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Aus dem Tagebuche einer Ameise

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Textdaten
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Autor: Kurd Laßwitz
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Titel: Aus dem Tagebuche einer Ameise
Untertitel:
aus: Seifenblasen. Moderne Märchen. S. 78–118.
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Leopold Voß
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Erscheinungsort: Hamburg und Leipzig
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Quelle: ULB Düsseldorf, Deutsches Textarchiv und Commons
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[78]

Aus dem
Tagebuche einer Ameise.




Vorbemerkung.

Wir verdanken die Entdeckung der Sprache und Schrift der Ameisen den Bemühungen des berühmten Entomologen Antenna. Bekanntlich leben in den Gemeinden dieser hochorganisierten Tiere nicht bloß Männchen, Weibchen, geschlechtslose Arbeiter und sog. Krieger oder Führer mit größeren Köpfen, sondern auch Haustiere, insbesondere ein kleiner Käfer (Claviger), von welchem man nicht wußte, welche Bedeutung er für die Ameisen besitzt. Antenna ist es gelungen nachzuweisen, daß dieser Käfer die lebendige Bibliothek der Ameisen vorstellt. Die Sinneswahrnehmungen der Ameisen beruhen auf Ätherwellen von 800 bis 2000 Billionen Schwingungen in der Sekunde, deren Geschwindigkeit somit jenseits derjenigen liegt, welche für unser Auge als Licht wahrnehmbar sind. Antenna ermöglichte es, durch ein Fluorescenz-Mikroskop jene Ätherschwingungen so zu verlangsamen, daß sie für unsere Sinneswerkzeuge bemerkbar werden. Dadurch zeigte er, daß die Ameisen gegenseitig in einer Fühlersprache verkehren, die er Chemisieren oder Übertasten nennt, und daß sie dieselbe, ähnlich wie wir [79] Schallwellen auf den Phonographen, auf die Keulenkäferchen übertragen, welche sie ihrerseits jederzeit reproduzieren können. Die Ameisen haben also den Menschen in der Kultur insoweit überflügelt, daß ihre Haustiere nicht nur zur mechanischen, sondern auch zur intellektuellen Arbeit abgerichtet werden. Wir sind in der Lage, im Nachfolgenden die Übersetzung eines Ameisentagebuchs zu veröffentlichen, welches auf 82 Keulenkäferchen chemisiert war. Wir haben dabei häufig die umständlichen Umschreibungen der Ameisensprache durch die uns geläufigen Ausdrücke ersetzen müssen; selbstverständlich geschah dies überall dort, wo es sich um die Wiedergabe ursprünglich menschlicher Äußerungen handelt. Über das Nähere des sehr schwierigen technischen Verfahrens, die Tastungen der Keulenkäferchen zu fixieren, müssen wir auf das Originalwerk Antennas verweisen, welches in lateinischer Sprache unter dem Titel: »De formicarum lingua et litteris« bei Gebrüder Emswind in Flausenheim erschienen ist.


Tagebuch.
Eiersonne 10.

Große Frühjahrsräumerei. Die Arbeiter sind mit den Kleinsten draußen im ersten Sonnenschein, der Stock ist fast leer. Wir Führer sitzen noch in den Winterzellen und denken nach. Es ist jetzt die schönste Zeit im Stock, ich will sie benutzen, um mich einmal gründlich in der neueren Litteratur umzusehen. Ich habe angefangen das vielgerühmte Buch von Ssrr zu studieren: [80] „Leben und Treiben des Menschen.“ Es ist zwar rotameisenisch geschrieben, aber ich verstehe es ganz gut. Etwas idealistisch, viel Hypothese — indes, die Roten sind einmal so. Weil sie keine Sklaven halten, bilden sie sich ein, an der Spitze der Civilisation zu marschieren. Nun, wir sind schließlich doch alle Ameisen und ein Boden ist unter uns allen!

Eiersonne 12.

Ssrr behauptet wahrhaftig, der Mensch besitze Intelligenz! Er soll allerdings Gehirn haben, aber dann müßten doch seine Fühler am Kopfe und nicht an den Brustringen sitzen.

Larvensonne 2.

Ich überzeuge mich mehr und mehr, daß Ssrr recht hat; der Mensch scheint in der That unter den ungeschlachten Bestien, die man Knochentiere nennt, den ersten Rang einzunehmen. Bisher hatte ich immer die Vögel für die bevorzugtere Klasse gehalten, nicht nur, weil sie uns am gefährlichsten sind, sondern weil sie sich in vielen Dingen den Ameisen wirklich auffallend nähern. Sie bauen Nester, haben eine äußere schützende Federhülle, besitzen Flügel und legen sogar Eier. In dieser Hinsicht steht der Mensch weit hinter ihnen zurück, mit Ausnahme des Nesterbaus. Es scheint kein Zweifel, daß die Menschen sogar gleich uns gemeinsame Stöcke anlegen, welche zwar nicht geräumig genug sind, um einen ganzen Staat zu umfassen, aber doch immerhin für ein so großes Tier eine nennenswerte Leistung darstellen. Danach müßte man annehmen, daß sich die [81] Menschen einigermaßen untereinander verständigen können; unzureichend genug mag das sein, da ihre Fühler so grob organisiert sind!

Eine Beobachtung, die ich früher einmal selbst gemacht habe, scheint dafür zu sprechen. Ich sah einen noch nicht ganz erwachsenen Menschen im benachbarten Felde auf einem Apfelbaum sitzen und fressen. Ein größerer schlich sich heran, hob den einen Fühler in die Höhe und ergriff jenen am Beine, so daß er herabfiel. Es schien mir dabei, als wenn der andere Fühler noch einen dünneren Fortsatz hätte, der sich in schwingender Bewegung befand. Beide Menschen betasteten sich hierauf lebhaft mit ihren Fühlern, worauf der kleinere plötzlich in großer Eile davonlief. Was mögen sie sich wohl zu sagen gehabt haben? Ob sie eine Sprache besitzen, oder ob alles nur auf Nachahmung beruht? Vielleicht hatte der kleinere Mensch schon in früheren Fällen die Erfahrung gemacht, daß das Davonlaufen mit irgend einem Vorteile verbunden sei. Oder sollte es sich um einen ererbten Instinkt handeln? Ich bin neugierig, was Ssrr über diese Frage sagen wird. Vorläufig bin ich erst bei der Beschreibung des menschlichen Organismus.

Larvensonne 5.

Wie weise hat doch die Erde selbst für ihre plumpsten Geschöpfe gesorgt! Auch beim Menschen ist der edelste und ameisenähnlichste Teil, das Gehirn, von einem schützenden Knochengerüst umgeben, während im übrigen Körper die festen Stützen im Innern liegen. [82] Und wieviel höher steht somit die Organisation der Insekten, bei welchen der ganze Körper von der festen Chitinhülle umschirmt ist! Die Zoologen, welche nur den Körperbau in Betracht ziehen, wollen wirklich die Ameise zu den Tieren rechnen und ihr nur die höchste Entwickelungsstufe zusprechen. Aber ich lasse mir die Überzeugung von der ewigen Bestimmung des Ameisengeschlechts nicht rauben!

Ameise und Mensch sollen beide vom Regenwurm abstammen! Blödsinn!

Larvensonne 9.

Ob wohl die Menschen auch zu irgend etwas nutze sind? Sollte die unendliche Uremse bei der Schöpfung nicht auch ihnen eine Stelle im Weltplan eingeräumt haben? Es scheint, daß sie wesentlich zur Vertilgung der so schädlichen Vögel beitragen. Und wenn sie auch keinen weiteren Zweck hätten, als uns zum Gegenstand wissenschaftlicher Studien zu dienen, so würden sie schon darum nicht überflüssig in der Welt sein. Sicherlich besitzen sie Gefühl und freuen sich ihres Daseins so gut wie wir, obwohl ihnen die höheren Ideale des Gemeinsinns, sowie der Puppen- und Larvenpflege abgehen und ihnen selbstverständlich das „Unbewußtsein der unvermeidlichen Handlungsweise“ fehlt. Ich kann mich daher mit der Ansicht nicht befreunden, daß man eine Expedition zur Erforschung des Menschengehirns absende. Ssrr verlangt, man solle eine Kolonie im Schädel eines lebenden Menschen anlegen, um die geistigen Fähigkeiten desselben zu ergründen. Aber mir scheint darin eine [83] gewisse Grausamkeit zu liegen. Wie leicht könnte der betreffende Mensch darunter leiden. Es ist freilich nur ein Mensch, und sein Wohlergehen darf gegenüber dem Fortschritt der ameisenlichen Erkenntnis nicht in Frage kommen. — — Während ich diese Aufzeichnungen meinem Keulenkäferchen übertaste, wendet es das Köpfchen und streichelt mich mit seinen Fühlern. Gewiß will es zeigen, daß es auch Lust und Schmerz empfindet wie unser eins. Es ist allerdings ein Insekt und steht uns näher als der Mensch, aber trotzdem sage ich: Auch der Mensch ist ein Lebewesen, auch er hat ein Recht auf unsere Schonung!

Wer weiß, ob uns das Klima des Menschengehirns zusagen würde? Unsere Mitbürger sollen sich derartigen Gefahren nicht aussetzen, mögen die Rotameisen ihre Abenteuerpolitik allein treiben!

Arbeitersonne 8.

Ärgernis mit den Sklaven. Sie haben die Zuckerkühe schlecht gemolken. Nr. 18 und 24 haben fünf Lasten Saft allein aufgegessen; wurden gründlich abgezwackt! Wahrhaftig, man wünschte manchmal ein unvernünftiger Mensch zu sein und in den Tag hinein zu leben! Was kennt so ein Mensch für Sorgen? Sie haben weder Eier, noch Larven, noch Puppen, und daß sie wirklich Haustiere und Sklaven halten sollen, wie Ssrr behauptet, kann ich nicht glauben. Wozu sollten sie die brauchen? Wenn sie auch ihre Jungen mit den Fühlern bearbeiten, was auf eine gewisse rudimentäre Erziehungskunst deutet, so hat doch jeder seine eigenen [84] Kinder — Staatskinder kennen sie nicht. Welch niedriger Standpunkt!

Arbeitersonne 15.

Ich bin ganz erstaunt und betroffen! Was hat doch unser Geist schon entdeckt! Die Menschen können sich wirklich gegenseitig Mitteilungen machen. Eine Sprache im eigentlichen Sinne haben sie freilich wohl nicht, sie müßte denn auf so langsamen Schwingungen beruhen, daß unser feineres Organ sie nicht aufzufassen vermag. Ihre Sinne müssen überhaupt sehr grob gestaltet sein. Ssrr hat z. B. nachgewiesen, daß der Mensch in der Nacht absolut nicht sehen und seine Umgebung nicht unterscheiden kann. Es kommt vor, daß Menschen, die in der Nacht nach Hause kommen, den Eingang zu ihrem Stock nicht finden.

Puppensonne 1.

Es wird wirklich eine Expedition zur Erforschung der Menschen ausgerüstet, aber man ist davon abgekommen sie ins Gehirn zu schicken, sie soll sich vielmehr mit der Entdeckung der menschlichen Sprache beschäftigen. Man hat nämlich folgende höchst interessante Beobachtung gemacht. Wenn ein Mensch für einen andern eine Mitteilung hinterlassen will, so überträgt er nicht, wie wir, seinen Gedankenprozeß durch Fühlerschwingungen chemigraphisch auf den lebendigen Organismus eines Keulenkäferchens, welches denselben jederzeit reproduzieren kann, sondern er verändert mit Hilfe eines Saftes die Oberfläche einer hellen, blattartigen Substanz an ganz bestimmten Stellen, so daß darauf mehr oder weniger [85] regelmäßige Zeichen entstehen. Der andere Mensch hält dieselben vor seine Augen und ist auf eine uns unbekannte Weise imstande, daraus die Meinung des ersten zu erkennen. Es muß wohl aber dieses Mitteilungsmittel ein ziemlich unvollkommenes sein, da man nach dieser Operation Menschen häufig den Kopf schütteln sieht, was man für ein Zeichen des Mißbehagens hält. Ssrr nennt jenen Saft „Tinte,“ er soll bei den Menschen sehr hoch geschätzt sein und in einer besonderen Drüse, dem Tintenfaß, abgesondert werden. Diejenigen Menschen, welche das größte Tintenfaß haben, sollen im höchsten Ansehen stehen und von den andern gefürchtet werden. Ich vermute, daß jener Saft ähnliche ätzende Eigenschaften wie unsere Säure hat und im Kampfe ausgespritzt wird. Ob er auch giftig wirkt?

Puppensonne 3.

Man merkt, daß es Sommer ist. Wir haben schon eine Menge Puppen im Stock, ich glaube, es wird ein gutes Jahr. Einige von unsern Müttern fangen an recht alt zu werden. Die gute Xrr ist seit zwei Jahren nicht aus dem Stock gekommen, einen Menschen hat sie noch nie gesehen. Daß es solche Wesen gebe, hält sie für einen Aberglauben. Als ich ihr sagte, daß ein Mensch mit einem Schritt über einen ganzen Bau hinübersteigen könne, schlug sie die Fühler über dem Kopfe zusammen, und nur, daß er auf bloß zwei Beinen geht, beruhigte sie einigermaßen. Sie fand dies sehr unschicklich und wollte nichts weiter hören. Dann aber fragte [86] sie doch, ob bei den Menschen die Weibchen in der Jugend auch Flügel hätten und sie dieselben wie bei uns nach der Hochzeit ablegten. Ich erinnerte mich, bei Ssrr gelesen zu haben, daß es geflügelte Menschen gäbe, welche sie Engel nennen, und daß die jungen Weibchen von den Männchen öfter „mein Engel“ genannt würden, wenn sie älter sind aber nicht mehr. Daraus ist wohl zu schließen, daß auch die Menschen nach der Hochzeit die Flügel verlieren.

Puppensonne 7.

Daß die Menschen auch religiöse Vorstellungen besitzen, hätte ich nicht geglaubt. Dennoch ist nach den Forschungen von Ssrr kein Zweifel daran, wiewohl es sich nur um einen ziemlich rohen Fetischdienst handeln dürfte. Sie haben nämlich eine besondere Art runder Platten von einem schweren, glänzenden Stoffe mit der Abbildung eines menschlichen Kopfes, die sie als ihre Götzen anbeten. Sie verehren dieselben über alles und tragen immer einige bei sich. Wer keine solche Götzenbilder besitzt und vorzeigen kann, wird als ein verworfener Mensch betrachtet und aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen. Er kann es zu keiner angesehenen Stellung bringen und erhält nicht einmal die nötigsten Nahrungsmittel. Wer dagegen von jenen Götzenbildern eine große Menge in seinem Bau aufgehäuft hat, wird als ein heiliger Mann verehrt, alle beugen sich vor ihm, und er kann sogar die so hochgeschätzten Tintendrüsen für einige Götzenbilder erhalten.

[87]

Puppensonne 11.

Ein bewegter Tag. Die Arbeiter waren damit beschäftigt, unsern diesjährigen Erstlingen beim Auskriechen behilflich zu sein. Während sie ihnen die Puppenhülsen aufbissen und abzogen, saß ich wieder über meinem Ssrr, dem großen Erforscher der Menschen, den ich mehr und mehr verehren lerne. Hat er uns doch eine neue Welt eröffnet, einen Blick in den ungeahnten Reichtum der Natur an merkwürdigen Gestalten, und in jeder zeigt sich die Weisheit der unendlichen Uremse. Der Mensch, dieses riesige, täppische Tier, wie gefährlich wäre er unseren Staaten, wenn er bei seiner zweifellosen Intelligenz zugleich die idealen Triebe der Ameise besäße! So aber begnügt er sich mit der Anbetung seiner blanken Götzen und sein ganzes Streben ist darauf gerichtet, möglichst viele derselben anzuhäufen. Und dies nicht etwa für die Gemeinschaft, sondern ein jeder sorgt nur für sich; eben hier zeigt sich die Weisheit des Schöpfers, daß er die Kräfte dieser gefährlichen Riesen zersplittert und sie zu einem Kampfe des einzelnen gegen den einzelnen antreibt. Wie dankbar müssen wir sein, daß wir als Ameisen ausgekrochen sind!

Mit derartigen Gedanken war ich beschäftigt, als wir plötzlich eine gewaltige Erschütterung des ganzen Baus verspürten. An einer Stelle drang das Tageslicht ein. Die Arbeiter stürzten sich auf die Larven und Puppen, um sie in Sicherheit zu bringen, während wir Führer zur Abwehr des Angriffs hinauseilten. Wir bemerkten, daß ein Mensch mit einem Baume — sie [88] nennen es einen Stock — in unsern Bau gestochen hatte. Er stand ganz ruhig und sah offenbar zu, was wir beginnen würden. Sofort ging eine Anzahl Arbeiter an die Ausbesserung, während ein Häufchen mutiger Führer sich auf die Füße des Menschen stürzten und an ihm hinaufkletterten. Wir drangen durch das dicke Gewebe seiner Oberhaut und zwickten, stachen und spritzten dermaßen, daß der Mensch bald die Flucht ergriff. Leider hatten wir dabei große Verluste, nur wenigen, darunter mir, gelang die rechtzeitige Rettung. Denn, höchst seltsam, sobald der Mensch einige Schritte in ein Gebüsch sich zurückgezogen hatte, begann er sich zu häuten, unsere Truppen abzuschütteln und zu zertreten. Alsdann aber schlüpfte er wieder in seine Haut hinein und ging von dannen. Bei der Untersuchung des Kampfplatzes fanden wir, daß auch der Mensch Verluste erlitten hatte. Unter den welken Blättern des Bodens fanden wir neben den Leichen unserer Tapferen zwei der blanken Götzenbilder und eine aufgesprungene Kapsel, in welcher sich ein weicher, gelblicher Gegenstand befand, wie es schien, eine Locke menschlichen Haares. Wir beschlossen sofort die erbeuteten Gegenstände in den Bau zu schaffen, sie waren jedoch zu schwer und wir mußten daher erst nach Beihilfe schicken. Inzwischen schleppten wir wenigstens die Haarlocke ein Stück vorwärts. Während wir damit beschäftigt waren, kehrte der Mensch zurück, indem er offenbar am Boden etwas suchte, vermutlich seine Götzenbilder. Da wir zu schwach waren, um den Kampf wieder aufzunehmen, verbargen wir uns. Als der Mensch [89] endlich mit seinen blöden Augen die Kapsel erkannte, stürzte er freudig darauf zu und hob sie auf; doch schien er äußerst enttäuscht, als er die Locke nicht darin fand. Die Götzenbilder beachtete er merkwürdiger Weise garnicht. Endlich entdeckte er die Locke, wo wir sie verlassen hatten. Er nahm sie auf und drückte sie wiederholt an seine Lippen, dann barg er sie samt der Kapsel sorgfältig in einer Falte seiner Haut. Diesen Vorgang kann ich mir nicht erklären. Was konnte dem Menschen an dem bißchen Haar liegen, da er selbst einen ganzen Schopf besaß? Es müssen im Menschen noch Vorgänge stattfinden, welche uns unerklärlich sind. Instinkt oder Überlegung?

Die Götzenbilder schafften wir später mit großer Mühe in unsern Bau, wo sie den Grundstock eines Menschenmuseums bilden sollen.

Puppensonne 14.

Nachrichten von der Expedition. Es sind ganz ungeahnte Entdeckungen gemacht worden. Die Menschen haben außer dem Verkehrsmittel der Tinte in der That noch eine andere Sprache mit Hilfe ihrer Kiefern. Dieselben sind bei den älteren Weibchen stärker entwickelt als bei den Männchen. Die beiden eigentümlichen Hervorragungen an den Seiten ihres Kopfes dienen dazu, die Sprache zu verstehen. Wir allerdings können diese nicht wahrnehmen, aber unsere berühmten Physiker Hlmz und Krch haben ein Instrument erfunden, welches die von den menschlichen Kiefern der Luft mitgeteilten Schwingungen in Tastervibrationen umsetzt und uns dadurch verständlich macht. Nun ist alle Aussicht vorhanden, [90] daß wir mit Hilfe unserer bewaffneten Fühler bald die Menschensprache vollständig beherrschen werden. Auch ein Sehrohr ist konstruiert worden, wodurch wir selbst bei Tageslicht entfernte Gegenstände wahrnehmen können.

Flügelsonne 8.

Jetzt geht es lustig im Stock zu! Wir haben wieder eine geflügelte Jugend. Mädchen und Knaben tummeln sich draußen, es ist nicht leicht sie zu hüten. Frei schweben sie in der Luft, wir alten Führer laufen unten herum und sind nicht imstande sie zu tasteln. Nun, das Vergnügen ist ein kurzes — wenige Sonnen, und die Flügel müssen fallen!

Flügelsonne 9.

Von der Expedition höre ich, daß die Menschen sogar Bücher über uns Ameisen geschrieben haben. Selbstverständlich lauter Unsinn! Von unsern Verkehrsmitteln haben sie keine Ahnung, unsere Organe deuten sie ganz falsch, weil sie sich nach ihren groben Sinnen richten. Sie wissen nicht, wie fein und modulationsfähig unsere Tasterschwingungen sind, und daß die Keulenkäferchen die Fähigkeit haben, diese Tasterschwingungen aufzunehmen, festzuhalten und nach Belieben wiederzugeben. Daher zerbrechen sie sich den Kopf, wozu wir die Keulenkäferchen im Stock halten und füttern, denn sie können nicht begreifen, daß diese unsere lebendige Bibliothek sind. Da bilden sie sich wer weiß was auf ein neues Instrument ein, was einer von ihnen erfunden hat, um die Töne festzuhalten und wiederzugeben. [91] Wir haben einen solchen Apparat an unsern Keulenkäferchen schon seit tausenden von Rundsonnen im Gebrauch. Und dabei wollen sich die Menschen zu den Kulturtieren rechnen!

Flügelsonne 12.

Heut hatte sich eine fremde Ameise in den Stock verirrt. Sie suchte sich zu verstecken, aber ein paar Sklaven erwischten sie gleich an den Fühlern. Ehe wir sie hinauszwacken ließen, forschten wir sie über die Verhältnisse ihres Baus aus. Er liegt im Straßengraben, wo alle Tage Menschen vorüberkommen, und es scheinen dort schöne Zustände zu herrschen. Wenn dies so fortgeht, werden sie geradezu entameist. So gehen sie damit um, den Knaben gleich nach dem Auskriechen die Flügel abzubeißen, damit sie nicht mehr frei in der Luft sich umhertummeln und austoben können. Sie sollen sämtlich zu großköpfigen Gelehrten und Führern erzogen werden und werden daher mit Galläpfeln gefüttert, um womöglich eine Tintendrüse wie die Menschen zu bekommen. Von früh bis abend übertastelt man sie mit den eingetrockneten Puppenhülsen früherer Generationen, von denen man annimmt, daß besonders begabte Gelehrte aus ihnen ausgekrochen seien. Die Namen derselben werden in Verse gebracht und müssen von den armen flügelberaubten Jungen auf Käfer übertastet werden. Der eine lautet:

Als edle Puppengreifer merk:
Psr, Klks, Mgs, Schns, Prbs, Hms und Zrk.
Kks 25 Sklaven fing,
Grx 20, 22 Lng.

[92] So geht es weiter. Von jedem alten Führer müssen sie wissen, wieviel Sklaven und Puppen er eingebracht und wieviel Feinde er getötet hat. Ich sagte, ich fände das nicht gut, die Knaben hätten von der Natur die Flügel bekommen und verlören sie schon von selbst, wenn sie sie nicht mehr brauchten. Man solle sie nicht vor der Zeit entflügeln. Das ginge vielleicht eine Zeit lang, aber im nächsten Jahre würden sie schon sehen, was sie damit anrichten. Da erwiderte das freche Ding, bei den Menschen wäre es ebenso. Sie wurde hinausgeworfen. Hüten wir uns vor dem Vermenschen!

Flügelsonne 13.

Die Expedition hat einige hundert Stück Käfer zurückgeschickt, denen sie ihre Erfahrungen über die Menschen übertastet hat. Da giebt es zu studieren. Einzelnes ist garnicht zu verstehen. Bei uns weiß jeder Arbeiter im Augenblick, was für den Bau zu thun ist, und ohne Zögern legt er Kiefer ans gemeinsame Werk. Bei den Menschen — und dies bemerkte schon Ssrr — hat jeder eine andere Ansicht; viele wechseln ihre Ansicht alle Tage. Aus welchem Grunde ist nicht ganz klar, der Wechsel scheint jedoch von der Windrichtung abzuhängen.

Unbegreiflich ist folgende Äußerung, die von einem Menschen berichtet wird: „Liebe Frau, ich habe 30 000 Mark in der Lotterie gewonnen, sage aber niemand etwas davon, wir werden sonst in der Steuer erhöht.“ „Mark“ sind offenbar die bekannten Götzenbilder und „Lotterie“ [93] soll ein Volksspiel sein, wobei die Veranstalter Belohnungen erhalten. Sonst aber ist alles unklar. Erstens: „Liebe Frau!“ Was ist „liebe“ und was ist „Frau“? Ein Weibchen ohne Flügel? Dann aber ist sie doch Mutter und Königin, wie kann sich ein Männchen erdreisten, sie als seine liebe Frau anzureden? Und Steuer — was ist Steuer? Es muß doch wohl ein Übel sein, da der Mensch es vermeiden will. Nach der Erklärung unserer Gelehrten soll aber die Steuer bei den Menschen ein Hauptlebenszweck sein — wie also kann es ein Übel heißen? Was mich indessen am allermeisten stutzig macht, ist der Ausdruck: „Sage es niemand.“ Wie kann man etwas, was ist, nicht sagen wollen? Etwas, was nicht ist, kann doch überhaupt nicht gesagt werden, und was ist, kann durch die Rede nicht anders gemacht werden. Oder sollte es bei den Menschen möglich sein, daß etwas, was für einige ist, für andere nicht sein könnte? Das scheint mir ein unlösbarer Widerspruch.

Flügelsonne 15.

Mit einigen Führern und 56 Arbeitern auf der Jagd. Da sahen wir denselben Menschen, der uns einmal angegriffen hatte, aber diesmal war noch ein Weibchen bei ihm. Sie schienen sich sehr angelegentlich zu unterhalten. Mehrmals näherte er seinen Fühler dem ihrigen, den sie aber immer wieder zurückzog. Ich bewaffnete mich mit einem Krch’schen Sehrohr und einem Hlmz’schen Schalltaster und wagte mich bis auf das Haar[1] des Weibchens. Es schien mir von derselben [94] Art zu sein wie die neulich gefundene Haarlocke. Mit Hilfe des Schalltasters hoffte ich ihr Gespräch zu verstehen, aber ich konnte nur so viel wahrnehmen, daß sie mehrmals sagte: „Nein, nein — wir dürfen uns nicht wiedersehen.“ Der Mensch ging darauf sehr betrübt fort, gab ihr aber vorher ein Papier, das sie in die Haut steckte, oder vielmehr, wie wir jetzt wissen, in die künstliche Haut, welche die Menschen über die Naturhaut ziehen. Als er fort war, fielen einige Tropfen aus ihren Augen, wobei ich in größte Lebensgefahr geriet, weil sie sich über Gesicht und Haar strich. Dann setzte sie sich unter einen Baum und hielt das Papier vor ihre Augen. Endlich ließ sie es in den Schoß sinken und saß lange unbeweglich davor. Nun zwackte ich sie in den Hals. Sie sprang auf, das Papier fiel herab, und der Wind trug es in ein Gebüsch, wo sie es nicht wieder erreichen konnte. Die Arbeiter, welche schon Verstärkung geholt hatten, waren bei der Hand und 200 Mann schleppten das Papier in den Bau. Wir mußten das Menschenmuseum erweitern. Auf dem Papier stand ein Gedicht, das wir mit Hilfe einiger von der Expedition zurückgekehrten Gelehrten übersetzten. Es lautet:

Eine Herrin hab’ ich mir erkoren,
Lieb’ und Lieder sind ihr zugeschworen!

Ihres Auges Winke sind Befehle
Und ihr Lächeln Sonnentrost der Seele.

Worte, die von ihren Lippen schweben,
Müssen weiter mir im Herzen leben.

[95]

Wie ich tief sie hege im Gemüte,
Sproßt daraus des Liedes zarte Blüte.

Und von ihrer Nähe Licht getroffen
Wagt es sich hervor zu frohem Hoffen.

Eine Herrin hab’ ich mir erkoren,
Lieb’ und Lieder sind ihr zugeschworen!

Es ist gewiß merkwürdig, daß ein so rohes Tier wie der Mensch überhaupt derartige Kunstleistungen zustande bringt. Aber einen Sinn kann man freilich nicht darin finden. Erstens ist es schon Unsinn, daß ein Führer — und ein solcher muß doch der Mensch sein, denn gewöhnliche Männchen und Arbeiter können nicht Verse machen — daß ein Führer von einem Weibchen sich etwas befehlen lassen sollte. Und dann, was ist überhaupt Liebe? Ein Wort, mit dem die Menschen gern umherwerfen, aber ich glaube nicht, daß sie sich selbst dabei etwas denken. Wir wenigstens verstehen es nicht. Man sorgt für Puppen und Larven und für das Wohl des Staates, aber das ist doch alles selbstverständlich — — und Liebe? Das muß wohl einer von den menschlichen Instinkten sein, über die wir, dank unserer Ameisenwürde, erhaben sind.

Flügelsonne 25.

In der Beherrschung der Sprache und Schrift der Menschen habe ich gute Fortschritte gemacht. Ich versäumte keine Gelegenheit, den Menschen zu studieren, der sich oft in unserer Nähe einfindet.

[96]

Flügelsonne 26.

Je näher ich die Menschen kennen lerne, um so mehr muß ich diese unglücklichen Geschöpfe bedauern. Nur das nehmen sie wahr, worauf sie direkt ihre Sinne richten, und wie eng begrenzt sind diese! Der Erdboden, der Träger alles Weltlebens, verschließt ihnen seine unendlichen Feinheiten, bis zu denen ihre blöden Augen nicht hinabreichen. Und selbst wenn sie es thäten, wie wenig könnten sie unterscheiden! Denn all’ die mannigfaltigen, die schnellsten Kräuselungen des Äthers gehen spurlos an ihren groben Nerven vorüber. Sie fühlen nicht den magnetischen Pulsschlag der Erde, nicht die Krystallisationskraft der Stoffe, nicht die Verwandtschaft der Säfte und die Spannungen der Pflanzenzellen, das Gras hören sie nicht wachsen und die Musik der sich teilenden Spaltpilze ist ihnen versagt. Nur im betäubenden Tageslicht vermögen sie ihren Pfad zu finden, und achtlos stampft ihr breiter Fuß über die Wunder der Schöpfung. Ihr Kopf ragt hinein in die hohle, gestaltlose Luft, in welcher kein Unterschied und kein Gebilde zu erkennen ist. Welch’ feine Symbolik der Natur liegt schon hierin, daß der Mensch den Kopf aufgerichtet hält im leeren Nichts, die Ameise aber ihn gesenkt trägt zum lebensvollen Boden, dem Wohnplatze der Uremsenheit. Und während wir hier den Gesetzen des Lebens nach sicherer Leitung folgen, irrt der Mensch, ein beklagenswertes Einzelwesen, in ewiger Unbestimmtheit umher, von schwankenden Instinkten getrieben! Einer ihrer größten Führer hat gesagt: „Zwei Dinge erfüllen [97] das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ — — Wenn dies das Beste ist, was sie haben, so sind sie zu bedauern, denn ich weiß damit keinen Sinn zu verbinden. Über mir, und wenn ich auf den höchsten Baum klettere, sehe ich nicht, was sie Sterne nennen — und in mir — ich weiß nur, daß alles so ist, wie es ist — was bedeutet das Gebot: Es soll sein? Oder sollte es noch etwas geben, was selbst wir nicht zu begreifen vermögen?

Beutesonne 22.

Nach langer Pause kehre ich zu meinem Buche zurück!

Was ist Liebe? Die Frage ließ mir keine Ruhe. Immer kehrte sie mir wieder, und immer wieder zerbrach ich mir vergeblich den Kopf. Es schien mir eine Schande für das Ameisengeschlecht, daß es uns nicht gelingen sollte, die von uns abweichenden Eigentümlichkeiten des rohen Menschen kennen zu lernen und zu erklären, und da das Problem der Liebe nicht zu den Aufgaben gehörte, welche unserer Expedition ausdrücklich gestellt waren, so trieb mich Wißbegier und — gesteh’ ich’s nur, obwohl dies fast nach menschlicher Ansteckung aussieht — auch eine Art von Ehrgeiz, die Lösung der Frage auf eigene Gefahr zu versuchen. Es war ein Leichtsinn! Mit Schaudern denke ich an die Tage zurück, welche ich verleben mußte — ein Wunder, daß ich sie überleben konnte!

[98] Ich begab mich so oft wie möglich an die Stelle, an welcher wir die Menschen beobachtet und das Gedicht erobert hatten. Fast jeden Tag sah ich den Menschen dort auf einem Baumstamm sitzen und über das Wasser des kleinen Teiches hinweg in die Ferne schauen, ohne daß ich irgend einen Gegenstand entdecken konnte, welcher der Aufmerksamkeit eines Menschen mir wert schien. Endlich — es war an der zweiten Beutesonne, fast der ganze Stock war auf dem Kriegspfade und ich saß wieder über dem Menschen an dem alten Platze — endlich bemerkte ich auf dem Menschenwege am andern Ufer des Wassers jenes Weibchen, aber nicht allein, sondern in Gesellschaft eines älteren, wie ich an dem langsamen Gange bemerkte. Der Mensch sprang auf, aber sogleich setzte er sich erschrocken wieder hin und verbarg sich hinter dem Laubwerk. Lange blieb er so, den Kopf in die Hand gestützt, traurig sitzen. Sonst war er so schnell und freudig dem Weibchen — ein Mädchen nennen es die Menschen — entgegengegangen, und jetzt versteckte er sich? Es war mir unerklärlich. Er zog seine Schreibtafel hervor. Ich näherte mich unbemerkt, und da ich jetzt die nötige Übung im Übertasten der Menschenschrift besitze, gelang es mir, was er sehr langsam und in Pausen niederschrieb, zu verstehen. Es lautete:

Nach dem Wege späh’ ich am Weiher drüben,
Ob du kommst, Geliebte, herabzuwandeln —
Ach, zu tief herniedergebeugte Zweige
     Hemmen den Blick mir!

[99]

Aber sieh, von rosigem Lichte schimmert
Dort im Uferschatten die leichte Welle,
Von den Strahlen deines Gewands getroffen
     Hold dich verratend.

Ach warum, warum nur im Wiederscheine
Darf ich deine süße Gestalt erblicken?
Ach warum, du Liebliche, soll ich niemals
     Selbst dir begegnen?

Ewig trennt die neidische, dunkle Fläche
Von einander uns die ersehnten Wege,
Und herüber zittert nur deines schwanken
     Bildes Erscheinung.


Ja warum denn? Er brauchte doch nur um den Teich herumzugehen — Wie dumm doch die Menschen sind! Ich beschloß, das Äußerste zu wagen, um dieses Warum zu ergründen. Der Mensch schickte sich an fortzugehen. Ich begab mich auf ihn, ich ließ mich von ihm tragen — ins Fremde, ins Ungewisse — wahrscheinlich in den Tod! Aber ich wollte es wissen — was ist Liebe?

Der Weg war weit, wir hätten auf eigenen Füßen wohl eine Tageswanderung gebraucht. Da blieb der Mensch so plötzlich stehen, daß ich fast herabgefallen wäre. Und eben so plötzlich setzte er seinen Weg fort. Die beiden Weibchen kamen ihm entgegen. Nun hatte er ja seinen Wunsch erreicht, jetzt konnte er wie früher mit ihr reden. Und ich erwartete, daß sie ihm entgegenspringen werde. Aber was geschah? Sie sah ihn garnicht [100] an, er hob schweigend den Arm nach seinem Kopfe — ich verlor das Gleichgewicht und flog durch die Luft. Als ich wieder zur Besinnung dessen kam, was eigentlich mit mir geschehen sei, waren beide, der Mensch und die beiden Weibchen, schon ein Stück von einander entfernt, und bald verlor ich den Menschen aus dem Gesicht. Ich saß nämlich, wie ich jetzt bemerkte, in dem Gewande des Mädchens. Hier hielt ich mich verborgen, ich weiß nicht wie lange.

Eine plötzliche starke Erschütterung des Kleides warf mich auf den Boden. Als ich imstande war mich umzusehen, fand ich mich in einer Menschenwohnung. Das Weibchen war allein, aber sie hatte jetzt ein weißes Gewand an. Es war dunkel im Zimmer, nur auf dem Tische, an welchem das Weibchen saß, leuchtete eine helle Flamme. Ich sah mich in meinem Schrecken zunächst nach einem Zufluchtsort um, dann aber besann ich mich meiner Aufgabe und wanderte mutig dem Lichte entgegen. Auf dem Tische angelangt verbarg ich mich in einem dort stehenden Blumenstrauße und konnte nun das Weibchen genau beobachten. Sie hielt ein Bild — die Menschen ahmen merkwürdig geschickt alles nach, was sie sehen — in ihrer Hand; einige Blätter Papier, in denen sie eben gelesen, lagen neben ihr. Ich hatte später — leider! — Gelegenheit, den Inhalt genau zu vermerken und will ihn sogleich hier verzeichnen unter der Überschrift:

[101]

Lieder des Menschen.

Ja, ich bin glücklich, wenn ich dich gesehn,
Wenn ich ein Lächeln, einen Blick gewonnen!
Beseligt kann ich meines Weges gehn,
Wo ich auch wandle, strahlen milde Sonnen.

Die milden Sonnen sind die Augen dein,
Sie leuchten mir ins Schattenreich des Lebens.
So lang’ ich atmen darf in ihrem Schein,
So lange, weiß ich, leb’ ich nicht vergebens.

Ja, ich bin glücklich, wenn ich dich gesehn!
Du bist der stille Segen meiner Tage;
Denn alles Glück ist mir durch dich geschehn,
Seit ich dein Bild im tiefsten Herzen trage.




Unbegriffen, wie die Welt
Sich erfüllt in eignem Weben,
Hat sich wundersam gesellt
Ein Gedanke meinem Leben.

Daß ich nimmermehr mein Sein
Von dem deinen weiß zu scheiden,
Daß ich dein und daß du mein,
Und daß alles ist uns Beiden.

Daß ich dein gedenken muß,
Ob ich nahe dir, ob ferne,
Und daß meiner Sehnsucht Kuß
Ewig weilt bei meinem Sterne.



[102]

Wenn ich dein gedenke,
Wird die Welt mir fern,
Meine Seele schwebet
Über Raum und Stern.

Wenn ich dich erblicke,
Wird mir heiß zu Sinn,
Unruhvolles Treiben
Drängt nach dir mich hin.

Wenn ich leise rühre
Hand an deine Hand,
Ach, in sel’ger Enge
Haft’ ich festgebannt.




Du siehst mich leben, siehst mich ruhig wandeln
Die ausgetretnen Gleise meiner Tage.
Ja, ich kann lächeln, kann verständig handeln
Und vorwärtsschreiten — das ist keine Frage.

Doch dir ins Ohr muß ich es anvertrauen:
Ich bin’s nicht mehr, nicht Ich, der sich gestaltet!
Ein Schatten ist’s, ich fühl’s mit tiefem Grauen,
Der seelenlos an meiner Stelle waltet.

Die Seele floh, und dich hat sie erkoren,
An deinen Augen hängt sie, deinem Munde!
Gieb sie zurück! Doch nein, sie sei verloren —
Gieb deine Seele mir, daß ich gesunde!




Ich weiß es nicht, wo die Geliebte weilt
Und was sie schafft mit den geweihten Händen,
Wer ihres Wandels holde Nähe teilt,
Wem ihre Augen, ach, mein Glück verschwenden!

[103]

Ob sie in Sorgen wacht, ich weiß es nicht,
Ob sie das schöne Haupt geneigt zum Schlummer —
Vielleicht, o Gott, gebeugt der strengen Pflicht
Muß jetzt sie lächeln unter ihrem Kummer.

Doch weiß ich Eins: Mit ihrem Schmerz allein
Wildschluchzend bebt sie auf in heißem Sehnen —
Ich weiß, auch sie — auch sie gedenket mein
Und heimlich trocknet sie die stillen Thränen.




Es ist mein Stern aus seiner Bahn gegangen
Und seiner Pole Umsturz ward vollbracht.
Nun wandel’ ich am Tage traumbefangen
Und grübelnd bang durchwach’ ich meine Nacht.

Ich blick’ empor, und meine Sinne irren
Befremdet in der dunkeln Welt umher.
Sind es nur Nebel, die den Weg mir wirren,
Sperrt ewig ihn das abgrundtiefe Meer?

Noch glüht ein Schimmer mir aus Wolken nieder,
Ein ferner Hoffnungsstrahl, der sie durchbricht.
O raub’ ihn nicht! Gieb mir das Leben wieder!
Geliebte Sonne, gönne mir dein Licht!


Das Bild war ihrer Hand entfallen. Mit Erstaunen sah ich, daß es den Menschen darstellte, an welchem sie heut so kalt vorübergegangen war. Und jetzt — unbegreiflich — erfaßte sie wieder das Bild und drückte ihre Lippen darauf — gerade wie es der Mensch mit jener Haarlocke gemacht. Ich weiß jetzt, daß dies das Zeichen [104] der höchsten Billigung bei den Menschen ist, wie aber ist es erklärlich, daß sie dies bei dem Menschen that, den sie eben so schlecht behandelt hatte? Dabei rannen Tropfen aus ihren Augen. Jetzt begann sie selbst zu schreiben. Auch ihre Zeilen hatte ich Zeit genau zu studieren.


     Lieber teurer Freund!

Freuen Sie sich nicht, daß Sie einen Brief von mir erhalten, er wird Ihnen eine Enttäuschung bringen, aber es muß sein. Es ist mir klar geworden, ich kann das Leben nicht mehr ertragen, das ich führe, es ist ein Leben der Lüge. Ich betrüge meine Eltern, ich betrüge die Ihrigen, und so lebe ich in einer ewigen Furcht vor Entdeckung. Schon ist meine Mutter mißtrauisch geworden, ich habe Sie deswegen gemieden — so schwer es mir wurde. Es muß noch Schwereres geschehen, ich darf Sie nicht wiedersehen. Ich weiß keinen andern Weg. Eine Entdeckung wäre mir entsetzlich, und wir würden dann unter Schimpf und Schande getrennt. Das wird Ihre Liebe nicht mir zumuten wollen. Darum trennen wir uns freiwillig. Denn der andere Weg, daß wir den Unsern unsere Liebe bekennen, daß wir alles auf uns nehmen und der Welt um unserer Liebe willen trotzen, der ist uns verschlossen. Nie wird mein Stolz gestatten, daß Sie um meinetwillen die glänzende Laufbahn aufgeben, zu der Sie bestimmt sind, daß Sie die Pflichten versäumen, welche Sie dem Leben schulden, daß Sie alle Schranken durchbrechen, um im Kampfe [105] mit Not und Elend sich ein neues Dasein zu gründen — und anders wäre es nicht möglich, das wissen Sie. Und daß ich auch die Meinigen für immer verlieren würde, wenn ich Ihnen, dem Fremden, dem Andersgläubigen folgte — Nein, es kann nicht sein, und Sie können es auch nicht, wenn Sie wollten. Ihre Liebe ist nicht für die Ewigkeit. Sie werden Lydia bald vergessen. Ich weiß, die Zeit ist nicht fern, in welcher ein anderes Bild das meinige aus Ihrem Herzen verdrängt — — Werden Sie glücklich, es ist besser so.

Ich weiß, wie schuldig ich bin, ich durfte Sie nicht anhören, wenn Sie so lieb sprachen — aber Gott weiß in Ihrer Nähe hatte ich alles vergessen, was ich sagen wollte und mußte. Verzeihen Sie mir. Nie werde ich wieder gegen einen Mann freundlich sein, das sei meine Buße. Ich liebe Sie, ich will Sie lieben wie einen Freund und Bruder und Ihnen mein Leben lang danken für die glücklichen, unendlich glücklichen Stunden Ihrer Liebe. Jetzt sind wir frei, eine Zentnerlast fällt mir vom Herzen, da ich es Ihnen gesagt habe.

Schreiben Sie mir nicht wieder, an meinem Entschlusse können Sie nichts ändern, es könnte nur zu einer Entdeckung führen.

Lydia.


Ich dachte immer, Liebe sei der Instinkt, wodurch man etwas allem anderen vorzieht; nun sah ich, daß Liebe die Menschen von einander treibt. Das verstehe [106] wer kann! — In meinem Forschungseifer hatte ich mich auf den Tisch gewagt, während Lydia — das ist so ein Menschenname, den man garnicht aussprechen kann — den Brief zusammenfaltete. In diesem Augenblicke ging die Thür auf. Lydia hatte kaum Zeit, die Papiere und das Bild zusammenzuraffen und in ein Schränkchen zu verschließen, das zu dem Tische gehörte. Das alte Weibchen war hereingekommen. Dies war, wie ich bald erfuhr, Lydias „Mutter“; bei den Menschen hat nämlich jeder seine eigene „Mutter“ — ein mir nicht ganz klarer Begriff. Sie war ungehalten, daß Lydia noch schrieb, und fragte, was sie da so eilig verberge? Sie griff nach einem Blatte, das liegen geblieben war, aber jetzt erblickte sie mich, und mit dem Ausruf: „Eine Ameise! Ich kann die Tiere in den Tod nicht leiden!“ schlug sie nach mir. Ich entfloh unter das Schreibzeug, sie rückte es fort, sie jagte mich weiter, endlich aber gelang es mir mich zu verbergen, und wie ich aus meinem Versteck bemerkte, hatte Lydia inzwischen auch das letzte Blättchen gerettet. Wieder ein Beispiel von der Eigentümlichkeit der Menschen sich gegenseitig manches zu verbergen!

Das Licht war verschwunden. Ich konnte mich nach kurzer Ruhe hervorwagen und meine Entdeckungsreise beginnen, denn im Finstern sehen die Menschen nichts. Mein Ziel war das Schränkchen, in das ich durch das Schlüsselloch eindrang. Ich fand Kästchen mit Schmucksachen, vertrocknete Blumen, Papiere und Briefe, und ich nahm mir vor, hier eingehende Studien zu [107] treiben. Wenn irgendwo, so mußte hier zu entdecken sein, was Liebe ist, denn Lydia schien dies ja genau zu wissen.

Vergebens sah ich mich nach Nahrungsmitteln um. Mich hungerte und ich verließ wieder das Schränkchen. Weite Wanderungen legte ich unter Entbehrungen und Gefahren zurück, ich fühlte mich einsam und beklagte meinen Fürwitz. Schon nahte der Tag und ich mußte daran denken mich zu verbergen. Da — ich atmete auf — spürte ich die Nähe von Honig. Ich drang durch die Ritze eines Schrankes, ich fand einen großen Vorrat — aber — andere Ameisen waren bereits dabei! Sie stürzten auf mich zu — ich war verloren oder wenigstens zum Sklaven gemacht! Ich wollte tapfer sterben und rüstete mich zum Kampfe. Den ersten packte ich mit den Zangen — da berührten ihn meine Fühler, und — ich erkannte Rlf! Es war unser eigener Stamm, unsre Expedition, die hier ihr Vorratslager hatte. Im Triumphe führten sie mich in ihr Versteck unter den Dielen. Sie erzählten von ihren Entdeckungen, sie zeigten mir die große Anzahl übertasteter Keulenkäferchen, eine glänzende Bibliothek, aber vor allem hatte ich das Bedürfnis nach Nahrung und Ruhe. Beides wurde mir zuteil.

In der nächsten Nacht führte ich eine Abteilung unserer Expedition mit den nötigen Keulenkäferchen in Lydias Geheimfach, um die Akten der Liebe zu durchstöbern und aufzunehmen. Wir begannen zu übersetzen und zu übertasten. In unserm Eifer bemerkten wir [108] nicht, daß draußen der Tag längst angebrochen war, als wir durch die laute Stimme der Mutter aufmerksam gemacht wurden. Noch hofften wir verborgen bleiben zu können. Wir lauschten mit unsern Ferntastern. Sie stritt mit Lydia und verlangte von ihr den Schlüssel des Schränkchens. Plötzlich wurden wir vom hellen Tageslicht geblendet, das durch die geöffnete Thür schien. Die Mutter guckte herein, aber ehe wir uns retten konnten, schlug sie die Thür wieder zu und schrie:

„Wieder Ameisen! Ein ganzes Nest! Und über den Honig sind sie auch gegangen. Wo ist der Spiritus? Wir wollen sie hineinthun, Ameisenspiritus ist so gut gegen Rheumatismus. Ich will nur ein Töpfchen holen.“

Ameisenspiritus! Entsetzlich! Was wollte man mit uns? Zerquetschen? Ertränken? Und nirgends eine Rettung? Wir kletterten zum Schlüsselloch; es war unzugänglich, der Schlüssel steckte darin — kaum ein Keulenkäferchen hätte sich durchdrängen können. Nirgends ein Spalt, eine Ritze, überall die glatte Politur — wir rannten ohne Überlegung umher. Da öffnet sich noch einmal die Thür auf einen Moment, Lydias Hand greift hinein und erfaßt das Päckchen Papier, das sie schnell in ihre Tasche gleiten läßt. Einige von den unsern werden dabei hinausgeschleudert und vernichtet. Die Thür ist wieder geschlossen. Wir hören die Alte zurückkommen, sie ruft nach dem Spiritus — da, beim Herausreißen der Papiere hat sich der Deckel eines Pappkästchens verschoben, wir kriechen durch den schmalen Spalt. Auf Watte lag ein großer gewundener Wurm [109] von blankem Stoffe, wie ihn die Menschen am Arme tragen. Am Kopfe hatte er zwei Augen, in dem einen saß ein roter Stein, das andere war leer. Inwendig war der Wurm oder die Schlange hohl — hier konnten wir uns verbergen! Führer, Arbeiter und Keulenkäferchen, alles brachten wir in den Windungen des Armbands unter. Wir hörten die Mutter schelten — weder die Ameisen noch die Papiere fand sie!

Es folgten die furchtbarsten Tage meines Lebens. Der Schrank blieb verschlossen, aber auch das Schlüsselloch. Es war uns unmöglich zu entfliehen. Wenn Geräusch entstand, verbargen wir uns in dem Armband. Hier saßen wir zusammengedrängt, vom Hunger erschöpft. Nach einer solchen Flucht fanden wir die Papiere wieder im Schranke vor, wir studierten sie weiter trotz unseres erbarmungswürdigen Zustandes. Der Schlüssel war auch wieder abgezogen, aber es war ein anderer fester Gegenstand vorgeschoben, den wir nicht beseitigen konnten. Noch immer keine Aussicht auf Rettung! Wir versuchten das Papier zu verzehren, aber es bekam uns nicht.

Beutesonne 17 starb der Führer Mrs und fünf Arbeiter. Die Käfer sind noch wohlauf. Beutesonne 18 verloren wir einen Führer und zehn Arbeiter. Wir hatten beschlossen, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Sich beim Öffnen der Thür hinauszuwagen, wäre direktes Verderben gewesen. Wir hatten jedoch bemerkt, daß, wenn die Thür aufging, an der Seite, wo sie sich drehte, ein schmaler Spalt entstand. Ein Führer und [110] zehn Arbeiter sollten bei der nächsten Öffnung des Schrankes den Versuch machen, sich hier hinauszuschleichen. Gelang das Wagnis, so sollten die übrigen es später ebenfalls versuchen. Sie warteten an der passenden Stelle, aber — als die Thür aufging, wurden sie zu unserm Entsetzen durch die einwärts tretende Kante grausam zermalmt! Wir waren in Verzweiflung. Hoffnungslos untersuchten wir, was in den Schrank gelegt worden, — neue Papiere — was nutzten sie uns jetzt? Aber da, ein Päckchen, süß duftend — wir zernagen das Papier — eine dunkle, süße Masse — wir kannten sie nicht, aber sie schmeckte herrlich! Wir waren vorläufig vor dem Hungertode gerettet! Mit erneuter Kraft ging ich an die Übersetzung der Papiere. Der Inhalt lautet:

O rede nicht mir von Verstand und Pflicht!
Wer hat der Liebe dunkles Reich ermessen,
Wo Wunsch und That sich selber widerspricht?
Ich kann es nicht, und will nicht dein vergessen!

Um einen Preis nur stand ich still zurück, —
Um deinen Frieden konnt’ ich von dir lassen.
Doch gönn’ ich die Geliebte nur dem Glück,
Und was dich elend macht, das muß ich hassen.

Ertragen will ich, was dein Wink befiehlt,
So lang’ dein Lächeln leuchtet durch die Tage;
Wenn sich die Thräne dir vom Auge stiehlt,
Wie wär’ es möglich, daß ich dir entsage?



[111]

Sind die Tage nicht verronnen,
Sind die Rosen nicht verblüht,
Seit aus deiner Augen Sonnen
Mir der letzte Strahl geglüht?

Seit dein Wort zum letzten Male
Vom geliebten Mund getönt,
Nicht mehr an die erz’ne Schale
Hat der Stunden Schlag gedröhnt.

In ein ew’ges Jetzt erstarret
Ist der flüchtige Moment,
Und der dumpfe Schmerz verharret,
Und die Sehnsucht wühlt und brennt.

Mich vom Erdentod zu retten
Hast du mich der Zeit entrückt,
Und der Sinne Sklavenketten
Liegen machtlos und zerstückt.

Ob der Weltenlauf verronnen,
Ob der Sternenglanz versprüht,
Raumlos über allen Sonnen,
Zeitlos meine Liebe glüht.


Und hierunter stand von derselben Hand:

„Wie diese Blätter, so werde auch ich den Weg zu Dir finden, trotz alledem! Dein für immer.“

Beutesonne 19. Der Schlüssel klirrte, wir flohen in das Armband. Aber, o Schrecken! Die Schachtel wird geöffnet — wir verbergen uns in der äußersten Windung — das Armband wird emporgehoben, Lydia hat es angelegt! Wir halten uns fest zusammen. [112] Langsam verrinnt die Zeit, schwer werden wir durcheinandergeschüttelt, aber frische Luft dringt durch das Schlangenauge — Waldluft! Die Erschütterungen hören endlich auf — alles ruhig. Ich wage mich als Kundschafter hinaus — wir sind am Weiher! Lydia sitzt ruhig da — vielleicht können wir entfliehen — ich winke den Genossen. Da nahen Schritte, es ist jener Mensch! Lydia erblickt ihn, sie springt auf und schreitet eilig nach der anderen Seite, sie flieht ihn und er wendet sich mit finsterm Blicke zum Gehen.

Da — ein Schrei — Lydia schleudert das Armband von sich — der unvorsichtige Rlf hat die Genossen herausgeführt, sie wollten entfliehen, aber bei der ersten Berührung ihres Armes bemerkt Lydia, daß sie aus dem Armband hervorquellen — das goldne Gefängnis mit der ganzen Expedition liegt im Grase. Ich sehe noch Lydia wie versteinert stehen und auf ihren Arm starren, ich sehe den Menschen umkehren und sich ihr nähern, er fragt, ob sie verletzt sei, er ergreift ihre Hand, er blickt auf ihren Arm, er drückt ihn an seine Lippen — nun endlich scheint sie sich zu besinnen, daß sie fliehen wollte — — Die Genossen sind schon auf der Wanderung nach dem Stock, ich allein hafte in Lydias Gewande, ich kann mich nicht entschließen, zu fliehen, bis ich gehört habe —

„Vertrau’ mir,“ sagte er. „Ich bin dein, werde dein fürs Leben. Ich habe es durchgesetzt mich von allen Schranken zu lösen. Ein bescheidenes Loos, aber ein freies. Was ist mir die Welt ohne Dich? Du [113] bist mein Glück, meine Hoffnung, nur in deiner Liebe finde ich meine Kraft. Ich werde dich erringen, fürchte nichts!“ Sie schweigt, sie weint. „Ich kann ja nicht anders,“ flüstert sie endlich. „Ich habe gerungen gegen Dich, gegen mich — ich war zu schwach. Nun komme was da wolle. Ich kenne nichts mehr, als deine Liebe!“ Er sank zu ihren Füßen, ich fiel zu Boden. Ich mußte den Genossen folgen.

Aber was ist Liebe? Ich habe es nicht erfahren. Das höchste Glück und das höchste Elend der Menschen? Sie werfen es fort, und dann vergessen sie alles um der Liebe willen? Den ganzen Staat für einen Menschen, die Welt um ein Weibchen? Unglückseliges, bedauernswertes Geschlecht! Wie weise sind doch die Einrichtungen der Ameisen! Wie herrlich das „Unbebewußtsein der unvermeidlichen Handlungsweise!“ — Morgen ist die erste Hochzeitssonne. So ist es ein Jahr wie das andere, und das ist gut so.

Hochzeitssonne 3.

Wieder ordentlich im Stocke eingerichtet. Mögen die Menschen machen was sie wollen, ich habe höhere Pflichten, als mich um den Unsinn zu kümmern, den sie Liebe nennen. Bei uns läuft alles im Stock durcheinander. Es ist Zeit, daß die unnützen Esser, die Männchen, beseitigt werden.

Hochzeitssonne 5.

Am nächsten schönen Sonnentage, den wir haben, wird das Hochzeitsfest gefeiert. Es ist eigentlich schade, [114] daß mein guter Freund Klx ein Männchen ist, in wenigen Tagen ist es mit ihm vorbei. Wäre er als Führer ausgekrochen, so hätte etwas aus ihm werden können; für ein Männchen macht er sich viel zu viel Gedanken. Es scheint wirklich, als wären wir alle schon ein wenig angesteckt von der Zerfahrenheit und Unbefriedigung der Menschen. So fragte mich Klx, warum er nach der Hochzeit sterben müsse. Dumme Frage! Weil er dann nichts mehr nutze ist. Gewiß hat er einmal etwas von dem sogenannten Selbstzweck gehört, auf den sich die Menschen etwas einbilden. Und was dann aus ihm würde? Ob es wahr wäre, daß er in die Erde komme, in den großen Ameisenstock, wo es nur Führer gibt und keinen Winter? Und ob im nächsten Jahre und dann immer wieder es Männchen geben würde? Und ob hinter dem Walde noch andere Wälder und darin Ameisen und immer wieder Ameisen wären? Und warum es so viele gebe, wenn sie doch nie miteinander Krieg führen und Puppen erbeuten könnten? Es sei oft ein seltsames Gefühl in ihm, wenn er daran denke, daß alles Dies wäre und geschähe und vorwärtsginge, gleichviel, ob er davon wisse oder nicht, und daß es so garnicht auf ihn ankäme und er doch seine Flügel und Fühler habe und seines Lebens sich freue. Ich sagte ihm, das fühle freilich ein jeder, aber man dürfe davon nicht reden, weil sich durch keine Worte sagen lasse, was das Ameisenherz in sich erlebt, und wenn er es andern übertasten wolle, so werde es etwas ganz andres werden, als er in sich fühle, und [115] es entstünde flaches Gered’ und eitel Gezänk, und zuletzte zwackte man sich die Fühler ab. Dann wollte er gar wissen, ob bei den Menschen die Männchen auch nach der Hochzeit stürben — da hieß ich ihn die Taster halten, von den Menschen brauche er überhaupt nichts zu wissen, denn das sei eine Sache der Bildung, die nur die Führer anginge. Und damit schickte ich ihn fort. Soviel ich weiß, bleiben übrigens bei den Menschen die Männchen leben, sie sollen nur etwas träger werden. Es müssen dort merkwürdige Verhältnisse herrschen. Große Volksfeste haben sie wohl auch, aber an unser Hochzeitsfest dürften sie nicht heranreichen. Gerade die wichtigste sociale Frage scheinen sie als Privatsache zu behandeln. Wunderbar!

Hochzeitssonne 15.

Gestern war der große Tag. Die Sonne schien mild und warm. Hochzeitsgetümmel in den Lüften! Selige Ameisenschaft, heute Leben und Wonnesein, und dann ist’s vorbei. Die Männchen sind heute fast alle schon dahin, auch unter den Weibchen haben die Vögel tüchtig aufgeräumt. Die übrig gebliebenen haben wir zum größten Teile bereits in die Winterzellen gebracht. Für die Zukunft des Stockes ist gesorgt, und nun mag das Jahr zu Ende gehen.

Wintersonne 1.

Endlich ist der Rest der Expedition von den Menschen zurückgekehrt, tausende von eingetasteten Käfern führen sie mit sich, wir müssen unsere Bibliotheksräume durch [116] einen Anbau erweitern. Unsere Gelehrten haben mehrere Menschenbücher übersetzt, ich habe schon viel darin gelesen, aber wenig verstanden. Vielen Menschen soll es auch so gehen. Was sich die Menschen einbilden! Sie nennen sich die Herren der Schöpfung und wissen nicht, daß sie nur aus der Erde gewachsen sind, damit wir an ihnen unsern Verstand üben und unsern Geist unterhalten. Denn sonst wüßte ich nicht, was sie eigentlich nützen.

Wintersonne 5.

Die Abrechnung über unsere Eroberungszüge ist beendet. Das Jahr war ein mittelmäßiges, viel Verluste, aber auch reichliche Sklaveneinfuhr, dagegen wenig Puppen erbeutet. In mein Tagebuch schreibe ich nichts von den Kriegsgeschäften, es lohnt sich nicht. Die Menschen machen von ihren Kriegen furchtbar viel her, das kommt aber daher, weil sie dieselben gegen ihre Freunde und nicht gegen ihre Feinde führen. Denn von den Feinden heißt es ausdrücklich, daß sie sie lieben sollen. Aber da ist wieder das unverständliche Wort!

Wintersonne 8.

Heute noch einmal im Freien, vielleicht zum letzten Male. Das Laub fällt von den Bäumen und die Herbstspinnen fahren durch die Luft. Wir sahen unsern Menschen wieder, und das Weibchen war bei ihm. Sie schienen sehr befreundet, denn sie streichelten und liebkosten sich — dabei sprachen sie in großer Furcht davon, daß andere Menschen sie sehen könnten. Er sagte:

[117]

Durch wirbelnde Blätter schritt ich dahin —
Was raunte der Wind mir ins Ohr?
„Du findest ihn nimmer, den süßen Gewinn,
Was suchst du, irrender Thor?
Verweht die Wege, entfärbt die Flur,
Grauwallende Nebel verhüllen die Spur,
Und ferne der Lenz und das Licht —
Die Blumen, sie blühen dir nicht!“

„Du wirbelndes Laub, du sausender Wind,
Mir habt ihr vergebens gedroht!
Nun bin ich getrost, nun schreit’ ich geschwind,
Enthoben der quälenden Not.
Den Schleier durchbrach ein himmlisches Blau,
Mich grüßten die Augen der holdesten Frau.
Und Wangen, die rosig erglüht!
Die Blumen, sie sind mir erblüht!“


Warum nur die andern Menschen davon nichts wissen sollten? Das Unaussprechliche verhandeln sie vor dem Volke in großen Versammlungen und das, wovon doch das Gedeihen des Stockes abhängt, scheuen sie sich zu besprechen, und nur in der Einsamkeit wagen sie ihre Liebkosungen. Trotz aller Ameisenähnlichkeit — sie bleiben doch immer bloß Menschen!

Wintersonne 16.

Es ist kalt geworden. Die Eingänge zum Stock sind verschlossen und verstopft. Heut haben wir den letzten Weibchen die Flügel abgenommen und sie in ihre Zellen gesteckt. Nun haben wir Ruhe!

Ich las in der Bibliothek in einem Menschenbuche [118] eine seltsame Geschichte, die ich nicht glauben kann. Es war ein Mensch, wahrscheinlich ein Führer, der mehr wußte wie die andern und ihnen das alles sagte, weil er glaubte, daß es gut sein würde für den Stock; und das finde ich ganz selbstverständlich. Den andern Führern aber gefiel es nicht, weil er auch zu den Sklaven sprach, daß sie nicht geringer seien als die Führer. Da nahmen sie ihn und sagten, wenn er nicht seine Taster still halte, so würden sie ihn totzwacken. Das ist ja auch ganz richtig, denn wer den Führern und damit dem Stock schadet, muß totgezwackt werden. Nun aber kommt das, was ich nicht verstehe. Der Mensch wurde nicht etwa still, sondern er fuhr fort, seine Meinung zu behalten und zu behaupten. Wie kann das sein, daß einer von der Meinung der Führer abweicht? Und wie sie ihn nun zwackten, so hörte er doch nicht auf zu reden, sondern er hob seine Taster vor allem Volke und rief: „Ihr könnt nicht richten über mein Gewissen, das mich heißt die Wahrheit zu künden. Höher als das Leben steht die Freiheit der Überzeugung. Totzwacken könnt Ihr mich wohl, aber meine Worte werden bleiben und ich sterbe gern für die Freiheit!“

Was soll das alles heißen? Freiheit? Dummes Zeug! Ich krieche in meine Winterzelle.


  1. Im Original: aar