Aus dem Nachlaß von Karl Stieler
[516] Aus dem Nachlaß von Karl Stieler. Der litterarische Nachlaß von Karl Stieler ist veröffentlicht worden. Er ist nicht umfangreich, denn der Dichter gehörte zu den Glücklichen, deren Werke gesucht waren und sofort Absatz fanden. So konnten seine „nachgelassenen Werke“ in zwei kleinen Bänden vereinigt werden, die vor Kurzem im Verlage von Adolf Bonz u. Komp. in Stuttgart erschienen sind.
„Kulturbilder aus Bayern“ ist der Titel des einen Werkchens, in dem uns eine ausgewählte Sammlung der Vorträge geboten wird, welche Karl Stieler in den verschiedensten Städten Deutschlands über das Volksleben seiner Heimath mit großem Erfolg gehalten hatte. Es sind treffliche Essays, in denen der Prosaist Stieler in seinen besten Eigenschaften vor uns tritt und von welchen der Herausgeber derselben Karl Theodor Heigel mit vollem Recht sagen durfte: „Die herzliche Freude, die mit der wiederholten Lektüre der Essays verbunden war, wird Jeder, der den Reiz der harmonischen Kunstgebilde auf sich wirken läßt, mir nachempfinden. Beschreiben läßt sich die Blume eines leichten und doch feurigen Weines nicht.“
„Ein Winter-Idyll“ heißt das andere Werkchen, das in anmuthigen Versen das Lebensglück des Dichters schildert, wie es ihm einst unter dem Dache seines väterlichen Landhauses entgegen lachte. Ursprünglich beabsichtigte Stieler, in diesem Winter-Idyll sein ganzes Leben, auch die Begegnungen mit seinen Freunden, zu beschreiben, es ist ihm aber die Ausführung dieses Planes nicht mehr möglich gewesen; was er schaffen konnte, bezieht sich nur auf seine engeren Familienverhältnisse. Um so besser, möchten wir sagen, denn durch den reinen Herzenszug, der durch das ganze Werkchen geht, muthet uns dasselbe wundersam traulich und herzgewinnend an. Stieler war ja der Glückliche, der das Resultat seines Gebens in die schlichten Worte fassen konnte:
„Wenn ich daheim bin, werden sie wohl fragen,
Was ich erlebte? – Doch dann schweig ich still.
Was ich erlebte? … Nichts. – Nur ein Idyll.“
Doch besser als alles Loben und Erwägen wird ein kleines Citat aus jener Dichtung unsere Leser den echten Werth derselben erkennen lassen. „Kinderzeiten“ lautet der Abschnitt, aus dem wir das folgende Genrebildchen herausgreifen:
„Und einmal wieder schien die Sonne warm,
Ich saß im Gärtlein auf der Mutter Arm
Und sah ins Blau und sah hinab zur Erden.
Da frug sie lachend: ‚Sag, was magst du werden?‘
Ein erstes Kind, das man so kindisch liebt,
Man frägt’s ja gern schon, eh’s noch Antwort giebt.
‚Was magst du werden, Du mein kleiner Fant?
Gewiß ein Maler oder Musikant?‘
Da rollt die Post vorbei mit hellem Ton.
‚Am Ende gar ein kleiner Postillon?‘
Doch trotzig schüttelt’ ich das winz’ge Haupt,
Das kaum der erste blonde Flaum umlaubt.
‚Ja was denn sonst?‘ scherzt mir die Mutter vor
Und hebt im Spiel die schlanke Hand empor.
‚Zuletzt ein Dichter? – Wart’, du arges Blut!‘
Da nickt das Köpflein fest und resolut.
Sie aber lacht: ‚Schaut nur den Unband an,
Der dichten will und – noch nicht sprechen kann!‘“
Eltern- und Gattenliebe, die herrlichen Blumen, die uns freundlich blühen am dornenvollen Wege des Lebens, wie innig wahr hat sie Stieler in seinem Idyll besungen! Er hat es aus seinem Herzen und für sich gedichtet, er schuf uns aber, ohne es zu ahnen, ein verklärtes Bild eines echten Familienlebens, das in tausend Herzen Wiederklang findet!
Das ist die reine letzte Gabe des heimgegangenen Dichters!