Zum Inhalt springen

Aus alten Zeiten/Johannisabend (1824)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Traute Heimat Aus alten Zeiten
von Paul Seeberg
Eine Jagd
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[105]
6. Johannisabend (1824).




Die Arbeit ruhte. Ein buntes Gehen und Reiten, Rennen und Fahren nahm den Weg ein, der nach dem Edelhofe führte. Es war Johannisabend (d. 23. Juni). Dies Wort allein elektrisiert im Norden alt und jung, zu­mal auf dem Lande. So war denn auch heute die ganze Bauerschaft von Wahnen und Asuppen auf den Beinen, vom ältesten Bettler, der nur noch die Füße hebt, bis zum kleinsten Blondkopf, der noch mit den Brüdern laufen kann. Alles eilt zu Schmaus und Kurzweil nach dem Hof, wo an unabsehbaren Tischen Speise und Trank der Kommen­den harren und auch sonst von der gütigen Herrschaft mit freigebigen Händen alles vorbereitet ist, was den Leuten einen fröhlichen Abend schaffen kann.

Wie sie dahinjäckelten, manche sogar ohne Sattel, die jungen Bursche auf den magern, leichthufigen Kleppern! Dabei ward gescherzt und gelacht und geneckt, um die Wette getrottet oder gejagt und endloser Staub aufgewirbelt. Dazwischen eilten die Mädchen hin, bald einzeln, bald schwesterlich geschart, mit ihren blauen oder bunten Miedern, in ihren streifigen, selbstgewebten Röcken, mit dem möglichst roten Seidentüchlein auf dem Kopf; hier und da auch schon eine modernisierte Bauernschöne, die der Mütter­ Tracht abgethan hat und dafür desto eitler einherprangte in ihrem schreienden Möbelzitz ohne Form und Geschmack, [106] doch glücklich und stolz wie ein Puterhahn in ihrem Staat alle aber ohne Unterschied mit dem unvermeidlichen Bou­quet oder vielmehr Bündel „Johanniskraut“ in der Hand, d. h. allerlei Feld- und Wiesengewächs, vielleicht noch eine Reminiscenz an vorchristliche Opfer und Opferspenden. Das ist ein Drängen, ein Schwatzen, ein Kichern ohne Ende; dabei wird dem Reiter, dem Bräutigam, zugewinkt, dessen Bekanntschaft die erste Frühlingsarbeit gebracht hat, und dem man im Herbst die Hand vor dem Altar zu reichen gedenkt, — dazwischen wird auch einmal spröde gethan oder schnippisch geantwortet, oder die Mitmagd an der Seite geneckt und so fröhlich hinausgeschaut mit den klaren blauen Augen in dem sonnenroten Gesicht und hinausge­lacht, als gäb’s in der Welt keine Frohnarbeit, keine Plage, keine Mühsal. Auch wird gesungen — — o! gesungen! „Lihgo Jahnite!“ „Lihgo Jahnite!“ dieser alte Johannisrefrain klingt uns von rechts und links, von vorn und hinten in die Ohren. Langgezogene Recitative mit Anspielungen auf „die Rote“ und „die Braune“ und „die Schwarze“ und dann auf Diesen und dann auf Jenen, — und nach dem langgedehnten Recitativ in beindurchdringendem Diskant eine ebenso lange Cadenz, in welche sich aller Atem und alle Stimme von zwanzig gesunden Lungen hin­abstürzen wie ein Gießbach, — o wer das einmal ange­hört, der vergißt’s nicht so bald. Der Gesang klingt noch immer fort durch die Luft, obgleich die Mädchen vielleicht schon eine halbe Werst von uns entfernt sind. Es ist auch besser, sich diesen musikalischen Genuß aus der Ferne zu gönnen. Aber darum darben wir noch nicht, daß die Schar fröh­licher Dirnen unsern Augen und Ohren endlich entrückt ist; es tritt bald eine zweite Gruppe ein, die allmählich näher gekommen ist, oder es bietet sich uns ein anderes ergötz­liches Bild.

[107] Sieh! da ist er ja, der göttliche Krisch, der Barfüßer, mitten unter einem Rudel kleiner schreiender und lärmen­der Jungen. Nichts vom Mönch in ihm, — (bis auf die Füße) — sondern ein Hauptjunge heute und immer; kein Läufer in der ganzen Jungenschaft, wie er. Auch sonst trotz aller Bartlosigkeit „ein Mann auf dem Platz.“ Glück­lich hat er schon die erste Stufe bäuerlicher Ehren erstiegen. Wacker steht er seinem Reiche vor, ein gewaltiger Regent, ja Tyrann über jenes kurztrottende, rüsseltragende, nützliche Vierbeinergeschlecht, ohne welches Irland nicht Irland wär, und das schöne Kurland nicht Kurland, — heute aber aller Regentensorgen bar, der Held des Tages unter dem hoffnungsvollen Anwuchs von Blondköpfen, die sich eben von seinen Heldenstücken erzählen lassen, — unvergleichliche Thaten, die er heute noch um etliche zu vermehren ver­spricht. Kaum vermag neben ihm das wohlgenährte Mutter­söhnchen, der dickköpfige Jahn, Schritt zu halten, ein „däsiger“ Junge das! der sich in dem langen Rock und den plumpen Zukunftsstiefeln keuchend und schwerfällig nachsputet. Zu der Familie der Denker hat er nie gehört; aber den geistigen Vorgenuß von Speck und Kuchen, von Brot und Bier weist er nicht von der Hand. Anders präsentiert sich unser kleiner Freund links, jener muntere Dünnfuß dort, der in seines Vaters Jacke ertrinkt, die er in Ermangelung hoffähiger Kleidung statt Weste, Frack und Paletot angethan hat, um nur ja der heutigen Gesellschaft nicht fern bleiben zu müssen. Wäre ich Homer, ich schilderte ihn würdig. Jetzt kann ich von dem jungen Achilles nur sagen, daß er wacker gegen allen Obskurantismus kämpft. Alle Minuten müht er sich, seine nagelneue Mütze, die ihm stets von neuem auf die Augen fällt, in die Höhe zu schieben. Lieb Mütterchen hatte sie vorsorglich für einen wachsenden Kopf und kommende Jahre berechnet, als sie die Kappe [108] letzthin auf dem Jahrmarkte erstand. Unterdessen ist aber der Denkbehälter ihres Jungen noch um ein beträchtliches zu klein und hat darum viel Qual auszustehen; aber keine Klage kommt über des Helden Lippen; die Freude, heute zum ersten Male in der neuen, blanken Ledermütze zu paradieren, ist dazu viel zu groß.

Plötzlich fährt unter die Schar der Knaben ein elektri­scher Schlag. Was ist’s? Krisch hat seinen Nachbarn links und rechts einen seiner meisterlichen, blitzgeschwinden Püffe erteilt, und damit das Signal zu einem allgemeinen Korso gegeben, in welchen bald alles, was Junge heißt, hinein­gezogen wird. Zwischen den Gehenden, den Reitern und Fuhrwerken hindurch braust die wilde Jagd, daß man jeden Augenblick fürchten mußte, einen oder den andern unter den Pferdehufen zu sehen. Aber wo hätte je eins dieser guten Tierchen, die selbst mit einem wahren Kindergemüt ausgestattet sind, einem ein Leides gethan! Wie geduldig läßt sich z. B. jener arme Weiße von den Hacken seines Reiters bearbeiten, ohne doch je aus seinem Takt zu kommen! Ist auch so am besten; denn dadurch bleibt die Stummel­pfeife in des Reiters Mund hübsch in Brand und das Gespräch mit dem Nachbar in Fluß. Nicht weniger be­wundernswert ist jener gute Braune, der durch alles Zerren seiner ungeschickten und ungeduldigen Lenkerin sich nicht aus dem Gleichmut bringen läßt. Aber faul sind darum die Klepper nicht. Das sagt uns das Rasseln und das laute Schellengeläute der endlosen Wagenreihe; das sehen wir besser noch an dem kleinen aber muntern Zweigespann des Ahring-Wirts, der eben mit seiner behäbigen Frau Liebsten angebraust kommt, und sowohl mit dem lauten Klang seiner Glocke alle kleinern Mitbewerberinnen, wie durch die Ge­schwindigkeit seiner Füchse alle andern Wagen überholt. Hat auch was zu sagen, dieser Mann! Er ist der Erste in [109] dem Rat der Wirte, wie sie, seine stattliche Ehehälfte, in­mitten des Hausgesindes und der Nachbarinnen weit und breit. Sein Weizen steht in der ganzen Gegend am besten, und an Schlauheit und Spekulationsgeist nimmt er’s mit dem besten Juden auf. Es ist ein wunderbarer, lehrreicher Anblick, den die lange Wagenreihe gewährt. In ihrer mannigfachen Abstufung von Armut und Vernachlässigung bis zu Solidität und den ersten Anfängen von Eleganz bieten sie uns eine ganze Haus- und Familiengeschichte ihrer Besitzer dar. Während unsere Blicke auf ihnen weilen, sehen wir ein kleines, braunes Wägelchen, mit einem wohl­gepflegten Fuchs bespannt und von einem „teutschen Kutscher“ gelenkt, des Weges fahren. Ehrerbietig macht ihm alles Platz; freundlich, ja herzlich grüßt jung und alt den Greis, der darin sitzt. Es ist unser Großvater, — „der alte Pastor“, wie die erfreuten Zurufe der Vorübergehenden es verkünden. Wohl ist ja schon der Vater als Adjunkt ins Amt getreten und den Leuten lieb geworden. Aber „der alte Pastor“ ist darum doch unvergessen bei jedermann und gern gesehen. Wird uns das nicht sichtbar an dem freundlichen, herzgewinnenden Lächeln, womit er sie alle grüßt und an dem herzlichen Willkommen, der ihm von allen Seiten zu teil wird? Hier tritt ein alter Wirt an seinen Wagen heran, um ein Wort mit ihm zu tauschen, dort beugt sich der Großvater heraus, als grade wegen des Gedränges in langsamerem Schritt gefahren werden muß, und erkundigt sich nach dem häuslichen Ergehen der Vor­überfahrenden. Kennt er sie doch alle mit Namen. Er steht zu ihnen wie ein Vater zu seinen Kindern. Hat er­ sie denn nicht alle getauft, konfirmiert, getraut, hat er nicht ihre Kranken besucht, ihre Toten bestattet, hat er nicht ihre Sorgen und Thränen geteilt diese vierzig Jahre hindurch! Auch dem blinden Anß, der von seinem Großtöchterchen [110] geleitet, mit dem Nußstock in der Hand den Weg hinauf­schwankt, wird ein freundlicher Gruß zu teil. Es sind zwei alte Bekannte, fast möcht ich sagen Freunde, die sich hier begegnen. Demütig zieht der Blinde sein Käppchen, und antwortet auf seines Pastors Gruß mit einem dankerfüllten herzlichen Segenswunsch. Seit wieviel Jahren ist ihm das Pastorat eine bekannte und liebe Stätte; nie hat er um­sonst seine Schritte dorthin gelenkt, nie ist er leer von dort zurückgekehrt. Der Bettler setzt mit unsicher tastendem Schritt seinen Weg fort und lächelt so friedevoll bei ge­schlossenen Augen. Er träumt von dem Brot, dem „weißen Brot“ und den Kuchen, die heute in seine sauber gewaschnen Säcke wandern sollen, welche ihm zu beiden Seiten herabhängen, — und von dem schönen Bier und dem süßen Meth träumt er, womit er sein altes, müdes Herz er­quicken will. — Er ist klug, der blinde Anß, — o wie klug! mit seinen beiden Ohren und mit dem stillen, feinen Beobachter, der ihm hinter den Augenbrauen sitzt, hat er die fehlenden Augen mehr als doppelt ersetzt, hat in Höhen und Tiefen hineingeschaut, an welche das ameisenartig schaffende Alltagsvolk nicht denkt; hat des Menschenlebens Wechsel und Elend, hat Anfang und Ende wohl tausend­mal im Herzen bewegt. Ihm ist die ganze Gemeinde be­kannt, fast bekannter noch als dem alten Pastor selbst; denn vor diesem wirft man sich in seinen Sonntagsrock; doch wer geniert sich vor dem blinden Bettler! Er bekommt die Welt im Negligé zu sehen. Er weiß darum auch ge­nau, wo Gottes Wort zu Hause ist, wo Zucht herrscht unter groß und klein, wo der Branntweinsteufel haust, wo der Jud als Ratgeber Eingang gefunden hat, wer den Gutsherrn bestiehlt, wer bei dem Krüger auf Kreide steht. Aber er schweigt; das Austragen ist seine Sache nicht; überhaupt kommt kein Lästerwort über seine Lippen. Nur [111] wo man ein Recht hat, ihn zu fragen, da weiß er zu reden und zu raten. Seine liebste Sprache sind die Kern­lieder aus dem alten Gesangbuch, die er sämtlich auswendig weiß und vor den Thüren singt, und wenn ihm das Herz aufgeht, dann beginnt er zu reden von dem einen was not thut, von Jesu Trost und Frieden, daß einem die Augen naß werden. Keine Schule hat ihn unterwiesen; aber alle Sonntage stand er in der Kirche, das Auge ge­schlossen, die Ohren offen, und weit, weit auf das Herz. Da hat denn Gottes Geist mit ihm geredet und ihm Weis­heit geschenkt, daß mancher, der beide Augen hat, zu seinen Füßen sitzen könnte.

Unterdessen sind wir dem Hofe Wahnen nah gekommen. Die Gruppen zerstreuen sich. Reiter und Wagenlenker springen herab und binden ihre Pferde an die Ständer und an die Zäune in langen Reihen. Das junge Volk und auch manche von den Alten wenden sich dem Kruge zu, von welchem der Klang einer Fidel, einer Klarinette und einer Baßgeige zu uns herübertönt. In den Ecken haben sich die Stammgäste gruppiert, mit den Pfeifen im Munde, den Bierkrug vor, an des einen oder des andern Seite die wachsame Ehegenossin, die der Männer rauhe Weise und Rede nicht fürchtet, einzig bedacht, das eigne Männlein vor einem gefährlichen Zuviel zu bewahren. In der Ecke am Ofen haben sich die Musikanten niedergelassen. Naturgenies ersten Ranges, die keiner Note bedürfen. In der Mitte aber des großen, niedrigen, rußigen Zimmers, in welchem eine erstickende Luft waltet, drehen sich dichtgedrängt alte und junge Tänzer und rotwangige Dirnen in dichtem Wirbel. Und er weiß sie zu elektrisieren, — das muß man ihm lassen, der magere, lahme Schneider Dankwart. So selig lächelnd und siegesgewiß sieht er bald auf seine Geige, bald auf die tolle Welt zu seinen Füßen. Und wer könnte es [112] leugnen, — es liegt wirklich eine Walzerseele in seinem Spiel. Jedesmal, wenn er zu diesem Lieblingstanz oder zum „Gig“ mit seinem Bogen so recht aus dem FF über die Seiten streicht, zittert’s wonnig nach in den kräftigen Bauernerven, heben sich flinker die Füße der Dirnen, oder schreit ein wilder Tänzer seine heiße Lust in einem lauten Juchzer aus. „Welche köstlichen Bären!“ möchte man sagen, aber auch welche prächtigen Gestalten, welche origi­nellen Charakterköpfe unter ihnen! Wer z. B. könnte ohne Lachen den Maurer Klas ansehen, der mit seiner Auserwählten nun schon zum zwanzigsten Mal an uns vorüberwirbelt, ohne Schwindel, ohne Müdigkeit. Seine Beine sind ja des Stehens auf dem Gerüst gewohnt, wie nicht leicht ein andres Paar. Mit herausfordernder Bravour wirft er den Kopf zurück, als läse er sein Geschick an der Decke, während die gehorsame Tabakspfeife neugierig zur hintern Rocktasche herausguckt und ihre Troddeln den end­losen Kreislauf mitmachen. Selbst die Tapferste kommt gegen Maurerbeine nicht auf. Sie schätzt sich darum auch glücklich, die atemlose Schöne, als er sie endlich halb be­wußtlos vor Schwindel, keuchend und schweißtriefend auf die Bank niedersetzt. Kurz, an heiteren Scenen kein Mangel, wert, daß ein Teniers aufstände und sie mit seinem Pinsel verewigte.

Und das nicht bloß hier. Während das tanzlustige Volk sich dort ergötzt, eilen andere Scharen weiter hinauf zum Hof, zu den Tischen hin, auf welchen gekochtes und gebratenes Fleisch, Speck, Salat und Dickmilch, und was es sonst noch an kräftigen Speisen giebt, zum Genuß ein­laden; — dort laufen Knaben zum Kletterbaum hin, wäh­rend hier Gruppen von Mädchen vorbeiziehen, mit stets neuen Versen ihre Lieder vermehrend unter Lachen und Kurzweil aller Art.

[113] Doch wir begleiten den Großvater weiter, der durch die lange Birkenallee, an dem alten Gottesacker vorbei, heute nach dem Hofe Asuppen fährt. Eben hält sein Gefährt vor der Thür. Er steigt aus. Es ist noch immer eine angenehme Erscheinung, der Mann mit dem schneeweißen Haar, das ihm lang auf die Schultern herabfällt. Zopf und Haarbeutel, die er in früheren Jahren trug, sind frei­lich geschwunden, und des Puders, der mit allem nötigen Zubehör noch in seinem alten Pult wie eine Reliquie auf­bewahrt wurde, bedarf er nicht mehr, seitdem das Alter selbst die Rolle übernommen hat, ihn in die Farbe der Weisheit zu kleiden. Aber seine Haltung ist noch gerad, seine hohe weiße Binde, sein schwarzer Priesterrock kleiden ihn gut, und der Jabot, den er bei festlichen Gelegenheiten anlegt, giebt ihm etwas Feines; und wenn auch die schwarz­seidenen Strümpfe und die Schuhe und Schnallen weißen Strümpfen und hohen, blankgewichsten Stiefeln gewichen sind, so macht das Ganze doch den Eindruck eines Mannes, der einst in der Welt gelebt hat und ihre Formen kennt.

„Sieh da! unser lieber Herr Pastor!“ begrüßt ihn freundlich die Frau vom Hause. Ihre Aussprache verrät die Ausländerin. Ein besonderer Liebreiz verklärt ihre geistreichen Züge, und das reiche schwarze Haar und die großen dunkeln Augen zeichnen ihr Antlitz in bedeutsamer Weise. Obgleich nur mittlerer Größe, hatte sie Gang und Haltung einer Königin. Eine nicht weniger hervorragende Erschei­nung war seinerseits ihr Gatte, Baron Paul von Hahn, der nach manchen Studien und Reisen und nach hoch­angesehenen Stellungen in der Landesverwaltung jetzt zu seinem väterlichen Gut heimgekehrt war, und sich mit der ihm eigenen Einsicht und Energie der Hebung der Land­wirtschaft und der Verbesserung der Lage seiner Bauern widmete. Er hieß in dem greisen Pastor mit hervortretender [114] Herzlichkeit seinen alten Seelsorger und Freund willkommen. In dem Gesicht des Barons prägte sich viel Feinheit und eine unverkennbare Festigkeit aus. Eine große Narbe unter dem Auge erinnerte an seine Studentenjahre, wo er die akademische Freiheit in vollem Maße genossen hatte, glücklicherweise ohne darüber Kraft und Kern ein­zubüßen. Unter den Nachbarn, die der Großvater dort vorfand, war ein Herr Henry, ein braver Mann und tüch­tiger Landwirt, der sich leider dadurch lächerlich machte, daß er die Allüren der Aristokratie nachzuahmen sich be­mühte, ein Herr von Kagel, Besitzer eines auf der andern Seite des Flüßchens gelegenen Gutes, und dessen Schwä­gerin Alma, ein blasiertes und herablassendes Fräulein, reicher an Jahren, als an Bildung. Später kamen noch Bruder und Schwägerin des Barons aus Wahnen auf ein halbes Stündchen herüber; denn auch bei ihnen war der Johannisabend im besten Gange und gestattete eine längere Abwesenheit nicht.

„Aber es ist Zeit, liebe Frau, daß sich die Leute zu Tische setzen,“ redete der Baron, nachdem das Gespräch über die Tagesfragen und Neuigkeiten sich eine Weile fort­gesponnen, seine Gemahlin an. Sie erhob sich, nahm den Arm ihres Gatten, und beide lenkten ihre Schritte den Berg hinab zu dem freien Platz, wo die versammelte Menge des Festmahles harrte. Der Gruß des Gutsherrn fand herz­lichste Erwiderung. Nachdem der letztere noch einzelne unter den Wirten (Erbpächtern) angeredet und auf ihr häusliches oder wirtschaftliches Wohl oder Wehe teilnehmend oder scherzend angespielt hatte, rief er den alten „Wagger“ (Aufseher) Anderson herbei und ließ ihn das Tischgebet sprechen. Das war ein dicker, grauer Mann mit hoch­rotem Gesicht, der auch sonst bei Hochzeiten im Kreise der eigenen Verwandtschaft oder Bekanntschaft, als der Schrift [115] wohl kundig und der Rede Meister, mit solcher Aufforde­rung beehrt wurde. Er pflegte dann bei solchen Gelegen­heiten sich in seiner ganzen Würde zu zeigen. Nach eini­gem Seufzen und Räuspern setzte er erst seinen großen messingenen Klemmer auf, zog die Augenbrauen in die Höhe, und las aus der mit Feierlichkeit aufgeschlagenen Bibel das betreffende Kapitel vor, als gälte es, zum Sturm zu kommandieren. Besonders verstand er sich bei Hochzeiten auf den 150. Psalm, und wenn er die Stelle vortrug: ,Lobet den Herrn mit Pauken und Reigen; lobet ihn mit Saiten und Pfeifen, lobet ihn mit hellen Zimbeln; lobet ihn mit wohlklingenden Zimbeln,’ so merkte jeder, daß jetzt nicht Zeit zum Schweigen sei, sondern alles was Odem hat, seinen Mund aufzuthun habe zum Lobe des Herrn; kein Wunder, daß das Lied hernach desto schmetternder klang, — und wenigstens erklärlich, wenn durch ein leichtes Miß­verständnis auch die Hochzeitsmusikanten desto frischer blie­sen und geigten. Auch diesmal entledigte er sich seines Auftrages mit Würde und Nachdruck. Dann folgten alle der freundlichen Aufforderung des Herrn Barons, nahmen ihre Plätze an den langen Tischen und ließen sich’s von Herzen wohlschmecken. Die heitere Stimmung wurde seiner­seits durch manches Scherzwort erhöht, und auch die Baro­nin ließ sich’s nicht nehmen, in der ungewohnten Sprache wenigstens einige freundliche Worte an die Tischgenossen zu richten oder sich gütig an eins oder das andere der lieben Kleinen zu wenden, die an ihrer Mütter Seite saßen.

Eine große Schar von Knaben und jungen Burschen stand mittlerweile um einen hochaufgerichteten, glattgeschäl­ten Tannenbaum versammelt, an dem man oben einige Zweige hatte stehen lassen, die mit Westen, Mützen, Hals­tüchern u. s. w. behängt waren. Ungeduldig harrten sie des Zeichens, das ihnen der Baron geben sollte, um mit dem [116] Klettern zu beginnen. Endlich schwang er sein Schnupftuch, und sofort stürzte ein kräftiger, rotbackiger Junge aus der Mitte der andern hervor, um sich an den Baum zu machen. Es ging auch leidlich im Anfang; aber immer schwächer und schwächer wurde das Vorrücken. „Halt dich! Halt dich, Söhnchen!“ rief die Mutter dem Kletternden zu, der auch wirklich seine letzten Kräfte zusammennahm und der Krone ziemlich nah gekommen war. „Jehz, Jehz! halt dich, halt dich, mein Söhnchen!“ rief sie noch einmal mit ängstlichem Ton. Der arme Junge wurde blutrot, man sah seine gewaltigen Anstrengungen, aber schon hatten Beine und Hände ihre Kräfte erschöpft; langsam und traurig glitt er herab. „Du Taugenichts!“ rief ihm die Mutter­ mürrisch zu; „was kletterst du, wenn du’s nicht verstehst?“ — „Armer Jehz! Armes Taschensöhnchen!“ höhnte mit­leidig eine erbarmungslose Nachbarin, und der gute Junge schlich beschämt zur Mutter, die auch gleich ihren schützen­den Arm um ihn schlang und der verwegenen Tadlerin einen Blick zuwarf, der weitere Worte auf ihren Lippen verstummen ließ.

„Eh! Eh!“ spottete ein schlankwüchsiger Jung in ärm­licher Kleidung, schabte dem Unglücklichen ein Rübchen, war aber auch im Nu am Baum und mit Affenbehendigkeit bis zur Mitte hinaufgeklettert. Jetzt freilich begann das schwerste Stück; doch der Jung hielt sich tapfer, höher und höher hinaus ging’s mit jedem Strecken der Hände. „Eh! Eh!“ rief er triumphierend aus. Da war er oben und schwenkte eine schöne, rote Weste, die er erwischt hatte. Die Hände ließ er frei und hielt sich einzig mit den Beinen, um seine ganze Kunst zu zeigen. „Hurrah!“ schrie der ganze Chor unten; „sieh doch den Krisch,“ — „fixer Junge, fixer Junge!“ hallte es nach, während er sich langsam herabließ.

„Wie heißt du?“ fragte ihn der Baron. „Krisch [117] Pehrkon,“ lautete die Antwort. „Und bei wem bist du?“ „Hüt bei Zelming-Wirt die Schweine,“ antwortete er stramm wie ein Soldat. „Hast es brav gemacht, — ganz brav,“ sagte der Baron, indem er ihm den Kopf streichelte und zu seinem Gewinst noch eine Silbermünze hinzufügte.

„Brav gemacht!“ wiederholte Herr v. Kagel, der auch mit dem Baron herabgekommen war und sich für einen Augenblick auch hier amüsierte, während das sonst nur über Tisch geschah und bei einem guten Glase Champagner.

Man ließ die weiteren Wettbewerber ihr gutes Glück probieren und wandte sich zu den Ringern. Hier war das Interesse der Zuschauer ein noch regeres, ja es hätte selbst an Wetten unter ihnen nicht gefehlt, wenn nur die Taschen voller gewesen wären.

Dann wurden einige turnerische Versuche am Reck ge­macht, die aber sehr dürftig ausfielen, obgleich ein junger Ausländer, Lehrer bei dem Herrn Baron, sich alle Mühe gab, den plumpen Burschen Mut und Geschick beizubringen. Die Sache war offenbar noch zu neu.

Endlich begab man sich zu dem drolligsten Schauspiel, dem Sacklaufen. Die Jungen wurden nämlich unter mancherlei Witz und Uebermut in Säcke gesteckt, die ihnen unter der Brust festgebunden wurden. In dieser Verfassung sollten sie um die Wette laufen. Allerdings keine kleine Aufgabe; denn hier half weder Kunst noch Schnelligkeit, — vielleicht daß das Phlegma allenfalls einen Vorsprung verlieh. Es waren ergötzliche Stellungen, die hier bei den unglücklichen Läufern vorkamen. Selten blieb einem der Fall erspart, und selbst unser muntrer Krisch entging dies­mal nicht dem heimtückischen Geschick zum großen Halloh seiner Mitbewerber und Zuschauer.

Allgemach war die Gesellschaft wieder zum Herrenhause zurückgekehrt.

[118] „Ah, lieber Pastor, was Sie interessieren wird,“ be­gann der Baron; „ich hab den Zihrul-Wirt zur Einführung der vierfeldrigen Wechselwirtschaft überredet. Sie können sich gar nicht denken, was das für Mühe gemacht hat; vollends Klee zu säen, — wie er sich ausdrückte, ‚Gras ins Feld,‘ das doch ohnehin von Unkraut strotze, — das wollte ihm gar nicht in den Sinn, das schien ihm ganz ungeheuerlich. Endlich aber ließ er sich doch überzeugen, und Montag kommt der Revisor, um die Einteilung zu machen.“

„Den Wert dieser Wirtschaftsmethode, die unser lieber Dullo[1] so warm empfiehlt, vermag ich, guter Herr Baron, wie Sie wissen, nicht zu beurteilen; ich war je und je ein schlechter Landwirt und bin Ihrem Herrn Vater von Herzen dankbar, daß er mich von den Lasten und Mühen der eignen Wirtschaft befreit hat, — ob es meine späteren Nachfolger auch sein werden, weiß ich nicht, — aber Eins freut mich, — daß Sie so energisch in die Fußtapfen Ihres seligen Herrn Vaters treten. Er kaufte, wie Sie wissen, vorzugsweise heruntergekommene Güter, — und was hat er aus ihnen gemacht! Sie können sich das kaum mehr vorstellen, da Sie keine Erinnerung an ihren früheren Zustand haben. Aber wenn man so oft, wie ich, in diesen mehr als vierzig Jahren, die Not, das Elend der Bauern, namentlich im Frühling gesehen hat, wenn man es bedenkt, welche furchtbare Versuchung in der Armut liegt, wie Not und Verbrechen nur zu oft Hand in Hand gehen, — da kann man nicht anders, als jeden Versuch, dem armen Volk zu einer gesicherteren Existenz zu verhelfen, — mit lautem Dank begrüßen. Das thu ich auch diesmal von [119] ganzem Herzen und wünsche nur, daß Ihnen Unwissenheit und Vorurteil nicht allzugroße Widerwärtigkeiten verursachen, Sie im Gegenteil die schönsten Erfolge erleben mögen.“

„Was die Vorurteile, die Schwierigkeiten anlangt, lie­ber Herr Pastor, so muß ich gestehen, daß sie mich nicht nur nicht abschrecken, sondern vielmehr als ein Reizmittel wirken, welches mich zu desto energischerem Vorwärtsschreiten anspornt.“

„Ein unverbesserlicher Schwärmer,“ flüsterte Herr v. Kagel, der sich etwas beiseit hielt, seinem Nachbar Henry zu.

„Ganz wie der Bruder,“ erwiderte jener. „Wollen immer in die Fixsterne hinaus.“

„Sie haben glücklicherweise beide was zuzusetzen,“ fuhr v. Kagel fort, „der Vater hat sie dick in der Wolle zurückgelassen. Aber es macht die Leute unzufrieden, wenn man nicht so vorgehen kann, wie diese unsere Herren Nachbarn. Ich seh es an den meinen. Wer kann denn auf alles Gequiek und Geplärr hören, und heute zu Brot, morgen zu Saat die Hand im Beutel haben, oder gar jedem eine Kuh kaufen, wenn ihm eine stürzt!“

„Das Aeußere, lieber Herr Pastor, muß ich, wie Sie wissen, meinem Manne überlassen,“ fiel die Baronin da­zwischen. „Dafür gestattet er mir, mich ein bischen des Innern anzunehmen. Und so hab ich denn, wie hier meine liebe Schwägerin, einen kleinen Versuch gemacht, das Spinnen und Weben etwas in die Höhe zu bringen. Der alte Rehberg ist dabei unser Manufakturrat. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, welches Hindernis mir dabei die Sprache bereitet. Dazu kommt, daß ich in der Stadt geboren und erwachsen bin, unter ganz anders gearteten Verhältnissen; und selbst dort, in dem schönen Süden, ist mir das Leben und Treiben der ländlichen Bevölkerung fern geblieben. Kaum daß ich je einmal in ein Bauernhaus getreten bin. [120] Aber so, glaub ich, sieht es doch nirgends aus, wie hier. Mit Schaudern hab ich den Schmutz gesehen, in welchem sie leben, den unglaublichen Unverstand, mit welchem sie ihre Kinder erziehen oder die Kranken pflegen. Es ist kein Wunder, daß die armen Kleinen wie die Fliegen hinsterben. Ich habe einen Versuch gemacht, sie in dieser Beziehung etwas aufzuklären; — mein alter Doktor meint freilich, es sei verlorne Müh, — und, aufrichtig gesagt, ich fürchte, sie haben mich nicht einmal verstanden. Was mir aber geradezu unbegreiflich ist, das ist ihre Gleich­gültigkeit bei dem Tode ihrer Kinder. Kaum daß die Mutter eine Thräne vergießt, wenn ihr das Kindlein in der Wiege stirbt. Und doch legen sie anderseits Zeichen von Zärtlichkeit an den Tag. — Ich ermüde Sie vielleicht, Herr Pastor, mit meinen Schilderungen, — aber Eins muß ich Ihnen sagen, die Kluft, die ich als Fremde noch zu überschreiten habe, bis diesem armen, guten Volk ich näher kommen und etwas Gutes schaffen kann, — ist groß, — sehr groß. Ich fühl es nur zu tief.“

„Aber Sie bringen, meine Gnädige, so viel Sonnenschein der Liebe mit, daß die gütige Vorsehung Ihre Saat gewiß nicht wird verloren gehen lassen,“ erwiderte der Großvater.

„Nur rechnen Sie nie auf Dank, gute Frau Baronin,“ fiel Fräulein Alma mit unverkennbarer Bitterkeit dazwischen.

Schon ward der Abendtisch serviert, als ein alter Bauer herantrat und ehrerbietig mit unbedecktem Haupt am Fuß der großen Freitreppe stehen blieb, ein gebeugter, zitternder Mann, in dessen biederem, treuherzigem Gesicht die Spuren tiefen Grames unverkennbar waren.

„So komm doch herauf alter Behrsing,“ ermutigte ihn der Baron. „Was drückt dich denn heute so sehr, wo doch alles voll Freude ist?“

[121] „Ach, Herr!“ begann der Alte, tief aufseufzend. „Mit schwerem Herzen komme ich zu Ihnen. Mein ältester Sohn treibt ein böses Wesen. Saufen und Schlägereien ohne Ende. Jetzt hat er wieder gestern bei einem Streite seinen Gegner so geschlagen, daß der unglückliche Mensch blutend und bewußtlos weggetragen werden mußte. Das giebt aufs neue Schmach und wohlverdiente Strafe für meinen Sohn. Diese Schande bricht mir das Herz; — und doch bessert er sich nicht. — Ich bin alt. Er sollte mir in dem Ge­sinde (Bauerhof) nachfolgen; aber das seh ich klar wie die Sonne, wenn er es in die Hände bekommt, dann werden wir beiden Alten nach Jahresfrist mit weißen Stöcken über Land gehen. Darum wollte ich Sie bitten, sprechen Sie das Gesinde meinem zweiten Sohne zu, — und ihn, — ihn (hier fing der Alte an laut zu schluchzen und verhüllte sein Angesicht), — ihn geben Sie unter die Rekruten.“

„Behrsing,“ sagte ruhig und nicht ohne Teilnahme der Baron, „was du da sagst, ist wahr, — leider wahr. Dein Sohn ist ein arger Raufbold; aber ihn unter die Soldaten[2] zu geben, — dazu kommen wir noch zeitig genug, und wenn ich’s thäte, würdest du und dein altes Weib das am wenigsten überleben. — Aber ich will ein Wort mit ihm reden, ein ernstes Wort, und er wird mich verstehen. Und dann werd ich ihn als Knecht[3] zu dem Ahring-Wirt geben; — du verstehst, ich werde es thun. Der Mann hat manchen wilden Hengst eingefahren; ich hoffe, er wird auch noch mit deinem Sohn fertig. — Und nun geh ruhig nach Hause.“

Unter Dankesbezeigungen und Thränen und Schluchzen [122] ging der Alte hinweg und trug Hoffnung und Trost in sein Haus hinab.

„Eine Neuigkeit, die ich Ihnen noch nicht mitgeteilt habe,“ nahm noch einmal der Baron das Wort, indem er sich an den Großvater wandte; — „ich hab ein Pendant zu der Schlacht aus dem Kulikowschen Felde (Dmitri Donskoi’s Kampf gegen die Tataren), — das Bild: „die Freilassung der Bauern“ ist fertig. Beidemal ist’s das Zerbrechen eines Joches, dort mit dem Schwert, hier durch ein Wort der Gnade. In der vergangenen Woche hat mir Eggink das Bild gebracht, und ich find es recht gelungen. Alexander[4] sitzt auf dem Thron; seine Milde, seine bekannte Menschenfreundlichkeit spricht aus jedem seiner Züge. Er hat die Emancipationsurkunde in der Hand, — eine Schar Bauern streckt, freudig bewegt, voll Dank ihm die Hände entgegen. Das ist nun freilich mit Rück­sicht auf die Wirklichkeit etwas stark idealisiert, — aber solche Momente wollen ideal gefaßt sein; — jedenfalls ist der Ausdruck der Gesichter sprechend; auch sind die ver­schiedenen nationalen Typen trefflich wiedergegeben. Doch Sie müssen das sehen. Es ist wohl schon etwas spät; aber der Saal hat die Abendsonne und Sie bekommen doch einen Eindruck von dem Ganzen.“

Damit erhob man sich und ging, das Bild zu besehen, v. Kagel vermochte jetzt nicht mehr an sich zu halten. „Aber lieber Hahn! Ich begreife, — begreife: noblesse oblige; du hast dem guten Eggink etwas zu verdienen geben wollen; ist ja auch ein Landeskind; — aber solch ein Sujet! Das ist schier unglaublich, — ich möchte fast sagen, das ist unerlaubt!“

[123] „Wie meinst du das?“

„Das ist doch wahrhaftig etwas, worüber unser eins nur trauern, was wir im besten Fall mit Schweigen be­graben können; denn unsre Rechte sind doch dadurch aufs empfindlichste gekränkt; und das zu verewigen; just, als bedankten wir uns dafür! Glaub mir, wir werden daran noch lange zu laborieren haben.“

„Im Gegenteil! Es war eine Notwendigkeit, eine For­derung der Zeit, — und weit davon entfernt, unser Ruin zu sein, hoffe ich, daß diese neue Ordnung sich für beide Teile als überaus heilsam erweisen wird. Ja, ich rechne von da an erst auf einen wirklichen Aufschwung unsrer Provinzen. Die Aufhebung der Leibeigenschaft in unsern Landen wird mit das schönste Blatt in dem Lorbeerkranz unseres unvergeßlichen Monarchen bleiben.“

Man setzte sich zu Tisch und das Gespräch nahm eine andere Wendung.

„Sag, lieber Mann, was wollte der arme Alte? Er schien so tief erschüttert, als er mit mir sprach.“

„Ach, es war wegen seines unglücklichen Sohnes, der wieder eine arge Schlägerei gehabt hat. Ich hoffe, wir werden den wilden Bären allmählich zähmen.“

„Gestatten Sie, Herr Baron,“ fiel der Großvater ein, „daß ich, da das Gespräch wieder auf ihn kommt, noch einmal seinetwegen das Wort nehme. Gewiß werden Ihre trefflichen Maßregeln dem jungen Mann sehr heilsam sein. Aber ich, wenn Sie erlauben, kenne ihn länger als Sie, und wenn ich bitten darf, verfahren Sie nicht zu streng mit ihm. Es ist eine wilde, unbändige Natur, ganz wie der Vater auch vor vierzig Jahren war; — er hat’s nur jetzt vergessen und ist überhaupt gegen den Sohn zu Zeiten hart, ja ungerecht gewesen. Dieser gehört zu den Menschen, die vor keinem Schwerte zittern, die aber keinem sanften [124] Wort widerstehen können. Sie werden’s mir kaum glauben, trotz seiner Löwenstärke und seiner Löwenwut, die zu Zeiten über ihn kommt, ist er weich wie ein Kind. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis will auch ich meine Ueberredungskraft an ihm versuchen. Wenn der Mensch etwas Bildung hätte, in einer andern Umgebung lebte, wenn man seinen leb­haften Geist in passender Weise beschäftigen könnte, — mit einem Wort, wenn der arme Junge zu lesen verstände, — ich stehe Ihnen dafür, — Sie würden ihn nicht wieder erkennen.“

„Das führt uns wieder auf das alte Thema, lieber Paul,“ sprach die Baronin, zu ihrem Gatten gewendet, „wir müssen eine Schule haben. Ohne sie mühen wir uns umsonst; durch sie haben wir wenigstens die kommende Generation in unsrer Hand.“

„Gewiß, gewiß, teures Weib; aber nur nicht in diesem Jahr. Nur nichts überstürzen. Die Sache liegt mir sehr am Herzen, und des Pastors Wort giebt mir neuen Anlaß, daran zu denken.“

„Das fehlte noch!“ brach v. Kagel hervor. „Wenn das den Bauern nicht den Kopf verdreht, will ich nicht Kagel heißen. Wenn die Bauerjungen anfangen werden, in der Schule zu sitzen, werden wir wohl die Schweine hüten und Holz hacken müssen.“

„Aber, lieber Nachbar!“ erwiderte der Baron mit souveränem Lächeln, erwiderte der Baron mit „du bist ja heute ganz aus dem Häuschen, und bist doch sonst so fürchterlich für Aufklärung; ich glaub, es ist das dritte Wort bei dir!“

„Natürlich, — natürlich, lieber Nachbar, — Aufklärung für unser einen, für anständige Leute. Ich mach kein Hehl daraus; — es lebt sich viel besser, wenn man diesen alten Kram und Trödel, den man namentlich unter dem Titel ‚Religion‘ aufgespeichert hat, ein für allemal los geworden [125] ist. Das versteht sich von selbst. — Aber Aufklärung für den Pöbel! Hier heißt es, — unter uns gesagt, je dümmer, je besser. Was versteht die Kuh von Muschaten?[5] Auf­klärung für unsre Bauern! Ich glaub, Ihr bringt uns die Revolution mit Gewalt über den Hals. Rustica gens optima flens, pessima ridens,[6] sagten unsere Väter. Glaub mir, es ist noch heute so.“

„Schon gut, schon gut!“ rief v. Hahn laut auflachend. „Behalt denn die flennenden Bauern und laß mir die lachenden; wir wollen sehen, wer besser fährt. Und von der Revolution sind wir, dünkt mich, noch ein gutes Stück entfernt.“

„Sie wissen nicht, meine gnädigen Herrschaften,“ fiel hier der Großvater dazwischen, indem er sich an v. Hahn und dessen Gemahlin wendete, „wie froh, wie glücklich mich dieser Abend macht. Es ist mir wie jenem Greise, der das Land der Verheißung wenigstens von fern zu sehen bekam. Meine Augen werden das Aufsprossen und die Früchte Ihrer Saat nicht sehen; sie werden dunkler von Tag zu Tag, und meine Stunden sind gezählt. Aber mein Schwiegersohn wird sie erleben, und an ihm, an seiner seltenen Gewissenhaftigkeit und Arbeitstreue werden Sie bei Ihren wohlwollenden Unternehmungen die beste Stütze finden.“

„Das wissen wir, lieber Herr Pastor,“ entgegnete der Hausherr, „und wir bedauern nur, daß er nicht auch heute bei uns ist.“

„Er ist heute in Wahnen und wird wohl jetzt schon zu Hause sein; denn er hat morgen die Predigt.“

„Und das wissen wir auch,“ ergänzte die Baronin, [126] „daß alle Volksbildung nur dann zum Heil ausschlagen kann, wenn sie Hand in Hand mit dem Glauben geht.“

Bald darauf fuhr des Großvaters Wägelchen vor. Er nahm Abschied. Das erinnerte auch Herrn v. Kagel an die Rückfahrt. Er zog die Uhr aus der Tasche:

„Denk! Es ist halb zwölf!“ rief er aus. „Auf Ehr! ich hätt es nicht gedacht. Wie hell die Nächte sind! Heda! Joseph!“

Sein Diener kam. „Laß den Kutscher vorfahren!“ Und bald darauf rasselte der Nachbar, der weder einen grünen Tisch, noch knallende Pfropfen gefunden hatte, etwas verstimmt über den verlornen Abend, in seiner grünen Olims-Kalesche mit seiner Schwägerin von dannen.

Durch die milde Abendluft hörte man die fröhlichen Stimmen der Johannisgäste, die sich gegenwärtig zum größten Teil um die hochaufgerichteten Teertonnen geschart hatten, welche eben jetzt in Brand gesteckt wurden. Als nun gar der Jäger Martin seine Schwärmer, Frösche und Feuerräder anzündete, war des Jubels und Hurrahrufens kein Ende. Auch ein paar Raketen brachte er glücklich zum Steigen, wobei leider leicht ein Unglück hätte passieren können; denn eine von diesen fiel gerade mitten unter die Pferde. Und so sanft und vernünftig die guten Tierchen sonst waren, solche Unterbrechungen vom Himmel herab kamen doch sonst zu selten in ihrer Praxis vor, als daß sie hätten ruhig bleiben können. Aber es waren glücklicherweise einige ver­ständige Leute bei der Hand, welche die wild gewordenen Pferde auffingen und die andern beruhigten. So ward denn auch dies ohne weiteres Malheur überstanden. Die Teertonnen fielen zu Boden, die Stimmen verhallten, und bald nach Mitternacht war der größte Teil der Feiernden auf dem Rückweg, um ja am Morgen auch in der Kirche zu sein.



[127] So mancher dem ähnliche Johannisabend war dahingegangen, da saß ich, damals ein kleines, sechsjähriges Bürschlein mit Schwester Lotte auf der Hintertreppe des alten Pastorates. Es war ein schöner, heißer Sommertag. Auf dem Hofe waltete Stille; denn es war Nachmittag und die Leute auf der Wiese oder sonstwo an der Arbeit. Plötzlich schlug aus dem Strohdach des alten hölzernen Stalles eine hohe Flamme zum Himmel auf.

„Das hat der Blitz gethan!“ rief ich der Schwester zu (es war aber gar kein Gewitter), — und fort liefen wir zur Großmutter, um ihr zu melden, was geschehen. So alt sie war, stürzte sie doch voll Hast nach dem „Enden­zimmer“, wo der Vater grade eine Geographiestunde mit den Knaben hatte. Indem sie die Thür aufriß, schrie sie hinein:

„Friedrich! der Stall brennt!“

Der Vater warf das Buch auf den Boden und lief hinaus. Schon stand das ganze Dach nicht bloß des Stalles, sondern auch der andern Nebengebäude in Flammen. Die Mutter, die Dienstleute eilten herbei. Der Vater war gleich nach dem Pferdestall gestürzt, um die Pferde von den Halftern zu befreien. Kaum öffnete er die Thür, so schlugen auch schon die Flammen durch die Lage herab. Alles Holz, alles brennbare Stoffe; nichts, was dem Umsichgreifen der Flammen hätte Widerstand leisten können! Die erschreckten Tiere wollten nicht heraus. Er war allein. Nach großer Anstrengung gelang es ihm, sie hinauszuschaffen. Die Kühe waren glücklicherweise schon auf der Weide. Aber alle Geschirre, Wagen, Schlitten, Kisten und Kasten und Vorräte wurden ein Raub der Flammen. Eimer auf Eimer trug man aus dem nahen Brunnen herbei und goß das Wasser in die prasselnden Flammen, aber es verfing nichts. Dazu das wirre Geschrei, die Unordnung. Höher und höher stieg [128] das Feuer; die ganze Luft war voll brennender Strohhalme und Funken, das Ganze ein Feuerodem, die Glut so furchtbar, daß man den brennenden Gebäuden nicht auf zehn Schritt nahen konnte. Keine Feuerspritze weit und breit.

Zu allem Unglück ward auch der Brunnenstock und die Einfassung durch die gewaltige Glut in Brand gesetzt und stand in hellen Flammen; keine Möglichkeit, ihn zu löschen, auch keine Möglichkeit, von dorther noch einen Eimer Wasser zu erhalten.

In diesem Augenblick jagt ein Reiter in den Hof. Es ist Baron Alexander v. Hahn aus dem nahen Edelhof. Männer von dorther folgen ihm, Nachbarn strömen zu­sammen. Alle hatte sie die Feuersäule gerufen oder waren sie durch die Nachricht aufgeschreckt worden: „das Pastorat brennt!“

Mit klarem Blick und unwiderstehlicher Entschlossenheit stellt der Baron sofort eine Reihe von Trägern auf, die das Wasser von der benachbarten Wiesenquelle herbeizutragen haben. Von den Ställen, von den Nebengebäuden war nichts mehr zu retten; das sah er ein. Er rief darum den größern Teil der Leute zum Wohnhause hin und ließ nur die brennenden Balken der Ställe mit Feuerhaken auseinanderreißen. Um so größer war die Gefahr für das Wohnhaus. Schon war die Glut so stark, daß die Kirschbäume im Garten verdorrten, daß der Zaun vom Feuer gefaßt wurde. Selbst das Ziegeldach des Pastorates bot keinen Schutz mehr dar, die Scheiben platzten, das Holzwerk fing Feuer. Während man dort alle Kräfte vereinte, um den drohenden Ausbruch der Flammen fern zu halten, kam auch der Bruder, Baron P. herangesprengt. Er eilte ins Haus, wo der Vater eben damit beschäftigt war, die Kirchen-Bücher und -Gerätschaften zu bergen, und wo man hin- und herlief, um Kleider, Möbel, Bücher und was es sonst noch gab, hinauszuschaffen. Er ließ sich Laken, Decken, [129] alles, was nur in Wasser getaucht und auf die glühenden Dachpfannen und Wände gebreitet werden konnte, reichen und langte sie dem Bruder zu, der, ein gewandter Turner, auf einer Leiter, hoch oben auf dem Dache stand. Selbst ein großer Kübel mit „saurer Grütze“,[7] der in der Handkammer stand, mußte seinen Inhalt hergeben, um nur immer aufs neue die ausgesetztesten Dachflächen anzufeuchten. So ward endlich die Glut gekühlt und durch Gottes Barmherzigkeit die Gefahr vom Wohnhause abgewendet. Hätten wir Wind von den Ställen her gehabt, so hätte keine Menschenhand das Pastorat zu retten vermocht.

Darüber war es Abend geworden; die Glut der unter­gehenden Sonne und der glimmenden Holztrümmer und Aschenhaufen mischte sich in einander. Wir Kinder waren müd und — woran kein andrer dachte in der großen Aufregung — hungrig geworden. Aber es gab kein Brot. Es war verbrannt. Doch freundliche Nachbarn gedachten unser und brachten einige Laibe herbei. Damit sättigten wir uns. Aber die Thatsache, daß wir nach Gottes Rat in einem Augenblick um Hab und Gut gekommen waren und kein Stücklein Brot hatten, prägte sich mir tief und unvergeßlich ein. Gleichwohl schliefen wir, von der Groß­mutter zu Bett gebracht, süß und ruhig bis zum Morgen, während die Eltern und das Hausgesinde die ganze Nacht zu thun hatten, bis das Feuer gänzlich unterdrückt war. Noch am andern Morgen rauchten die Aschenhaufen und war die Glut so stark, daß wir die Eisenstücke nicht aus der Asche hervorziehen konnten. Desto eifriger waren wir später damit und hatten lange unsre Freude daran, die Nägel, Schrauben und Muttern und andern Eisenkram aufzusuchen, [130] grad zu richten und brauchbar zu machen. Größer aber war die Freude, als wir auf den Trümmern der alten neue, von Stein erbaute Ställe und Nebengebäude sich erheben sahen, die unter Gottes Schutz noch heute stehen. Der größte Gewinn aber aus jenem Brandunglück im alten Pastorat war, daß Baron P. von dort zurückgekehrt, mit dem Wort ins Zimmer trat: „Nachdem ich dies Elend gesehen, wie die alten Gebäude dort wie Zunder aufgingen, steht es bei mir fest: kein Gesinde auf meinem Gut wird mehr aus Holz gebaut.“

Die Ursache des Brandunglücks blieb lange unaufgeklärt. Nach Jahren aber lag ein Kutscher, der in jener Zeit bei meinem Vater in Dienst gestanden hatte, auf dem Sterbebett. Er bat um den letzten Trost. Als der Vater zu ihm eintrat, dankte er Gott, daß er nicht vorher hinweg gestorben. „Es drückt mich,“ sprach er, „eine Sünde jetzt diese lange Reihe von Jahren hindurch. Gott sei gepriesen, daß ich noch mein Herz erleichtern kann und sie nicht hinübernehmen muß in jene Welt. Ich war es, Herr, der schuld war, daß Euch Häuser und Habe niederbrannten. Trotz Eures strengen Verbots hatte ich mir im Stall meine Pfeife gestopft und den brennenden Schwamm auf die Pfeife gelegt. Ich wollte ins Feld und stieg über den Zaun, da trug ein Luftzug mir den Schwamm fort. Ich sah mich um, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht. Er muß ins Dach geflogen sein; denn kaum war ich eine halbe Stunde an der Arbeit, da schlug die Flamme auf. Vergebt es mir, Herr, wie Gott mir diese und alle meine Sünden vergeben wolle.“



  1. Anerkannter Landwirt und landwirtschaftlicher Schriftsteller jener Zeit und Gegend.
  2. Damals währte der aktive Dienst des russischen Soldaten 25 Jahre. Die Disziplin war eine barbarische.
  3. Auf ein Jahr verdungene Knechte durften nicht vor Jahresfrist die Stelle verlassen.
  4. Es ist hier von Alexander I. die Rede. Die Aufhebung der Leibeigenschaft geschah in Kurland bekanntlich 1817.
  5. Muskatnuß. Altes kurisches Sprichwort.
  6. Das Bauernvolk ist am besten, wenn es weint, am schlimmsten, wenn es lacht.
  7. Bekanntes Lieblingsgericht in Kurland, besonders zur Sommerszeit.