen Wendungen der Hand der Erzählerin angehört, kann füglich dahingestellt bleiben. Dem Geiste sowohl als den Thatsachen nach ist der Vorgang keineswegs erdichtet, und kann wohl als Einleitung zu einer Erklärung altjüdischer Gebräuche und Feste dienen, die eben jetzt schon mannigfach ihr früheres Gepräge, die Festigkeit ihres Bestandes verloren haben und in einer Krisis, einem Uebergange zu neuer, dem Bewußtsein des heutigen Geschlechtes mehr angemessener Gestaltung begriffen sind.

Zu diesen Festen gehört auch das sogenannte Laubhüttenfest, bekanntlich eines der altbiblischen, schon vom mosaischen Gesetze (3. Buch Moses 23, 33–44) angeordneten Hauptfeste der Juden, das noch jetzt in allen jüdischen Gemeinden mit festlichen Abend- und Vormittagsgottesdiensten gefeiert wird. Ein Rest eigenthümlichen poetischen Schimmers, der von jenen uralten Tagen her dieses von sinnigen Gebräuchen durchwobene Fest umgeben hatte, ist ihm in allem Wandel der Zeiten und Anschauungen auch heut’ noch verblieben und in manchen Gegenden haben wir es von der christlichen Bevölkerung das „grüne Fest“ der Juden nennen hören. Ursprünglich in Palästina war es ein großes Nationalfest, das ganze Volk strömte aus allen Städten und Dörfern des Landes nach Jerusalem, das sich, zur Erinnerung des einstmaligen Zeltlebens Israels auf seinem Wüstenzuge, in ein einziges Lager frisch grünender Hütten verwandelte. Diese Bedeutung ist nach der Auflösung des jüdischen Staates allmählich hinter anderen, mehr im Familien- und Gemeindeleben wurzelnden, mit dem Laufe des Jahres und der Jahreszeit zusammenhängenden Deutungen zurückgetreten.

Das Laubhüttenfest fällt in jenen Monat des jüdischen Kalenderjahrs, der sich z. B. dieses Mal vom 17. September bis zum 17. October erstreckt und als ein eigentlicher Festmonat im Jahreslaufe der Juden bezeichnet werden muß. Die ersten zehn Tage dieses Monats heißen die zehn Bußtage. Sie beginnen mit dem Neujahrsfest und schließen mit dem höchsten und heiligsten aller jüdischen Feiertage, dem sogenannten Versöhnungsfeste, hebräisch Jom Kippur, in christlichen Volkskreisen „die lange Nacht“ genannt. Ist diese Zeit ernster Betrachtungen und Gemüthsbewegungen mit den wehklagenden Melodien ihrer Buß- und Bittgesänge, mit ihren strengen Fasten und feierlichen Versammlungen, ihren Sterbekleidern und Erinnerungen an menschliche Vergänglichkeit vorüber – es ist in der That eine Zeit tief ernster Sammlung, eine Zeit der Versöhnung und Erhebung für jedes der alten Sitte noch nicht abhold gewordene jüdische Haus – so tritt der Familienvater an einem der nächsten Tage in seinen Hof oder Garten, oder, wenn er Miether ist, auf das zu diesem Zwecke ausbedungene Fleckchen Erde und beginnt mit seinen dabei voller Freude behülflichen Kindern ein eigenthümliches Geschäft. Es werden Pfähle in die Erde gerammt, Bretter herbeigeholt, Nägel eingeschlagen und die Arbeiten des Hämmerns und Zimmerns, Fügens und Bauens so lange fortgesetzt, bis sich ein zierliches und lustiges, oben mit Tannenreisig oder anderen grünen Zweigen gedecktes Häuschen erhebt, das nun, je nach dem Wohlstande oder dem Geschmacke des Besitzers, innerlich mit aller Sorgfalt ausgeputzt, oft sogar tapeziert, mit Tisch und Stühlen versehen, mit bezüglichen hebräischen Bibelsprüchen, bunten Lampen und Papierguirlanden, vergoldeten Aepfeln und Nüssen und besonders mit jenen Resten von farbenreichen Herbstblumen geschmückt wird, die mitten in aller Freude so ernsthaft an die schwindende Sommerlust zu mahnen vermögen. Dieses in der That meistens sehr anmuthig aussehende, nach Feld und Wald duftende Häuschen, die stolze Freude der jüdischen Kinder, ist die aus dem alten Palästina stammende Laubhütte, in welche nun die Familie während der bevorstehenden Feiertage alle ihre Mahlzeilen und die damit verbundenen häuslichen Festceremonien verlegen wird.

Das Laubhüttenfest beginnt am fünften Abend nach dem Ausgange des Versöhnungstages und dauert neun volle Tage, von denen die zwei ersten und letzten sogenannte heilige Feste, die fünf mittleren nur Halbfeiertage sind. Wenn namentlich am ersten Abend die Familie nach beendigtem Gottesdienste aus der Synagoge heimkehrt und das noch frische grüne Häuschen von Hellem Kerzen- und Lampenlichte beleuchtet ist, wenn der Hausvater den dreifachen Segen über den Wein, über das Fest und über die Hütte spricht und die Hausgenossenschaft sich in festlicher Kleidung zum Mahle um den Tisch gruppirt, gewährt das an sich einfache Ganze wirklich einen so charakteristischen Anblick glücklichen Friedens und traulicher Heimlichkeit, wie er von Meister Oppenheim, dem berühmten Genremaler des altjüdischen Familienlebens, in unserem Bilde so vortrefflich aufgefaßt und in treuer, wahrhaft künstlerischer Weise wiedergegeben ist. In größeren wie kleineren Städten ist denn auch früher herkömmlich an diesem Abend die ganze christliche Bevölkerung auf den Beinen gewesen, um die Laubhütten zu sehen. Ja, selbst die Kinder königlicher und fürstlicher Familien wurden zu diesem Zwecke mit ihren Hofmeistern in die Häuser vornehmer Juden geschickt, wo ihnen aus goldenen Bechern der Wein kredenzt und von silbernen Schüsseln die Leckerbissen der jüdischen Tafel gereicht wurden. Denn wenn die religiösen Gebräuche verrichtet und die Tischgebete gesprochen sind, pflegt man das Verweilen in der Laubhütte durch weltliche Munterkeit zu würzen, und oft tönt noch in später Stunde Gesang, heiteres Gespräch und Gelächter heller Mädchenstimmen aus den erleuchteten Räumen in die Nacht hinaus.

Außer der Laubhütte kennt dieses Fest noch einen anderen gleichfalls schon im mosaischen Gesetze angeordneten, also ebenso uralten Brauch, den Feststrauß, der aus hohen, am unteren Ende mit Myrthe und Bachweide umwundenen Palmenzweigen besteht und zu dem auch ein sogenannter Paradiesapfel gehört, „Frucht vom Baume Hadar“, wie ihn die Bibel nennt. Dieser Strauß wird, trotz des hohen Preises, noch heute von jedem dem Gesetze ergebenen Juden angeschafft, er gehört am Laubhüttenfeste zu den Erfordernissen eines ehrbaren Hauses und christliche wie jüdische [632] Händler machen alljährlich in den verschiedenen europäischen Handelsstädten ein gewinnbringendes Geschäft namentlich mit den Paradiesäpfeln. Auch beim festlichen Gottesdienste in der Synagoge wird der Strauß benutzt, er wird in Processionen umhergetragen und der Vorbeter schüttelt und wendet ihn beim Absingen verschiedener Psalmen in eigenthümlichen Schwingungen nach den verschiedenen Weltgegenden. Eine Erklärung haben verschiedene Rabbiner versucht und unter Anderem wegen der Zusammenstellung so verschiedenartiger Producte ein Symbol der Eintracht und Verträglichkeit oder der Gleichheit vor Gott darin gesehen. Unserer Auffassung und dem ziemlich klaren Wortlaute der biblischen Vorschrift nach, hat die Anordnung keinen anderen Zweck gehabt, als eine Verherrlichung des heiteren Festes durch grünen Schmuck.

Fragen wir nun nach der Bedeutung, welche ein solches Fest noch im Bewußtsein der heutigen jüdischen Religionsgenossen hat, so glauben wir nicht mit Unrecht behauptet zu haben, daß es noch nicht allen harmlosen Glanz und Schimmer seiner früheren Poesie verloren hat. Es wird noch gefeiert als ein großes Erntedankfest und zugleich als das Schlußfest des sommerlichen Festcyclus. Denn die fünf Hauptfeste der Juden fallen sämmtlich in den Sommer und vom Laubhüttenfeste, das seinen Schmuck schon den Blumen des Spätherbstes entnimmt, bis zum Passah- oder Osterfest, auf dessen in der Gartenlaube bereits früher geschilderten Seder-Tisch schon die ersten grünen Kräuter des Frühlings erscheinen, giebt es während des ganzen Winters im Judenthum keinen eigentlichen Feiertag. Das Fest der Laubhütten beschließt also eine schöne, erhebungsvolle Zeit und steht zugleich mit seinen schon kurzen Tagen und langen Nächten dicht an der Pforte der düsteren und unheimlichen Tage; es verbindet sich also mit aller der Bangigkeit und den ernsten Stimmungen, von denen die Seele der Menschen beim Herannahen des Winters ergriffen zu werden pflegt. Darum ist es nicht blos ein heiteres, sondern auch ein wehmuthvolles Fest und darum wird namentlich sein allerletzter Tag mit ganz besonderer Feierlichkeit begangen. Er heißt der Tag der Gesetzesfreude und wird in den Synagogen durch processionsartiges Umhertragen der in der heiligen Lade befindlichen Thorahrollen (fünf Bücher Moses), in den Häusern durch Jubel und Tanz, durch fröhliche Mahlzeiten und ausgelassene Lustigkeit gefeiert. Auch ein Fest der Kinder ist dieser Tag. Mit bunten Fähnchen, auf denen brennende Lichter stecken, erscheinen sie in der Synagoge und schreiten dem Umzuge voran.

A. Fr.