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Aus den Tagen der Wassersnoth

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: F. H.
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Titel: Aus den Tagen der Wassersnoth.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 285 und 288
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[285]
Aus den Tagen der Wassersnoth.
(Mit Illustrationen Seite 288 und 289.)

Trotz der Bereitwilligkeit, mit welcher bereits aus allen Theilen Deutschlands Gaben für die Ueberschwemmten gespendet wurden, ist es doch in Anbetracht der Größe der Noth, die von aller Welt als eine der furchtbarsten ihrer Art erkannt ist, dringend zu wünschen, daß die Opferfreude nicht erlahme. Die Folgen einer Ueberschwemmung werden mitunter dort unterschätzt, wo die große Masse der Bevölkerung dieselben nicht aus eigener Erfahrung auf dem eigenen Boden kennen lernen kann. Im größten Theil von Mitteldeutschland steht man mit seinen Gewässern aus friedlicherem Fuß, sowohl mit den lustigen Gebirgsbächen wie mit den stattlicheren Flüssen, wie der Main und seinesgleichen. Man kennt ihren Wasserübermuth zur Schneeschmelze und weiß sich selbst bei einer Ueberschwemmung gegen allzugroße Schädigung zu rüsten, und nur ein Naturereigniß, das außer aller Berechnung steht, kann dort jedes Wasser zur vernichtenden Macht erheben, ein Wolkenbruch.

Aber was ist ein Wolkenbruch Mitteldeutschlands gegen einen Damm- oder Deichbruch an den norddeutscheu See- und Stromgestaden? – Wenn man aus dem süddeutschen Gebirg einen Landmann, dessen Acker dort vor Lawinen nicht sicher wäre, in jene norddeutsche Ebene wegführte, in die prächtigen Gehöfte, die dem Bauer ins Herz lachen, und er gewahrte, daß der nahe große Strom seine Wogen höher dahinführt als die weiten Fluren an seinen beiden Ufern, er würde keine ruhige Nacht hier finden und unter seinen Lawinen sich sicherer fühlen. An diesen Ufern aber lebt ein wehrhaft Geschlecht, das den Kampf mit See und Strom seit Jahrhunderten führt und zeitweilig den Sieg davongetragen zu haben scheint. Der Strom ist der Stolz und zugleich der Wohlthäter des Landes, das ihm sein festes Bett bereitet hat, und die herrliche Blüthe der Gefilde ist der Beweis dafür, daß der Fleiß hier mit Ruhe und Sicherheit arbeitet. Wenn auch die Klage nie aus der Welt geht, so steht doch fest, daß in diesen weiten Landen an der Elbe, Oder und Weichsel Tausende von Familien im Schoß des Friedens glücklich leben; blühende Städte pflegen alle Zweige der Industrie und Künste, und Hunderte von freundlichen Dörfern und einzelnen Höfen sind Mustersitze der Landwirtschaft und ländlicher Gewerbe. Man muß an Tells Lob gedenken, wenn man von den hohen Ufern in die Ebenen blickt.

„Dort wächst das Korn in langen schönen Auen,
Und wie ein Garten ist das Land zu schauen.“

Und gegen diesen Garten mit all seinen Samen und Früchten in Böden und Scheunen, seinen Thieren in Ställen und Höfen, seinen Menschen vom Kind bis zum Greis in Häusern und Hütten zieht alljährlich ein unerbittlicher Feind herein: die Hochfluth der Schneeschmelze, die den Weg zum Meere sucht. Meilenweit sehen derselben die Bewohner der weiten Gebiete mit aller Seelenruhe entgegen, sie vertrauen der wohlgepflegten Uferbefestigung; an anderen Strecken baut die Vorsicht immer neu, und wieder an anderen liebt man ein leichtes Ueberrieseln der Felder und Wiesen vom Stromgang aus als eine Förderung der Bodenpflege. So erleben es die Hunderte von Städten und Ortschaften manch glückliches Jahr. Für den Eisgang dieses Jahres aber mahnten die Naturgesetze an andere Vorsicht, und sie mahnten leider an vielen Orten zu spät oder vergeblich. Es ist ein furchtbares Ringen mit der Fluth um die Dämme geworden; alles was Hände hatte, eilte zur Rettung derselben herbei; Lasten von Sandsäcken wurden zur Stopfung der Dammlücken herangeschafft – während zur selben Zeit eine doppelte Flucht begann: in den Häusern von der unteren zur oberen Wohnungsabtheilung mit Familie und Thieren, Nahrungsmitteln und Geräthen, und im Freien nach höher gelegenen Ortstheilen. Und meist war die Flucht noch lange nicht beendet, ja oft noch nicht einmal begonnen worden, wenn der Bruch geschah, der das Fürchterliche mit allen Schrecknissen eines Wolkenbruchs einleitet und weite Strecken alles, auch hohe steinfeste Gebäude vor sich niederwerfend fortführt, bis die Eiswasserwogen nach allen Seiten sich ausbreiten und glätten und alles unter sich begraben, was wenige Stunden vorher noch wie ein Garten zu schauen war.

Und nun treten die Tausende von Nothbildern ins Leben, von denen jedes einzelne uns erschüttert und die in ihrem erschrecklichen Wechsel das Mitleid aller gebildeten Menschen erregen. Es wird zur Pflicht, den Lesern in diese entsetzliche Sammlung von Menschenelend einen Einblick zu eröffnen. Ist doch keine Kunst fähig, die Quelle dieses Stoffes je zu erschöpfen.

Unser Künstler führt uns nach den Ueberschwemmungsgebieten von der Niederelbe bis zur Weichsel. Von den drei Landschaftsbildern des Mittelraums unserer Illustration zeigt uns das oberste das vielgennante Unglücksdorf Darchau. Die Strecke des rechten Elblandes von Boitzenburg bis Schnackenburg kann man in zwei Ueberschwemmungsabtheilungen scheiden, deren eine von Boitzenbnrg bis Hitzacker reicht, während die andere von da bis Schnackenburg sich erstreckt und die großen Verwüstungsstätten Dömitz und Lenzen in sich faßt. Zur andern Strecke gehört als Hauptort die Kreisstadt Neuhaus und der große Feldaukessel, in welchem allein nicht weniger als 79 Büdner-, 11 Erbpacht- und 2 Gutshöfe durchschnittlich 3 Meter hoch von der Fluth bedeckt sind. Dort war die Noth für die Menschen um so größer, weil die Höfe weit von einander ab liegen, so daß die Bewohner sich nicht gegenseitig helfen konnten. Aehnlich in Darchau, wo nach amtlicher Bestätigung fast sämmtliche Gebäude zerstört und 8 Menschen ums Leben gekommen sind. Auf das größte der noch stehenden Häuser unseres Bildes möchten wir als auf dasjenige hinweisen, in welchem allein 25 Kühe und 3 Pferde ertrunken sind.

Das zweite Landschaftsbild stellt das nordwestliche Ueberschwemmungsgebiet von Elbing vor, und zwar in der Ausdehnung bis zum Dorfe Zeyer.

Das dritte Bild zeigt uns einige Häuser von Hitzacker, das, auf dem linken Elbufer, ebenfalls einen Dammbruch zu erleiden hatte und wo viele Häuser durch das Eis eingedrückt worden sind.

Unsere oberen Seitenbilder zur Rechten, eine überschwemmte Vorstadt und Pioniere beim Abbruch einer zerstörten Chausseebrücke, gehören ebenfalls dem Elbgebiete an, während die unterste Darstellung uns in die Nähe von Marienburg führt; in raschem Geistesflug überblicken wir hier Tausende derselben Jammererlebnisse. Wir lassen uns von einem Ingenieuroffizier das Folgende selbst erzählen. Er schreibt:

„Ich ließ mich in Marienburg in der Nacht am Montag, bevor noch das sofort requirirte Pionierbataillon eintraf, schnell von der Regierung auf der Karte über die Situation aufklären und konnte von dort aus am Morgen die Kompagnien nach den verschiedenen Seiten dirigiren. Ich für meine Person, mit einem Unteroffizier und drei Mann im Ponton, fuhr nun über die Telegraphendrähte der Eisenbahn im Wasser nach Altfelde und fand jammervolle Zustände; eine Frau schrie aus dem Schornsteine heraus (dies unser Bild) nach ihrem Kinde, das Wasser drang nach; wir rissen ein Loch in das Dach und fanden das Kind in der Balkenlage noch lebend; in Fischau sahen wir eine Frau todt im Bette liegen noch im Wasser; an dem Tage habe ich mit meinen Leuten 16 Familien mit 27 Kindern gerettet und nach einer hochgelegenen Zuckerfabrik gefahren und dort untergebracht.“

Welchen Gefahren aber diese tapferen Männer ausgesetzt waren, darüber giebt uns der fernere Verlauf des obigen Berichtes wahrhaft haarsträubende Kunde. Der Ingenieuroffizier schildert uns die Scene, die wir im oberen Seitenbilde links dargestellt sehen:

„Ueber die unabsehbare See weiter fahrend, sah ich, wie im Dorfe Sommerau eine Nothflagge flatterte und eine Gestalt winkte: der Eisgang nahm dort gerade seinen Strom; ich ging mit meinem Ponton hinein zum Retten, wir kämpften wie die Löwen gegen die Eisplatten, die sich gegen das schwache Ponton drückten, ich gerieth immer tiefer hinein, der Strom riß unser Ponton fort und in Zeit von 10 Minuten war ich vereist, von allen Seiten bis an den Horizont nur Eisschollen sehend. Wir wurden eingeklemmt und haben 11 Stunden im Eise gelegen. Mit nackten Füßen aus den Eistafeln balancirend, versuchte ich mit den Leuten das Ponton zu schieben, bis wir alle so entkräftet waren, daß wir uns auf Gnade und Ungnade auf den Hungertod gefaßt machten. Es war Abend geworden und ich wollte noch einmal Rettung versuchen. Wir nahmen, unser Fünf, jeder ein Brett, ließen Ponton und Gepäck zurück, und uns platt auf den Brettern vorschiebend über die hochkantigen Eisschollen, kamen wir in 2 Stunden ans freie Wasser, wo der Stromstrich war. Nach vielem Rufen fand uns ein verirrtes Ponton, und wir hatten das nackte Leben gerettet. Wir logiren bei den Leuten auf den Böden mit dem geretteten Vieh zusammen; gestern habe ich mir einen Kamm und ein Stück Seife in Elbing, das zum Theil auch unter Wasser steht, kaufen können.“

Das untere Bild zur Linken führt uns nach Posen, das vor 12 Jahren seine letzte große Warthe-Ueberschwemmung zu erleiden hatte. Wie diesmal überall überstieg auch hier die Warthe alle früheren Höhenmaße bedeutend und setzte nicht nur die Vorstädte Schrodka, Städtchen und Wallischei ganz, sondern sogar die Unterstadt noch zum Theil unter Wasser. Als wenn es so sein müsse, hatte auch hier der ärmste Theil der Bevölkerung das Schwerste zu ertragen; aber auch die Wohlhabendsten mußten mit tragen lernen, als plötzlich die überschwemmte Gasanstalt ihr Licht ausgehen lassen mußte und zum unheimlichen Wasser in den Straßen und Gassen nun auch noch ägyptische Finsterniß trat. Allein in der Stadt Posen sind mehr als 7000 Menschen obdachlos geworden; wie groß wird nun erst die Arbeitslosigkeit infolge so vieler Zerstörungen von industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben werden! Das ist ein Zukunftsbild, vor dem vor der Hand noch jedes Auge zurückschaudert.

Unsere letzte Illustration führt uns zu unserem ersten Bildchen, nach Darchau zurück; sie stellt den Untergang der acht Menschen vor, der dort erwähnt ist und wie folgt erzählt wird: Nach der ersten Nacht nach dem Dammbruch saßen in Darchau auf den Dächern und Böden der Häuser noch viele Menschen und schrieen nach Rettung. „Da kommt ein Boot in Sicht, es trägt die Retter, welche voll Todesverachtung das eigene Leben für die unglücklichen Brüder in die Schanze schlagen! Schon froh des Sieges, den sie über das wilde Element errungen haben, werden sie von der furchtbaren Strömung erfaßt; sie sehen den Tod vor Augen und mit übermenschlicher Gewalt ergreifen sie die Ruder. Ein Kampf auf Leben und Tod ist’s, den sie kämpfen, doch die Angst des Todes verleiht ihnen gigantische Kraft! Fast scheint’s, als sollten sie siegen. Da, im entscheidenden Augenblicke, brechen die Ruder; führerlos wird der Kahn von der Strömung erfaßt, er schlägt um und Retter und Errettete werden von den Wellen begraben.“

Wir haben hier zu wiederholen, was wir schon in unserem Aufruf für die Unglücksbrüder unseres wackeren norddeutschen Volkes hervorgehoben: wir können unsere Hochachtung und Verehrung für die heldenherzigen Männer vom Kriegs- und Bürgerstand, die seit den Tagen der höchsten Gefahr bis heute Leben und Gesundheit als Retter dransetzten, nicht laut genug aussprechen. Wie die Namen der Helden des Krieges verdienen auch ihre Namen auf Ehrentafeln von Erz den Nachkommen erhalten zu werden!

F. H.     

[288]

Im Kampf gegen die Eisschollen. Ansicht von Darchau. Überschwemmte Vorstadt.
Straßenbild von Posen. Das nordwestliche Überschwemmungsgebiet von Elbing. Pioniere beim Abbruch einer zerstörten Brücke.
Dem Untergang geweiht. Hitzacker. Rettungsarbeit bei Marienburg.

Aus den Tagen der Wassersnoth.
Originalzeichnung von O. Gerlach.