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Aus den Erinnerungen eines russischen Publicisten

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Textdaten
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Autor: Friedrich Meyer von Waldeck
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Titel: Aus den Erinnerungen eines russischen Publicisten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47, 51, S. 789–791, 856–858
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[789]
Aus den Erinnerungen eines russischen Publicisten.
Von Friedrich Meyer von Waldeck.


Die folgenden Schilderungen einzelner Momente aus einem geistig vielbewegten Leben im fremden Lande sind zu eng mit der Persönlichkeit des Erzählers verwachsen, als daß er es umgehen könnte, sich in wenigen Worten dem freundlichen Leser vorzustellen. Er verzichtet zu dem Zwecke von vornherein auf die objective dritte Person und beginnt sofort mit dem „Setzen“ des subjectiven Fichte’schen „Ich“.

Neunundzwanzig Jahre, in ununterbrochener Fortdauer, habe ich in Russland gelebt; zweiundzwanzig Jahre war ich Chef-Redacteur eines der größeren politischen Blätter St. Petersburgs und einundzwanzig Jahre Lehrer an der dortigen Universität. Dieser Zeitraum umfaßt die interessanteste Entwickelungsperiode Russlands seit Peter dem Großen und Katharina der Zweiten. Er beginnt mit dem Höhepunkte der Macht und des Einflusses, die unter Kaiser Nikolai dem Ersten seinem Reiche oder, was dasselbe sagen will, seiner Person zugesprochen wurden; er enthält den Krimkrieg, den jähen Sturz von eingebildeter Höhe, die Periode der Niederlagen und Enttäuschungen, den unerwarteten Tod des stolzen Selbstherrschers und die Thronbesteigung Alexander’s des Zweiten, den sein Volk den Befreier nennt. Er begreift in sich die großen Umwälzungen, welche dieser Reformator auf dem Throne durch die consequente und stetige Ausstrahlung der Lichtquelle seines liberalen Geistes in der Organisation des Landes hervorgerufen, die Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft, die Neuschaffung der Gerichte auf der Basis der Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und der Geschworenen, die Schöpfung der Landesinstitutionen, die Entfesselung der Presse etc. Er umschließt den polnischen Aufstand mit seinen heilsamen Folgen für Polen und seiner schädlichen Einwirkung auf Russland selbst, die Geburt und Entwickelung der sogenannten nationalen Partei mit ihrem unheilvollen Einflusse nach innen und außen, die Kriege von 1866, 1870 und 1871, die Geschichte Russlands bis auf den heutigen Tag.

Die beiden Wirkungskreise, welche mir während dieses bedeutsamen Zeitraumes in der ersten Hauptstadt des Reiches angewiesen waren, stellten mich so recht unmittelbar in den Mittelpunkt der geistigen und politischen Entwickelung, und nicht selten wurde aus der Rolle des Beobachters und Berichterstatters die Position des Betheiligten, des Rathgebenden, des Kämpfers.

Wenn ich dem Leser „Erinnerungen“ aus meinem Leben und Wirken in Russland mittheile, müssen sie vor dem Meisten, was ihm über jenes Land gebotet wird, unstreitig den Vorzug haben, daß der Autor Land, Leute und Sprache Jahrzehnte hindurch in eigener Anschauung erforschte, daß er erlebte, was er erzählt, daß er nirgends aus fremden Quellen zu schöpfen genöthigt ist. Nach ehrlichen deutschen Begriffen nimmt er keinerlei Stellung zu den Parteien ein. Hat er auch zur Zeit den Kampf für diese und jene gerechte Sache gegenüber Mißwollen und Unverstand nicht von sich abweisen dürfen, gaben ihm auch seine Mitkämpfer und Streitgenossen unter Russen und Deutschen das Zeugniß, daß er willig kein Haar breit des guten Rechtes preisgegeben hat, so liegen diese Zeiten doch bereits, von ruhigem Urtheil geklärt, weit hinter ihm, und er verfolgt mit der Veröffentlichung dieser anspruchslosen Blätter keinen anderen Zweck, als der Wahrheit zu dienen und zu einer richtigen Auffassung geschichtlicher Momente beizutragen.

Vor allen Dingen aber bitte ich dringend, die Erwartung abzuweisen, als wolle ich in Folgendem etwa die Geschichte Russlands in den letzten Decennien schreiben, große Staatsactionen kritisch beleuchten oder bedeutsame historische Phasen in neuem Lichte darstellen. Von solchen Ansprüchen, wenn er sie hegte, müßte sich der freundliche Leser gar bedeutend herabstimmen. In ihren großen unwandelbaren Umrissen gehören die politischen Ereignisse, die neueste innere Reform Russlands und seine Stellung zum westlichen Europa bereits der Geschichte an, und es ist nicht meine Aufgabe, Bekanntes zu wiederholen oder in besonderer Art zusammenzufassen. Aber nicht nur die großen Contouren bieten dem Beobachter und Forscher unzweifelhaftes Interesse, auch die kleinen und zarten Details wollen geschildert sein und bilden die nothwendige Ergänzung und Vervollständigung des Bildes wichtiger Ereignisse und Umwälzungen. Dergleichen kleine Detailschilderungen, wie sie sich aus den selbsteigensten Erlebnissen des Verfassers herausgestalten, beabsichigt derselbe in den folgenden Blättern niederzulegen. „Erinnerungen“ hat er die aphoristischen Skizzen genannt und jeder derselben eine besondere Ueberschrift gegeben, damit sie nicht für etwas Anderes genommen werden, als sie vorstellen sollen, zusammenhangslose, abgerissene Darstellungen, wie sie, vom Zufall hervorgelockt, im Gedächtniß des Verfassers auftauchten.




Der Tod des Kaisers Nikolai des Ersten.

Der 17. Februar 1855 war ein schöner, klarer nordischer Wintertag. Es war entsetzlich kalt. Die Sonne, welche sich um diese Zeit nur wenige Stunden über den Horizont erhebt und kaum zu wärmen scheint, deren matte Strahlen aber von einer blendend weißen Schneedecke in fast unerträglicher Weise zurückgeworfen werden, war schon längst im Südwesten unter der Eisfläche des finnischen Meerbusens verschwunden. Pfeilschnell jagten auf den dämmerigen Straßen und der weiten hellen Fläche der Newa die kleinen, einspännigen nordischen Schlitten mit ihren flinken unermüdlichen Steppenpferden, unter deren Hufen der hartgefrorene Schnee pfiff und knisterte. Das Sternbild des großen Bären funkelte bereits in seiner ganzen Pracht am tiefdunkeln Himmel, und doch war es noch in den frühen Nachmittagsstunden. In meinem Cabinet hatten sich mehrere Freunde getroffen; man saß um den dampfenden Mokka, dessen belebender Duft sich mit den feinen aromatischen Rauchwölkchen des türkischen Tabaks der Papyros angenehm mischte.

Die Unterhaltung beschäftigte sich zunächst mit dem anscheinend sehr unbedeutenden Unwohlsein des Kaisers. Er hatte die Grippe und war, wie das bei jener ungefährlichen und langweiligen Krankheit gewöhnlich ist, von einem heftigen Husten gequält. Vor wenigen Tagen hatte der Zar noch einer Parade beigewohnt, obwohl ihn freilich einer seiner Leibärzte, wenn ich nicht irre Dr. Karell, auf seinen leidenden Zustand aufmerksam gemacht und geäußert haben sollte: „Unter solchen Verhältnissen, Majestät, würde ich einem gemeinen Soldaten nicht gestatten, Dienst zu thun,“ worauf Kaiser Nikolai erwiderte: „Sie haben Ihre Schuldigkeit gethan; ich kenne die meinige.“

Im Laufe des Gesprächs wurde natürlich nicht unbeachtet gelassen, daß die verhängnißvollen Ereignisse des Krimkriegs von tiefer und nachhaltiger Wirkung auch auf die Riesenconstitution des Kaisers sein müßten, um so mehr, da er äußerlich die gewohnte majestätische Ruhe und Kälte unabänderlich bewahrte. Zu irgend welchen Besorgnissen schien der Gesundheitszustand des Monarchen keinerlei Anlaß zu bieten. So wendete sich denn die [790] Unterhaltung bald zu den neuesten Ereignissen auf dem Kriegsschauplatze und namentlich zu der heldenmüthigen Vertheidigung von Ssewastopol.

Mit lebhaftem Interesse wurde einer Prophezeiung gedacht, die einer der Anwesenden, ein bekannter Irrenarzt, beim Beginne des Krieges ausgesprochen hatte. Obgleich für gewöhnlich auf die Beobachtung von Geisteskranken angewiesen, war er doch auch für gesunde, normal functionirende, Capacitäten ein scharfer Kritiker. Wir saßen damals, wie heute, traulich beisammen und hatten von dem bevorstehenden Kriege und seinen möglichen Wechselfällen gesprochen.

„Was auch kommen möge,“ sagte damals unser Doctor, „ich habe einen Freund und Landsmann, einen Ingenieur-Capitain, dessen großartige Begabung und enormes Wissen ihn im bevorstehenden Kampfe zu einer der ersten militärischen Größen Russlands machen werden.“

Er hatte damals den Namen eines Mannes genannt, der nur wenigen von uns, und diesen nur dadurch bekannt war, daß der reiche baronisirte darmstädtische Consul in St. Petersburg dem mittellosen Capitain wegen seiner unbedeutenden Stellung und Herkunft anfänglich die Hand seiner Tochter verweigert hatte, bis die Liebe den Widerstand des harten Vaters überwand.

Jetzt, wo im Verlaufe weniger Monate der damalige schlichte Ingenieurhauptmann sich in den weltberühmten General Todtleben, den genialen und heldenmüthigen Leiter der Vertheidigung von Ssewastopol, die Seele jenes denkwürdigen Festungskrieges, verwandelt hatte, jetzt gedachten wir der Prophezeiung des Freundes, und sein heller Blick in die Zukunft, sein klares Urtheil über die Begabung seines Landsmannes fanden die wärmste Anerkennung.

Es klingelte draußen. Man achtete nicht darauf. Der Diener trat ein, überreichte mir ein versiegeltes Couvert nebst einem Buche und sagte mit gewissem Nachdruck:

„Ein Kammerlakai des kaiserlichen Hofes hat dieses Schreiben gebracht und bittet den Empfang zu bescheinigen.“

Mechanisch griff ich zur Feder und quittirte in dem vorgehaltenen Buche; mechanisch brach ich das Siegel und nahm das Papier aus seiner Hülle. Die Freunde ließen sich in ihrem Gespräche nicht stören; Schreiben von dieser oder jener Staatsbehörde sind in dem Cabinet eines Chefredacteurs etwas Alltägliches.

Ich sah in das Schreiben, und es überlief mich kalt. Es war ein officieller Bericht über die Krankheit des Herrschers; er lautete wie folgt:

„Seine Majestät der Kaiser, an der Grippe erkrankt, hat seit dem zehnten Februar Fieberanfälle gehabt, wobei eine gichtische Affection bemerkbar war. Gestern war das Fieber heftig unter Mitleidenschaft des unteren rechten Lungenflügels, die heutige Nacht schlaflos. Am Morgen erscheint das Fieber etwas gemäßigt; der Auswurf ist unbehindert.

     Den 17. Februar 1855.

M. Mandt.     Enochint.     Dr. Karell.“     

Eine Weile hatte ich schweigend dagestanden. Mein Aussehen mußte etwas Besonderes verkündigen; die Freunde sahen mich stumm und erwartungsvoll an.

„Kaiser Nikolai ist ein todter Mann,“ sagte ich und ließ das Bulletin im Kreise herumgehen. Der Inhalt des Berichtes schien das Aeußerste, das ich voraussah, nicht zu rechtfertigen. Man glaubte in den Ausdrücken der Aerzte die Besorgniß irgend einer Gefahr für das Leben des Monarchen nicht wahrnehmen zu können.

„Kaiser Nikolai ist ein todter Mann,“ wiederholte ich. „Er hat niemals gestattet, daß bei Krankheiten der kaiserlichen Familie Bulletins veröffentlicht wurden. Wenn also über seinen eigenen Gesundheitszustand ein amtlicher Bericht für die Oeffentlichkeit ausgegeben wird, so beweist das auf das Deutlichste, daß er selbst nicht mehr disponirt und sein Zustand ein durchaus hoffnungsloser ist.“

Es hatte Niemand gegen mein Raisonnement etwas einzuwenden. Einer nach dem Anderen entfernte sich geräuschlos, und ich sah mich bald mit meinen sorgenschweren Gedanken allein.

Vor Mitternacht erhielt ich das zweite Bulletin. Das Fieber hatte gegen Abend zugenommen, der Auswurf aus dem unteren Theile des angegriffenen rechten Lungenflügels war erschwert.

Der Morgen des 18. Februar, für Russland ein schicksalsschwerer Tag, brach an. Die helle Februarsonne umkleidete die Blumen der gefrorenen Fensterscheiben mit den Farben des Regenbogens; die nordische Residenz war angethan mit der ganzen blendenden Schönheit ihres Wintergewandes. Die große Masse ging sorglos den gewohnten Geschäften nach. Tauben und Sperlinge in zahllosen Schaaren suchten ihre spärliche Nahrung auf den bevölkerten Straßen; es war, als ob Natur und Menschen über die Geschlechter der Gewaltigen auf Erden ausrufen wollten:

     „ … sie kommen und gehen;
Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen.“

Es erschien ein drittes Bulletin, welches um vier Uhr Morgens abgefaßt war, in welchem die erlöschende Thätigkeit der Lunge des hohen Kranken angedeutet und der Zustand des Kaisers bereits offen als sehr gefährlich bezeichnet wurde. Der vierte und letzte Krankenbericht war um neun Uhr Morgens unterzeichnet; er lautete: „Heute Morgen um drei ein halb Uhr haben Seine Majestät der Kaiser gebeichtet und das heilige Abendmahl genommen, bei voller Klarheit des Geistes. Der drohende Lähmungszustand in den Lungen dauert noch fort und damit die Gefahr, in welcher sich Seine Majestät befindet.“

Die Bulletins wurden als Extrablätter gedruckt. Stündlich erwartete die Presse, erwartete die Bevölkerung Petersburgs neue Nachrichten. Wer zum Hofe in näherer Beziehung stand, wenn er auch selbst nicht mehr wußte, als jeder Andere, zuckte mit geheimnißvollem Schweigen bedeutsam die Achseln. Stunde um Stunde verrann – kein neuer Krankenbericht, nicht die kleinste Botschaft vom Hofe, und doch wußte alle Welt, daß es schlimm, sehr schlimm stand.

Die Sonne stand im Mittag, da verbreitete sich erst leise und vorsichtig auftretend, dann immer sicherer und offener die verhängnißvolle Kunde, die zuletzt der Nachbar dem Nachbar zuraunte: „Kaiser Nikolai ist todt.“

Es war Hochnachmittag. Die Sonne neigte sich stark zum Untergang; an der Wahrheit der historischen Thatsache konnte nicht mehr gezweifelt werden, und doch erschien kein Bulletin, keine Nachricht, nicht ein einziges officielles Wort über das große Ereigniß des Tages. Es war offenbar – der Schlag war unvorbereitet gekommen; man hatte bei Hofe den Kopf verloren und vergaß das Einfachste und Nothwendigste: die Stadt und das Reich von dem Vorgefallenen in Kenntniß zu setzen.

Es wurde Abend – es wurde Nacht; ich befand mich, wie alle meine Collegen, in der größten Verlegenheit. Der Kaiser war todt. Am anderen Tage eine Zeitung ohne das Gewand der Trauer, den bekannten schwarzen Rand, erscheinen zu lassen, wäre ein grober Verstoß gegen Herkommen und Sitte gewesen. Aber wie konnte man das Blatt mit dem üblichen Trauerrand erscheinen lassen, ohne daß es eine Silbe über das Ereigniß enthielt, welches zu diesem Zeichen der Trauer Veranlassung gegeben? Und doch fesselte uns das strengste Gebot, nicht die geringste Mittheilung über die Personen des erlauchten Kaiserhauses zu veröffentlichen, wenn dieselbe uns nicht officiell vom Minister des Hofes approbirt oder zugegangen war. Im gegenwärtiger Augenblick und bei dem Mangel an Fassung, welcher offenbar im Winterpalais waltete, den Minister des Hauses Seiner Majestät, Grafen Adlerberg, um die Druckerlaubniß für eine selbstverfaßte Todesnachricht zu ersuchen, wäre ein höchst lächerliches Unterfangen gewesen. Ich begab mich zu dem mir zunächst wohnenden und am nächsten stehenden Collegen, dem Chefredacteur der russischen „St. Petersburger Zeitung“, Staatsrath Otschkin. Wir berathschlagten über unsere Lage. Bald wurde von der einen, bald von der anderen Seite ein Ausweg vorgeschlagen, um immer wieder als unzureichend oder unausführbar verworfen zu werden. Endlich sah mein College Licht und rief mir, fast möchte ich sagen, freudig bewegt sein „Heureka!“ entgegen.

„Heute Nacht muß in der Druckerei des Senats das Thronbesteigungsmanifest des Kaisers Alexander des Zweiten gedruckt werden. Wir schicken einen Boten dorthin mit dem Auftrage, zehn Rubel für den ersten Abzug dieses Documents zu bieten und zu zahlen. Bis er zurückkehrt, lassen wir den Druck unserer Zeitungen anstehen und den Trauerrand vorbereiten. Bekommen wir das Manifest, so haben wir die officiellste Nachricht über den Tod des Kaisers Nikolai in unseren [791] Händen, können dieselbe veröffentlichen und unsere Blätter auf anständige Weise in schwarzer Umrahmung erscheinen lassen.“

So lautete der Plan des erfahrenen und gewiegten Amtsbruders. Ich mußte ihm den aufrichtigsten Beifall zollen, und wir trafen sofort alle Anordnungen zu seiner Ausführung.

Unsere Zeitungen wurden in derselben Officin gedruckt. Sie waren bis auf einen kleinen Raum der ersten Spalte fertiggestellt; die Setzer standen erwartungsvoll am Winkelhaken, die Drucker an der Maschine. Wir gingen, jeder in seinem Bureau, mit unruhigen Schritten auf und ab, und Alles wartete der Dinge, die da kommen sollten. Mitternacht war vorüber; die Zahl der genossenen Gläser Thee und der gerauchten Cigarren war gar nicht mehr zu berechnen. Bei dem kleinsten Geräusch aus dem Treppenflur zuckte ich auf und erwartete den Ton der Glocke zu hören. Sie erklang nicht; kein Mensch ließ sich sehen; die unerbittliche Zeit schritt unaufhaltsam weiter, und fast schien es nicht mehr möglich, die Zeitung für die Stunde der Ausgabe am anderen Morgen herzustellen.

Da endlich! – es ging schon stark auf drei Uhr – die Glocke klang. Ich öffnete selbst, und mit triumphirendem Lächeln hielt mir unser alter ausgedienter Soldat, der als Redactionsbote fungirte, das Thronbesteigungsmanifest entgegen. Sofort wurde mein erster Gehülfe geweckt; gemeinschaftlich unternahmen wir die schwierige und verantwortungsreiche Arbeit der Uebersetzung in’s Deutsche, und um vier Uhr war das Manuscript vollendet, gesetzt, corrigirt, und die Zeitung ging in die Presse.

Am anderen Morgen erschienen die russische und die deutsche St. Petersburger Zeitung mit dem Thronbesteigungsmanifest Alexander’s des Zweiten und schwarzem Rande; einige andere Blätter hatten den Trauerrand, enthielten aber nicht die geringste Mittheilung über das Hinscheiden der verstorbenen Majestät; der ganze Rest der übrigen trat ungenirt vor das Publicum ohne Nachricht und ohne Trauerrand.

Ueber das Ende des Kaisers Nikolai durchliefen in den nächsten Tagen verschiedenartige Gerüchte die erschrockene Residenz. Es hieß, der mächtige Selbstherrscher, gebrochen durch die furchtbare Erschütterung der sich rasch folgenden Niederlagen auf dem Schlachtfelde, habe die militärische Ehre Russlands nicht überleben wollen und sein erster Leibarzt, Geheimerath von Mandt, habe der Forderung des Monarchen nachgegeben und ihm Gift gereicht. Andere Versionen besagten, der Kaiser habe sich selbst vergiftet, nachdem Doctor Mandt die tödtliche Substanz in seine Hände gegeben. Alle diese Gerüchte wurden begierig vom Volke aufgegriffen, erregten die unzurechnungsfähige Menge in bedenklichem Grade und waren die Veranlassung, daß Doctor Mandt, dessen Leben sogar gefährdet erschien, bald nach dem Hinscheiden Nikolai des Ersten die Hauptstadt und Russland verlassen mußte.

Mandt, der eine Art neuen homöopathischen Systems aufgestellt hatte, war viele Jahre hindurch so zu sagen der medicinische Dictator St. Petersburgs gewesen. Er erfreute sich der ausgesprochenen Vorliebe und des unbedingtesten Vertrauens seines kaiserlichen Herrn, der sich bei ihm, wie man sich zuraunte, nicht nur auf ärztlichem Gebiete Raths erholte. Fest steht, daß Dr. Mandt unter Kaiser Nikolai dem Ersten eine mächtige, gefürchtete und unantastbare Persönlichkeit war, die ihren Einfluß nach verschiedenen Richtungen hin geltend machen durfte.

Daß in allen den von Mund zu Mund gehenden düsteren Gerüchten auch nicht ein Körnchen Wahrheit ruhte, brauche ich nicht erst zu bekräftigen. Möglich ist es, daß der stolze Zar, im unerträglichen Schmerz über die erlittene Schmach, absichtlich der Krankheit Trotz geboten und der Thätigkeit der Aerzte weniger Vorschub geleistet, als diese wünschenswerth erachteten. Ich wiederhole, es ist möglich – nicht einmal wahrscheinlich. Ohne leichtfertig zu sein, kann man von dem Todten nur mit dem schwedischen Hauptmann im „Wallenstein“ berichten: „Man sagt, er wollte sterben.“

Mehrere Tage waren vergangen. Die sterblichen Reste der erblichenen Majestät waren in der Peter-Paulskathedrale der Petersburger Festung in einem einfachen Sarge aufgebahrt, wie ihn sich der Kaiser einige Jahre früher selbst gewünscht hatte.

Ich kehrte Nachts von einem Besuche in entfernter Gegend der Stadt mit dem Gefährten heim. Fröstelnd hüllten wir uns in die schweren Pelze; das Gespräch stockte, und jeder hing den eigenen Gedanken nach. Von lebhaftem Zuruf und dem drohenden Schwingen der Knute angefeuert, flog das kleine Kosakenpferd über den knisternden Schnee, der im Glanze der ewigen Sterne funkelte.

Plötzlich hielt unser Iswoschtschik den Schlitten an, bekreuzigte sich furchtsam und zeigte über die Isaaksbrücke hinweg nach der Festungskirche, unter deren dunkelem Dache die sterblichen Reste des irdischen Gottes ruhten.

Rings um die Kathedrale flammte das elektrische Feuer eines ungeheuren Nordlichts. Lange rothe und weiße Strahlen schossen hinter der Kirche auf, bis an den Zenith, und umgaben das Gotteshaus mit gigantischem Heiligenschein.

„Aurora borealis!“ sagte mein Gefährte und deutete nach dem glänzenden Meteor.

„Aurora borealis!“ wiederholte ich – „das Morgenroth einer neuen Zeit für das große nordische Reich.“

[856]
2. Ein Stündchen beim Kanzler des norddeutschen Bundes.

Als der Sommer des Jahres 1866 in’s Land gekommen, erschien auch uns im hohen Norden der politische Horizont nicht vollkommen klar, aber an einen Krieg, einen unmitttelbar bevorstehenden Krieg glaubte Niemand. Ich beurlaubte den treu mir zur Seite stehenden ersten Gehülfen in eine weit entlegene Sommerfrische und gedachte mich in der ruhigeren Zeit des Sommers mit der verdoppelten Arbeit allein durchzuschlagen. Das erschien an sich diesmal schon keine kleine Aufgabe, da eine wahrhaft saharische Hitze den Körper lähmte und den Geist erschlaffte.

Die Differenzen zwischen Preußen und Oesterreich hielt man in unseren Kreisen nicht für tiefgreifend genug, um einen Krieg zwischen verwandten Stämmen herbeizuführen. Die Vermittelung des Kaisers Alexander schien die Gefahr eines blutigen Conflicts vollständig auszuschließen, und wir sahen dem Kommenden ruhig entgegen. Da brachte der plötzliche und unvermuthete Ausbruch des Kampfes zwiefache Ueberraschung, und dazu mir keinen gelinden Schrecken, da ich nun einer vielfach gesteigerten Arbeit ohne kräftige Unterstützung entgegensehen mußte. Aber die Nachricht, welche die in Petersburg lebenden eingewanderten Deutschen wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf, trug ein Moment in sich, wohl geeignet, auch die schwerste und anstrengendste Arbeitslast leicht zu machen. Wie ein dunkler Schleier zerriß es vor meinen Augen; ich sah das Buch der Zukunft vor mir aufgeschlagen und las darin in goldenen Riesenlettern: „Das ist der Weg zu Deutschlands Einheit.“

Mancher Leser wird bei diesen Worten denken: „Es ist keine Kunst, die Vorhersagung von Thatsachen für sich in Anspruch zu nehmen, die seit einem Decennium der Vergangenheit angehören,“ aber die täglichen Leitartikel der „St. Petersburger Zeitung“ aus jener Zeit, die ich damals sämmtlich allein zu schreiben hatte und die in den gesammelten Exemplaren des Blattes im Archive der Redaction, in der Bibliothek der Akademie und in der kaiserlichen Bibliothek aufbewahrt sind, können jedem Ungläubigen sofort zum Beweise dienen, daß ich beim Eintreffen der Kriegsbotschaft in der That die richtige Ansicht von der Tragweite des Ereignisses hatte und öffentlich aussprach.[1]

Und das kostete keinen geringen geistigen Kampf, mir selbst und den Petersburger Deutschen gegenüber. Fast ausnahmslos gehörten wir in der Politik einer liberalen Richtung an und hegten für das preußische Regiment, und namentlich für den Minister Graf von Bismarck-Schönhausen, nichts weniger als sympathische Gefühle. Als ich mich nun in mehreren fortlaufenden Artikeln ganz entschieden auf die Seite Preußens stellte und darauf hinwies, daß hier die Zukunft Deutschlands sei für alle Zeit, stieß ich auch in deutschen Kreisen, und gerade bei den besseren, zunächst auf Widerstand, der sich aber bald in herzliche und begeisterte Zustimmung verwandelte. Das Mißtrauen, welches die deutschen Landsleute in Russland anfänglich dem Vorgehen Preußens entgegengetragen, verwandelte sich bald in enthusiastische Anerkennung, die man nicht selten mir persönlich zubrachte und die mich mit Freude und Befriedigung erfüllte. Man wird es begreiflich finden, daß mir unter diesen Umständen die in der That sehr bedeutend anwachsende Arbeit leicht von der Hand ging, und ich habe – die Zeit des Krieges gegen Frankreich ausgenommen - nie wieder mit solcher Lust, und ich darf wohl sagen, mit solchem Erfolge die Feder geführt.

Meine Stellung war dabei eine eigenthümliche und keineswegs dornenfreie. Der russische Hof und die gesammte russische Presse stand auf österreichischer Seite; natürlich auch das Journal de St. Petersbourg, das officiöse Organ des Ministeriums des Auswärtigen, welches in den Jahren 1870 und 1871 einen völlig unparteiischen Standpunkt einzunehmen wußte. Tag und Nacht trafen Telegramme ein, bald aus dem preußischen, bald aus dem österreichischen Lager. Die russische Presse erklärte die letztere für die reine, ungeschminkte und unangreifbare Wahrheit, [857] während es mir nicht schwer wurde, die tatsächliche Unmöglichkeit dieser Nachrichten aus den begleitenden Umständen nachzuweisen. So führte ich täglich mit den Waffen des Humors und der Satire den Kampf gegen die gesammte Presse St. Petersburgs.

Unter diesen Verhältnissen war es natürlich, daß sich zwischen der diplomatischen Vertretung Preußens am russischen Hofe und mir Beziehungen bildeten, welche mich in meiner Arbeit und meinem Streben ermuthigten und förderten. Der damalige Geschäftsträger, der leider zu früh verstorbene, hochbegabte Graf Heinrich von Keyserling-Rautenburg, welcher mir, neben seinem Dank für die kräftige Unterstützung der preußischen Politik, persönlich zugethan war, versah mich mit allen Nachrichten von Wichtigkeit, die er erhielt, und gab mir so neue und zuverlässige Waffen zur Fortsetzung des Streites in die Hand.

Gegen Ende des Krieges erließ ich im Verein mit dem nun längst entschlafenen Akademiker von Kämtz einen Aufruf zu Beisteuern für die Verwundeten, wobei jeder, welcher eine Gabe darbrachte, bestimmen konnte, welcher von beiden Armeen sein Schärflein zu Gute kommen sollte. Der Ertrag unserer Sammlung belief sich auf viele Tausende von Rubeln und eine ganze Schiffsladung Leinwand, Wäsche, Charpie u. dgl. Alles war für Preußen bestimmt, mit Ausnahme von hundert Rubeln, welche der österreichische Consul für Oesterreich gespendet hatte.

Welchen Anstrengungen ich mich während des freilich wunderbar schnellen Verlaufs des Krieges hatte unterziehen müssen, machte sich erst nach eingetretener Ruhe fühlbar, und ich sah mich genöthigt, im Sommer 1867 eine längere Cur- und Erholungsreise anzutreten. Beim Abschiede äußerte Graf Keyserling den Wunsch, ich möchte mich in Berlin dem inzwischen zum Kanzler des Norddeutschen Bundes gewordenen Grafen von Bismarck vorstellen, für dessen Größe ich jetzt die aufrichtigste und begeistertste Verehrung empfand. Ich brauche nicht zu sagen, mit welcher freudigen Bereitwilligkeit ich auf die Idee des befreundeten Diplomaten einging.

Am 11. August um halb neun Uhr Abends wollte mich Graf Bismarck empfangen. Er war erst in der Nacht vorher in Begleitung des Legationsraths von Keudell nach Berlin von Ems zurückgekehrt, wo er bei seiner Majestät dem Könige verweilt hatte. Punkt halb neun Uhr befand ich mich in dem Empfangszimmer des Bundeskanzlers. Er war ausgefahren, wurde aber in kürzester Frist zurückerwartet. Zehn Minuten später rollte ein Wagen auf die Rampe, und ich wurde ersucht, in das Cabinet des Bundeskanzlers zu treten.

Graf Bismarck kam mir entgegen und reichte mir die Hand. Er bat um Entschuldigung, daß er mich habe warten lassen, er habe jetzt viel mit der Einrichtung des Sitzungslocals für den Reichstag des Norddeutschen Bundes zu schaffen.

Nach einigen Worten von meiner Seite sagte Graf Bismarck:

„Sie sind uns eine so kräftige, eine mit so viel Dank anerkannte Stütze, daß ich, obgleich ich eben von der Reise zurückgekommen und mit Geschäften überhäuft bin, es mir nicht habe versagen wollen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Der Graf reichte mir einen Sessel und ersuchte mich, Platz zu nehmen. Wir setzten uns.

„Sie sind kein in Russland geborener Deutscher,“ fuhr Graf Bismarck fort, „man hört das sogleich an Ihrer Mundart.“

„Ganz richtig, Herr Graf,“ erwiderte ich, „ ich bin ein Waldecker. Eigenthümlicher Weise wollen aber gerade in meiner Sprache viele erkennen, daß ich aus Russland komme.“

„Die müssen für die Nuancen der Dialekte kein feines Ohr haben; bei Ihnen kann durchaus kein Zweifel sein. – Ihre Stellung ist jetzt eine sehr schwierige geworden, wie ich höre.“

Ich bestätigte diese Ansicht und schilderte dem Bundeskanzler die ununterbrochenen Angriffe und Machinationen der nationalen Partei, ihren brennenden Haß gegen die Deutschen und alles deutsche Wesen und ihre Versuche, das russische Volk gegen die Deutschen aufzuhetzen.

„Und doch sind die höheren Regionen der russischen Gesellschaft von diesem Hasse durchaus frei geblieben,“ entgegnete der Kanzler. „Ich habe viele vornehme Russen gesprochen, welche die Gesinnungen und Stimmungen jener Partei keineswegs theilen.“

Ich bestätigte, daß die unteren und oberen Schichten des russischen Volkes von dem Haß der politischen Spitzführer gegen die Deutschen noch nicht inficiert worden, der seinen Herd vorzüglich in der mittleren Sphäre, den Kreisen der niederen Beamten, Literaten etc. habe.

„Ich glaube nicht, daß dieser Haß jemals in andere Kreise vordringen wird,“ sagte Graf Bismarck. „Es kann ja auch nicht anders sein; der Russe wird den Deutschen nie entbehren können. Der Russe ist ein sehr liebenswürdiger Mensch. Er hat Geist, Phantasie, ein angenehmes Benehmen, gesellige Talente – aber täglich auch nur acht Stunden arbeiten, und das sechs Mal in der Woche und fünfzig Wochen im Jahr – das wird in Ewigkeit kein Russe erlernen. Ich erinnere mich der treffenden Worte, die ein russischer Militär in meiner Gegenwart äußerte. Die Unterhaltung berührte den Umstand, daß so viele Officiere deutscher Abstammung in der russischen Armee bis zum General avanciren. ‚Wie sollte ein Deutscher nicht General werden!‘ sagte jener Militär, ‚er trinkt nicht; er stiehlt nicht; er ist nicht liederlich; er reitet sein Pferd selbst – da muß er es schon bis zum General bringen.‘“

„Ein vortrefflicher Beitrag zur Charakteristik des russischen Volkes,“ sagte ich, „ist die Schilderung der Art und Weise, wie der russische Edelmann zu Bette geht. ‚Jesim,‘ sagt er zu dem Diener, ‚entkleide mich!‘ Es geschieht. ‚Gieb mir zu trinken!‘ Jesim gehorcht. ‚Lege mich in’s Bett!‘ Jesim thut es. ‚Decke mich zu!‘ Jesim deckt ihn zu. ‚Bekreuzige mich!‘ Jesim schlägt das Kreuz über seinen Herrn. ‚So,‘ sagte derselbe, ‚nun kannst Du gehen; das Einschlafen werde ich selbst verrichten.‘“

„Und ich bin überzeugt,“ sagte Graf Bismarck herzlich lachend, „daß gerade die ärgsten jener Schreier keine Arznei einnehmen würden, die ein russischer Apotheker bereitet hat. Die deutschen Apotheker, Bäcker, Wurstmacher etc. wird man in Russland nie entbehren können. Aber auch in ganz anderen, viel höheren Sphären werden sich die eigenthümlichen Eigenschaften des deutschen Namens stets Geltung verschaffen. Der Reichskanzler Fürst Gortschakow war unter der Regierung des Kaisers Nikolai lange in unbedeutenden, untergeordneten Aemtern zurückgehalten worden; man hatte seine bedeutende Begabung nicht erkannt. Der Fürst schrieb die Zurücksetzung, die er erfahren, dem deutschen Einfluß zu, und als er an’s Ruder kam, entfernte er, wo es irgend zulässig war, alle Deutschen aus dem Geschäftsgebiet seines Ministeriums. Sehen wir uns nun heute nach dem Resultat um: Die wichtigsten Gesandtschaften: London, Paris, Wien etc. sind mit Deutschen besetzt, die talentvollsten Redacteure des Ministeriums sind Deutsche; [2] ja, Fürst Gortschakow selbst würde nicht die Arbeitskraft haben, die er besitzt, wenn seine Mutter nicht eine Deutsche gewesen wäre; ich habe ihm das selbst gesagt.“

Das Gespräch wendete sich nun zu den von der russischen Presse hier und da ausgesprochenen Befürchtungen, die deutsche Begehrlichkeit werde ihre Hände nach den baltischen Provinzen oder Polen ausstrecken. Ich erzählte dem Grafen, wie oft ich in ausführlichen Exposés den unwiderlegbaren Beweis geführt habe, daß der Erwerb der russischen Ostseeprovinzen für Preußen nur eine Schwächung sein könne, daß es mir aber nicht gelungen sei, die russischen Germanophoben zu überzeugen und zu beruhigen.

„Was sollte uns auch dieser lange, vorgeschobene Streifen zwischen dem Meer und Polen, ohne Hinterland – ein Nichts, für das wir die ewige Feindschaft Russlands eintauschen würden,“ sagte Graf Bismarck. „Nein, es ist besser so. Die Deutschen in den Ostseeprovinzen müssen auch in Zukunft der Guano sein, der jene große russische Steppe düngt. Auch wäre den Bewohnern jenes Landstrichs durchaus nicht damit gedient, wenn sie preußisch würden. Unsere preußische Verfassung mit lettischen und estnischen Urwählern wäre für die kurischen und livländischen Barone, wie ich sie kenne, ein sehr zweifelhaftes Vergnügen.“

Nachdem das Gespräch noch kurze Zeit bei den Ostseeprovinzen verweilt, fuhr der Bundeskanzler fort:

„Was Polen betrifft, so haben wir niemals begehrliche Absichten gehegt und werden solche niemals haben können. In [858] Bezug auf Polen ist unsere Bestimmung, das Land im Verein mit Russland zu pacificiren; das haben wir deutlich genug kundgegeben.“

„Russland und Preußen,“ sagte der Graf nach einer kurzen Bemerkung von meiner Seite, „sind auf das freundschaftlichste Verhältniß zu einander angewiesen. Beide Reiche sind rein defensiver Natur und müssen sich gegenseitig stützen. Zur Zeit des Krimkrieges hatte Oesterreich mit Preußen die Abmachung getroffen, letzteres solle beim Eintritt bestimmter Eventualitäten eine Armee an der russischen Grenze aufstellen. Oesterreich glaubte eines schönen Tages, der vorgesehene Moment sei gekommen, und verlangte von Preußen die stipulirte Aufstellung eines Heeres an Russlands Grenze. Friedrich Wilhelm der Vierte, unser damaliger Herr, berief mich aus Frankfurt a. M., wo ich zur Zeit Bundestagsgesandter war, und wollte meine Ansicht in der Sache hören. ‚Stellen Sie eine Armee auf,‘ sagte ich, ‚aber nicht an der polnischen Grenze, sondern in Oppeln, dann können Sie Europa den Frieden dictiren.‘ Aber Friedrich Wilhelm der Vierte hatte für dergleichen energische Schritte ein zu zart besaitetes Nervensystem und meinte, wir hätten zum Demonstriren nicht Geld genug. Man kannte eben damals noch nicht die Kraft unserer Armee.“

„Ich habe es dem Fürsten Gortschakow gesagt: Ihr Wohlwollen für Preußen haben Sie billig; Sie sind darauf angewiesen, mit diesem Nachbar Freundschaft zu halten. Preußen ist das Tampon zwischen Frankreich und Russland, und wenn Sie ein Bündniß mit Frankreich in Aussicht stellen, so kann sich Preußen nur darüber freuen. Eine solche Allianz wäre die sicherste Gewähr, daß Sie uns Frankreich vom Leibe halten, denn uns können und dürfen Sie nichts thun.“

„Ja,“ setzte der Graf lächelnd hinzu, „die Politik ist die Lehre vom Möglichen.“

Das Gespräch wendete sich wieder zu den Agitationen der enragirten, russisch-nationalen Partei, der Katkow und Genossen, und der Graf meinte, dieses Treiben habe so wenig reelle Basis und sei eine solche Thorheit, daß es sich nothwendig im Sande verlaufen müsse. Er gab mir den Rath, jene Angriffe nicht immer ernst zu nehmen und mir dann und wann auch einmal über den Kopf schießen zu lassen, ohne mir viel daraus zu machen.

„Es wäre eine große Thorheit von Russland,“ sagte Graf Bismarck, „wenn es die Ostseeprovinzen entnationalisiren und russificiren wollte. Es würde sich dadurch des Stammes ehrlicher Staatsdiener berauben, den es von dort bezieht. Ist es doch eine allgemein anerkannte Wahrheit, daß der zum Russen gewordene Deutsche viel ärger ist, als der Russe selbst. Der Russe stiehlt, um einem augenblicklichen Bedürfnisse abzuhelfen, wenn aber der Deutsche stiehlt, so denkt er dabei an die Zukunft und sorgt für Frau und Kinder. Da kommt die énergie teutonique hinzu, wie mir ein geistreicher Russe einst sagte.“

Ich erwartete, daß der Bundeskanzler mich in üblicher Weise entlassen werde. Da er aber nicht die geringsten Anstalten dazu machte, hielt ich es für meine Pflicht, seine Zeit nicht länger in Anspruch zu nehmen und aufzubrechen. Zum Abschiede reichte er mir mit herzlichem Gruße beide Hände, wünschte mir glückliche Reise und entließ mich mit den Worten:

„Nun, werden Sie nicht müde und kämpfen Sie wacker, vergessen Sie aber auch nicht, daß Vorsicht der beste Gefährte der Tapferkeit ist!“

Graf Bismarck machte auf mich einen ungleich angenehmeren Eindruck, als alle Bilder, die ich bis dahin von ihm gesehen. Seine große, imposante Gestalt war damals noch schlank, seine Züge schön und ausdrucksvoll. Die Stimme, wie der Ausdruck seiner Mienen, hatte während der Unterhaltung etwas ungemein Mildes. Sein schalkhaftes Lächeln war überaus gewinnend.

  1. Ich will hier als einzigen Beleg die folgende Stelle aus der „Rundschau“ vom 22. Juni (4. Juli) 1866 (Nr. 40 der „St. Petersburger Zeitung“) mittheilen.
    „Um möglichen Mißverständnissen zu begegnen, kommen wir nochmals auf unseren Standpunkt in Betreff beider kriegführenden Parteien zurück. Was es mit dem Standpunkte in dem gegenwärtigen Kampfe für eine Bewandtniß hat, haben wir hier und dort angedeutet; es läßt sich in kurzen Worten zusammenfassen. In Betreff des formellen Vorwandes zum Kriege, der schleswig-holsteinischen Angelegenheit, ist Preußen wie Oesterreich vom Standpunkte des Bundesrechts wie des Staats- und Erbrechts im Unrecht. Beide verfuhren vom Standpunkte der praktischen Politik, das heißt des Nützlichkeitsprincips, beide haben den Bund wie das Erbrecht perhorrescirt; beide bemächtigten sich der Herzogthümer als Kriegsbeute, ohne den Schein irgend einer anderen Begründung ihrer Ansprüche, und beide sind über die Theilung der Beute in Streit gerathen.
    Aber der gegenwärtige Krieg entscheidet für Deutschland über ganz andere Dinge, als die verhältnißmäßig armselige schleswig-holsteinische Angelegenheit; es ist der wieder zum Ausbruch gekommene Kampf, der eine Zeit lang offen, seit hundert Jahren versteckt geführt wurde, der Kampf um das Uebergewicht Preußens oder Oesterreichs in Deutschland. Wir hatten uns dahin ausgesprochen, daß, wie die Sachen liegen, wir für das Heil Deutschlands unbedingt den Waffen Preußens den Sieg wünschen müssen. Wenn uns darauf Jemand entgegnete: ‚Also in ganz Deutschland soll Bismarck’sches Regiment eingeführt werden, in ganz Deutschland soll der Parlamentarismus unterdrückt, sollen die Rechte des Volkes mißachtet werden, wie jetzt in Preußen?‘ so würden wir antworten: ‚Das verhüte Gott, das kann unsere Meinung nicht sein!‘
    Der Krieg, der gegenwärtig in Deutschland Tausende von Leichen über die zertretene Frucht des Feldes hinstreckt, dieser Krieg entscheidet Deutschlands Geschicke für andere Zeiten als die unseren, für Zeiten, in denen jedwede Hand, die heute dieses Blatt hält, längst vermodert ist, für Zeiten, in denen König Wilhelm wie sein mächtiger Minister längst vom Schauplatze der Thaten abgetreten sind und der Geschichte angehören, und jene Zeiten

    Sie bringen mildre Weisheit; Bürgerglück
    Wird dann versöhnt mit Fürstengröße wandeln,
    Der karge Staat mit seinen Kindern geizen,
    Und die Nothwendigkeit wird menschlich sein.

    Für diese Zeiten fallen um Deutschlands Geschicke heute auf den Schlachtfeldern die eisernen Würfel, und fragen wir uns, ob für jene Zukunft Preußen oder Oesterreich in Deutschland präponderiren soll, so kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Mit demselben Freimuth, mit dem wir die Politik des Grafen Bismarck verwerfen, bekennen wir, daß wir in dem preußischen Volke, dem preußischen Staate die Träger deutscher Intelligenz und nationaler Selbstständigkeit sehen, darum wünschen wir Preußen und nicht Oesterreich an Deutschlands Spitze, darum wünschen wir den Waffen Preußens und der mit ihm verbundenen norddeutschen Staaten den Sieg.“

  2. Später auch der Gehülfe des Reichskanzlers, der jüngst verstorbene W. von Westmann, der Director der Kanzlei des Ministers, von Müller, und zahlreiche Beamte aller Departements des Ministeriums.