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Aus alten Zeiten/Friedrich und Dorothee

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Durch Dunkelheit zum Licht Aus alten Zeiten
von Paul Seeberg
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[198]
9. Friedrich und Dorothee.




Es wäre undankbar von mir, wenn ich diese Erinne­rungen schlösse, ohne meinen lieben Eltern ein eignes Ka­pitel gewidmet zu haben. Sie haben’s um uns Kinder reichlich verdient, und einer oder der andere der freundlichen Leser hat vielleicht soviel Interesse an diesen harmlosen Aufzeichnungen gewonnen, um sich auch noch dieses letzte Blatt gefallen zu lassen.

Mein Vater war also, wie es die Großmutter so innig ersehnt, richtig aus des alten Pastors Reimer Hause auf das Dörptsche Gymnasium und auf die Universität gekommen. In den denkwürdigen Jahren der Befreiungskriege hatte er dort seine Studien beendigt. Aber aller Fleiß konnte dem geistlosen Rationalismus eines Hezel[1] und anderer und gleichgesinnter Professoren keine große Förderung abgewinnen. Erst Ewers schlug einen bessern Ton an. Auch die Philosophie war, wenn auch nicht unwürdig, doch ziemlich einflußlos vertreten. Schleiermachers epochemachende Anregung war noch nicht so weit gedrungen. Wären nicht die Geistesschätze unserer großen Dichter den jungen Theologen [199] zu Hilfe gekommen, — sie hätten vor Langeweile sterben können. Unter solchen Umständen war es ein Glück, daß die Herren Kandidaten nicht sofort von der Universität ins Amt kamen. Sie hätten wenig Gescheites zu predigen gehabt. Da es ihrer die Hülle und Fülle gab, ausländische wie inländische, so war Hauslehrerei und Schulmeisterei der natürliche, aber freilich oft recht langsame Weg, der die jungen Männer für den Dienst des Reiches Gottes vorbereitete. Sie hatten wenigstens den Gewinn, mancherlei Erfahrungen, trübe wie erfreuliche, zu sammeln, ehe sie zum geistlichen Hirtenamt berufen wurden. So wurde denn auch unser lieber Vater erst Lehrer am Witte- und Hueckschen Waisenhause in Libau und darauf Hauslehrer in der in Wahnen eingepfarrten, aber damals auf einem andern Gute lebenden Familie des Barons von Hahn. Es waren glückliche Zeiten, wo einem Hauslehrer, — wenn auch freilich nur ausnahmsweise, wie hier, die Möglichkeit geboten werden konnte, zugleich seine Herzensflamme heimzuführen. Aber so geschah es. Während er die jüngern Söhne des Hauses unterrichtete, füllte sein liebes Dorchen die Stelle einer Gesellschafterin und Vorleserin bei der Baronin aus, die als Taufmutter der jungen Frau ihr ein besonderes Interesse entgegentrug und ihr viel Freundlichkeit erwies. Das ging nun so eine Weile. Als aber in die Wohnung des Herrn Kandidaten eine Wiege ihren Einzug hielt und der junge Erstgeborne, dem hernach noch neun andere Kreatürlein folgen sollten, gleichfalls Ansprüche auf Unterhaltung erhob, schien es dem jungen Ehepaar wünschenswert, unter eignes Dach und Fach zu kommen. Das machte sich denn auch. Unser lieber Großvater war nämlich, da er bereits in vorgerückteren Jahren stand, auf den Gedanken gekommen, seinen Schwiegersohn als Adjunkten ins Haus zu nehmen und ihm nicht nur das ganze Amt, sondern auch die ganze [200] Haushaltung, an welcher er ohnehin keine sonderliche Freude hatte, abzutreten. Das war nun gewiß nach beider Sinn; kehrte der Vater doch damit in das liebe Haus zurück, wo er seine unvergeßliche Knabenzeit zugebracht, und sein Dorchen an den Herd, an dem sie nach dem Tode der Mutter schon jahrelang so brav und treu gewaltet hatte. Aber so willkommen der Gedanke allen Beteiligten war, — einige Schwierigkeiten gab’s doch zu überwinden. Es mußte erst Raum geschafft werden; denn das alte Pastorat herbergte zwei absonderliche Insassen, die jeder für sich ein Zimmer in Anspruch nahmen und auf des alten Großvaters Beutel zum großen Schaden desselben lebten. Für beide war es, vom moralischen Standpunkt aus, eine Wohlthat, wenn man ihrer mangelnden Energie durch eine gelinde Nötigung zu Hilfe kam und sie dazu brachte, wenigstens etwas zu thun, um ihr eigen Brot zu essen. Der eine von diesen edeln Herren war Bertram Reck, Binchens mißratener Sohn, der sogenannte Notarius publicus, der aber nie in seinem Leben etwas publice notiert hatte, auch seine angeerbte juristische Bibliothek mehr ansah als studierte. Wohl ver­sorgt und verwöhnt von der schwachen Mutter und dem allzu gütigen Onkel, hatte er sich in der edeln Kunst, sein Leben mit Rauchen, Spazierengehen, Romanlesen u. s. w. zuzubringen, bis zur Virtuosität ausgebildet. Der zweite der genannten Herren war unser Onkel Karl, Großväter­chens lieber aber verunglückter Sohn. Erst war derselbe als hoffnungsvoller Jüngling in das Comptoir seines Verwandten, des Generalkonsuls Sorgenfrei in Libau eingetreten, wo er sich aber bald als wenig geeignet für die Prosa des kaufmännischen Lebens erwiesen hatte. Sein mütterliches Erbteil hatte ihm schon damals mehr Freiheit gewährt, das Leben mühelos zu genießen, als für ihn gut war. Er fühlte sich zum Dichter berufen. Darum verließ er [201] bald genug Hafer und Roggen und all die andern niederen Gegenstände, mit welchen sich sein Onkel, der Generalkonsul, die Mittel zum Dasein erwarb, und beschloß, sich fortan in Dorpat den Musen und dem Mars zu widmen, denn es gab in der durch den Kaiser Alexander renovierten Universität damals in der That auch eine Professur der Kriegswissen­schaft. Diese war, wenn ich nicht irre, schon damals durch den kuriosen alten Herrn von Aderkas vertreten, einen echten Philister, welcher später durch seine höchst unmilitärische Haltung und Kleidung bei Kaiser Alexanders Nachfolger Nikolaus einen solchen horror erweckte, daß dieser die Professur mit samt dem Professor abschaffte. Ein Th. Körner war nun unser poetischer Onkel freilich nicht, aber Leier und Schwert sollten auch bei ihm vereint bleiben. Er ließ seine Gedichte in einem mäßigen Bändchen, natürlich auf eigene Kosten, erscheinen; fanden sie in der Gegenwart wenig Anerkennung, so war nach seiner Meinung ihr hoher Flug daran schuld. Um so mehr tröstete er sich mit der Zukunft. Ein halbes Jahrhundert später erst werde man sie verstehen und würdigen. Das war insofern richtig, als wir Knaben den ganzen Vorrat zu Drachen, Kästchen und Pfefferbeuteln verpappten. Ein gleiches Schicksal bereiteten wir übrigens auch den nachgelassenen kriegswissenschaftlichen Werken unseres Onkels, die, wenig gelesen, aber poetisch in Grün und Rosa gebunden, in der alten Apotheke des Pastorates ein einsames Dasein gefristet hatten; kaum hatten wir sie dort in der Nähe von Kamillenthee und Sennesblättern entdeckt, als diese „Quarré-long-Bücher,“ wie wir sie wegen eines hierauf bezüglichen illustrierten Kapitels nannten, eins nach dem andern unter unsern geschäftigen Händen verschwanden. Damals aber, da der Vater als Adjunkt in das Haus einziehen sollte, bildeten sie noch eine Zier auf dem Bücherbrett des Herrn von Reimer, — denn [202] da unser Onkel keinen Großherzog besaß, der ihn wie Schiller und Göthe hätte adeln können, so hatte er sich einen, mir immer noch etwas zweifelhaften polnischen Adel selbst besorgt. Und so war er denn, nachdem er sein eignes mütterliches Erbe und leider auch das seiner allzu vertrauenden Schwester, unserer guten Mutter, in kühnen Versen und nicht weniger kühnen Thorheiten angebracht, in sein Dichterheim d. h. an den väterlichen Herd und Tisch zurückgekehrt, und verlebte dort Tage und Jahre in poe­tischer Faulenzerei. Zur Abwechselung war er damals gerade Engländer geworden, hielt sich einen Diener und einen Hühnerhund, obgleich er nie etwas schoß. Ja um den jungen Lord recht vollständig zu machen, hatte er sich ein Reitpferd angeschafft, einen Porzellanschecken, und bestieg bald diesen, bald den Pegasus. In rosinfarbenem Spenzer, um seinen idealen Wuchs zu präsentieren, resedagrüner Weste, Stiefeln mit gelbledernen Umschlägen, machte er die Umgegend des Pastorates unsicher, bald in Gemeinschaft mit seinem mehr philiströsen vis à vis und Vetter, Ber­tram, bald, wie es bei reizbaren Poeten leicht geschieht, bis in den Tod mit ihm verfeindet. Für all diese Narrheiten hatte nun unser lieber Vater durchaus keinen Sinn, ja auch nicht einmal Nachsicht. Klar und bündig setzte er es seinem Schwiegervater auseinander, daß er nicht daran denke, ins Haus zu kommen, solange diese Nichtsthuer unter demselben Dache blieben. So wurden sie denn schließlich mit einiger Kraftanstrengung glücklich an die Luft gesetzt. Der Onkel zog nach Riga, wo er ein kleines Ämtchen erhielt und zur Zeit der ersten Cholera (1831) starb, Bertramchen aber ließ sich in einem kleinen Marktflecken nieder, wo er noch lange auf seiner Mutter und Schwester Kosten aß, trank und schlief. Die „Schwammherzigkeit“ jener Zeit, wie, glaube ich, Menzel oder Leo die Sache bezeichnet, und [203] die breitspurigen Verhältnisse, in denen man damals sich bewegte, machten solche Existenzen eher möglich, als dies in der Gegenwart der Fall ist.

So war nun der Vater richtig als Adjunkt in das Haus eingezogen, welches unter seiner festen Hand bald ein ganz anderes Aussehen gewann. Es war auch in der That die höchste Zeit, daß hier eine Änderung geschah; denn der arme Großvater war durch seine rührende Gutmütigkeit, oder wenn man will, Schwäche, durch seine Leidenschaft für Bücher und zu allem Unglück durch eine vertrauensselige Kaution, die er für einen Herrn v. H. geleistet hatte, an den Rand des finanziellen Ruins gekommen. Ordnungsliebend, thätig, willenskräftig wie der Vater war, heilte er von Jahr zu Jahr mehr die Schäden einer langen Mißwirtschaft, und treu stand ihm dabei unsere gute Mutter zur Seite. Die unermüdete Sorgfalt, die sie allem wid­mete, was ihrer Hand anvertraut war, machte sich in jedem Zweige des großen, ländlichen Hauswesens geltend. Auf dem Kleinen und Geringen ruhte ein so unverkennbarer Gottessegen, daß sich die Nachbarn oft genug darüber verwunderten. Zur Zeit des Großvaters hatte es oft Mangel gegeben, über den nur sein genügsamer Sinn und sein fröhlicher Mut hinweghalf; wir haben, so zahlreich wir waren, in diesem kleinen Pastorat nie etwas von Mangel gewußt. Ja eine liebe Pastorin aus der Nachbarschaft gestand nach Jahren noch, sie sei aus dem Wahnenschen Pastorat in jener Zeit stets einigermaßen verstimmt und niedergeschlagen zurückgekehrt, weil sie es trotz aller Bemühungen in ihrem größern Pastorate nicht zu gleicher Ordnung und gleich gefüllten Kammern habe bringen können. Mit dem innigsten Dank freute sich dieser Wandlung der alte Großvater selbst. Hatte er doch der Tochter an ihrem Trau­tage mit Thränen in den Augen auch diesen Wunsch mit­gegeben: [204] „Liebe Kinder, Gott lehre euch besser haushalten, als ich es vermocht.“ Ja er war aufrichtig genug, zu bekennen: „Als ich keinen Adjunkten hatte, da hab ich meine Schulden gemacht, und als ich mit ihm teilen mußte, da hab ich sie bezahlt.“ Unter des Vaters Aufsicht erfreuten sich die kleinen Reste von Äckern und Wiesen, die dem Pastorate noch geblieben waren, einer Pflege, die selbst die kunst­gerechte Bewirtschaftung der benachbarten Felder des Herrenhofes in ihren Erträgen überflügelte, und der vernach­lässigte Garten ward bald zu einem Quell der Freude für alt und jung. Aber das alles war doch nur das Äußerlichste. Das ganze Amt gewann einen andern Geist. Freilich vermochte der Vater auch nur zu geben, was in ihm selbst lebte, aber Feuer und Kraft der Jugend machte sich auch schon von Anfang bemerkbar. Der Herr aber führte ihn selbst von Jahr zu Jahr tiefer in geistliche Erkenntnis und geistliches Leben hinein. Über dem Studium der Schriften von Olshausen, Sartorius, Tholuck, der großen Väter Luther und Calvin, vor allem aber der heil. Schrift selbst und unter der wöchentlichen gewissenhaften Ausarbeitung seiner Predigten war er zu einem innigen Glauben an die Versöhnung durch das Blut Christi ge­kommen. Sein ganzes Wesen ward dadurch gehoben. Die Freudigkeit des Menschen, der die Gerechtigkeit aus dem Glauben gefunden hat, strahlte aus seinem Angesicht. In dieser freudigen und mutigen Glaubenszuversicht, in seiner gedrungenen, kräftigen Gestalt und in seinem Humor sah eine Freundin unseres Hauses, die Pastorin Seesemann, unter deren nachgelassenen Papieren sich eine interessante Skizze des alten Pastorates Wahnen vorfand, etwas vom alten Vater Luther. Der Gatte der eben genannten, höchst einnehmenden und geistreichen Frau, später Pastor in Kruhten, damals, als der Umschwung in der religiösen [205] Anschauung unseres Vaters stattfand, noch Kandidat und Hauslehrer in einer Wahnen benachbarten Forstei, war sein intimster Freund. Es waren wohl selige Stunden gegen­seitiger Aussprache, die sie über diesem gemeinsamen Suchen und Fragen nach dem Heil verbrachten, so recht die erste Wärme der Begeisterung und der Liebe, die sie zu den Zeugnissen der heil. Schrift und zu der Wolke späterer Glaubenszeugen zog. Bei diesen fanden sie stets neue An­regung und Förderung auf ihrem Wege. Baxters „Ruhe der Heiligen“ z. B. lag bis zu seinem letzten Lebensjahr auf meines Vaters Nachttisch. Daß die Predigt von dieser Umwandlung reichlichen Gewinn hatte, brauch ich nicht zu sagen; aber auch die Hausbesuche gewannen eine andere Gestalt. Mit allem Nachdruck wurde der häusliche Unter­richt der Bauerkinder im Lesen in der biblischen Geschichte und dem Katechismus, das einzige an Schule, was es damals gab, gepflegt und manche Frucht dem steinigten Boden abgerungen. Und als nun gar durch den hochherzigen Entschluß des Herrn Barons von Hahn in Asuppen die zweistöckige, prächtige Schule errichtet worden war, — eine der ersten in Kurland — da war es unser lieber Vater, der die Hauptarbeit ihrer Organisation, Beaufsich­tigung und Entwicklung mit Freuden auf sich nahm. Selbst die mancherlei gutgemeinten, aber nicht allemal praktischen Versuche, welche die aus dem Auslande stammende Frau Baronin auf diesem Gebiete anstellte und die den stetigen Gang der Schule mehr hindernd als fördernd unterbrachen, vermochten nicht, ihn zu ermüden. — Daß er in einer Zeit, wo er, wie sich die Pastorin Seesemann ausdrückt, „mitten unter dem allgemein verbreiteten Rationalismus die Fahne des Glaubens hoch emporhielt," nicht ohne An­fechtung bleiben konnte, versteht sich von selbst. Namentlich war es sein Propst, der bis an sein Ende diesem neuen [206] Geist allen möglichen Tort anwünschte oder auch anthat, und als gar der Vater einem Volksschullehrer in der Ferne, der sich dem Glauben zuzuwenden begann, auf dessen Anfrage manchen Ausschluß und manchen treuen Rat, unter anderem auch den erteilt hatte, seinen ganzen rationalistischen Kram, mit samt der Schullehrerbibel von Dinter,[2] dessen Schüler jener Mann gewesen war, in den Ofen zu werfen, — da war Feuer im Dache und großer Feuerlärm im rationalistischen Lager, — aber die Flammen legten sich nach und nach, und als nach Jahren unser Vater durch das Vertrauen seiner Amtsbrüder zum Propst der Diöcese erwählt wurde, da war es dieser einst so thörichterweise geschmähte Geist des Glaubens aufrichtiger, christlicher und brüderlicher Liebe und ernster gewissenhafter Arbeit an den ihnen anvertrauten Gemeinden, der die Prediger nicht bloß dieser Diöcese, sondern des ganzen Landes verband. Der alte, verknöcherte Rationalismus war hier wie in Deutschland im Sterben. Hiezu hatten namentlich auch die in den Dreißigerjahren infolge des neuen Kirchengesetzes in Gang gekommenen Predigersynoden segensreich mitgewirkt.

Das kleine Pastorat, dessen Einnahmen noch zur Hälfte dem lieben Großvater zufielen, reichte natürlich auch bei dem sorgsamsten Haushalten nicht für die wachsenden Bedürfnisse der Familie aus. So mußte denn die bereits seit Jahren durch den Großvater eingebürgerte Schulmeisterei aushelfend hinzutreten, namentlich als wir Kinder selbst in das schulbedürftige Alter einrückten, — und unser waren zehn. Es waren neben uns immer einige Pensionäre im Hause, oft freilich gegen eine überaus geringe Geldentschädigung. Täglich hatten wir unsere vier Stunden vormittags [207] und zwei bis drei nachmittags, dazu unsere Präparationen morgens und abends, fast gar keine Sommerferien, — denn der Vater fürchtete die schlimmen Folgen des Nichtsthuns, — ja selbst die freien Zeiten, welche die großen Feste zu umgeben pflegen, waren nur knapp zugemessen. Keinem fiel es ein, daß dies Überbürdung sei, und sie war es auch wirklich nicht. Wir waren frisch und gesund. Von Nachhilfe bei den Vorbereitungen oder den schriftlichen Ar­beiten war keine Rede; es galt vielmehr als Ehrensache, sich selbst fortzuhelfen. An demselben Tisch, wo wir unsere Präparationen machten, saß der Vater und las seine theologische Zeitschrift, oder er arbeitete nebenbei an seinem Pult. Aber mäuschenstill mußte es sein, — und wir waren’s auch, denn wir hatten gewaltigen Respekt. Der Vater spaßte nicht. Er brauchte darum auch nicht einmal nachzusehen, wie weit wir mit unserer Vorbereitung fertig waren; denn keiner wagte es, sich früher ans Spiel zu machen, ehe er mit seiner Präparation zu Ende war. Wehe dem, der sich, wie der verächtliche Ausdruck lautete, cavalièrement prä­pariert hatte! Es gab eine schlechte Nummer, nötigenfalls einen ernstern Denkzettel. Der Ehrgeiz wurde durch die tägliche Zensur, die bei jedem Unterrichtsgegenstand ins Tagebuch geschrieben ward, rege erhalten. Mit welcher ängstlichen Unruhe sah man sich seine Zahlen an und suchte seinen Mitbewerbern den Preis abzuringen! Für größere Leistungen gab es entsprechende Auszeichnungen. Das selten gespendete, aber desto wertvollere Lob hatte eine elektrisie­rende Wirkung. Wer ein Schulbuch glücklich bis ans Ende durchgearbeitet hatte, durfte auf einen besondern Ehrenkuchen rechnen. Froh und stolz wie ein Olympier teilte ich den von mir erworbenen Krebs- und Gröbelkuchen mit meinen Kameraden, der freilich nichts mit Krebsen, wohl aber mit Krebs’ Anleitung zum Lateinschreiben und Gröbels [208] lateinischem Handbuch zu thun hatte, die von mir in treuer Arbeit zu Ende gebracht waren. Um uns mehr abzu­schleifen, gewandter und selbständiger zu machen, gab uns der Vater verschiedene Aufträge in die Nachbarschaft; waren sie nicht genau ausgeführt oder hatte man sich nicht zu helfen gewußt, so konnte man gewiß sein, noch drei- und viermal hingeschickt zu werden. Auch „Furchtproben“ oder wie man sie richtiger hätte nennen sollen, Mutproben wurden mit uns angestellt. In den Winterabenden mußte einer der Knaben einen leicht erkennbaren Gegenstand zu einer vorher bestimmten Stelle der Landstraße oder in einen abgelegeneren Teil des Gartens hinaustragen, ein andrer ihn von dort holen. Es gab keinen, der nicht seine Auf­gabe gelöst hätte; ob es jedoch allemal ohne Herzklopfen geschah, will ich nicht untersuchen.

Für unser physisches Gedeihen fehlte es uns nicht an der nötigen Bewegung. Schon der Garten gab in dieser Beziehung etwas zu thun. Jedes von uns Kindern hatte sein eignes Stücklein darin, auch seinen eignen Apfel-, Kirsch und Pflaumenbaum, um das Eigentumsrecht achten zu ler­nen ; andere standen allgemeiner Benutzung offen, und das reiche Fallobst gestattete noch, Vorrat anzulegen. Aber wir sollten auch schaffen und pflegen lernen, darum hatten wir jeder ein Gartenstück, in welchem wir die Gänge von Gras rein zu stoßen hatten u. s. w. Es waren ferner im Spät­herbst die jungen Bäumchen in Tannenzweige einzubinden, eine harte Arbeit, bei der einem die Hände fast zum Wei­nen froren; es kam das Pflanzen, das genuß- und hoff­nungsreiche Pfropfen, es gab ferner Hütten im Walde zu bauen, gewaltige Festungen; man krebste, man fischte, kurz immer neue Schaffensfreude, — o wie waren wir armen Landkinder reich dem armen eingepferchten Stadtkinde gegen­über, das jedes Stückchen Erde vorweggenommen sieht und [209] an der freien Gottesnatur nur sozusagen naschen kann. Es kamen noch die Bewegungsspiele hinzu, von welchen ich nur zwei zu Ehren bringen will, weil ich sehe, daß das nachgeborne Geschlecht sie vor lauter fremdem Kram, vor lauter Croquet und Fußball u. s. w. zu vergessen oder zu ver­achten beginnt. Da war also das Pflockspiel: der eine wirft einen schweren, zugespitzten Knüttel so in die Erde, daß er mit dem spitzen Ende in derselben stecken bleibt; sein Gegner­ hat den seinen so zu werfen, daß sein Knüttel den ersten herausschlägt und selbst stecken bleibt. Jeder gelungene Wurf wird gezählt; die Partie geht auf zehn, zwölf u. s. w. Als das Spiel aufkam, wurde jede freie Minute darauf verwendet und dasselbe mit solcher Leidenschaft getrieben, daß nach acht Tagen keiner der Knaben mehr vor Schmerz den Arm heben konnte, und männiglich beschlossen ward, das „abscheuliche Spiel“ ganz abzuschaffen, ein Beschluß, der auch wirklich einige Wochen gehalten ward. Viel schöner aber noch als dieses war das alte echt kurische Rippspiel. Man stellt sich auf einem freien Platz oder auf der Land­straße in zwei Parteien auf; ein Zwischenraum von etwa achtzig oder hundert Schritt trennt beide. Jeder der Spie­ler, die einer hinter dem andern in einiger Entfernung stehen, hat einen starken, am untern Ende gekrümmten Schläger von ein bis anderthalb Meter in der Hand. Jetzt wirft einer der Vordermänner die Scheibe (Discus), [3] welche sausend oder in großen Sätzen die Gegner erreicht, und von diesen zurückgeschlagen werden soll. Gelingt dies, so rückt die siegreiche Partei soweit vor, als es ihr gelang, die Scheibe zurückzuschlagen; gelingt dies nicht, — und oft fliegt die böse Scheibe zwischen allen Schlägern durch, so [210] muß sie soweit zurück, als die Scheibe rollte. Bei diesem angespannten, ja verzweifelten Ringen ward Sparta auf der Landstraße oft ein Kilometer weit zurückgetrieben und der Verzweiflung nah, bis ein glücklicher Schlag das Blatt wandte, und das stolze Athen, Schritt für Schritt zurück­geschlagen, sich schließlich ergeben mußte. Daß sich unter den mancherlei Freuden, die uns der Vater gestattete, auch die des Reitens befand, brauche ich nicht zu sagen. Nur eine Bedingung hatte er dafür gestellt: keine Sättel, keine Steigbügel, damit der Gefahr des Hängenbleibens in den letztern vorgebeugt werde. (Man verzeihe mir diese De­tails; aber sie sind hier angeführt, damit, wenn einer aus meinem Stamm seinen Jungen den gleichen Sport gestatten will, er sich auch der guten Vorsichtsmaßregeln erinnere, die manch bösen Unfall verhindern könnten.) Also ein ziem­lich dünnes Lederkissen war unser ganzes Sattelzeug; aber man war doch froh, wenn man einen von des Vaters vier Gäulen bekam. Größer war freilich das Vergnügen, wenn man Sonntags bei den H.’s in A. war. Da eskortierte man mit den jungen H.’s zusammen die Damen, wenn sie nach dem Diner eine Ausfahrt machten. Es mochte nun allerdings nicht recht zu der Etikette stimmen, daß die Sonntagshöslein der jungen Kavaliere bei dem noch unsichern Schluß höher und höher aufrückten und schließlich eine appetitliche, wohlgenährte Knabenwade offenbarten, — aber schön war das Reiten doch.

Daß nun auch nach des Schultages Last und Hitze, namentlich an den Sonnabendnachmittagen den Musen ge­huldigt, vorgelesen, gemalt und musiziert wurde, versteht sich von selbst. Sogar ein großes Marionettentheater, zu welchem ich die Figuren und Coulissen selbst malte, kam zu stande und bereitete uns viel mehr Freude, als wenn wir alles fertig aus dem Laden gekauft hätten. Kotzebue [211] und andere wurden natürlich geplündert, und Lumpacivagabundus ging bei ausverkauftem Hause d. h. unter dem Zu­schauen des ganzen Hauspersonals bis auf die Küchenmagd über die Scene. Die Feengrotte blau in blau mit goldnen Sternen war aber auch gar zu schön! Wie weit ich’s in der edeln Kunst des Flötenspiels gebracht, wage ich nicht zu bestimmen. Das Urteil, welches die alte Lahzen aussprach, — eine dicke würdige Bauerfrau in großer Haube und buntgestreiftem Rock, welche bei unserer Ankunft in dieser Welt jedesmal eine wichtige Rolle gespielt hatte und darum auch jederzeit, wenn sie sich die Sprößlinge ansah, die durch ihre weise Hilfe dies schöne Licht der Sonne erblickt hatten, mit einer tüchtigen Dosis Kaffee und Weißbrot be­wirtet wurde: „Der Jung bläst, daß ihm die Hosen zit­tern,“ — mag ein zweifelhaftes sein; vielleicht war es ein günstigeres, daß auch die Geheimrätin v. Hahn sich herab­ließ, mit dem dicken Jungen Mozartsche Sonaten zu spielen.

So flogen uns die Jahre dahin. Einem Bienenstock vergleicht jene oben genannte Freundin unser Haus, so emsig wurde gearbeitet von jedem an seinem Platz, so früh stand man auf, namentlich Vater und Mutter; denn nach des Hauses Vater richtet sich das Haus. Daß es aber auch an fröhlichem Schwärmen und Summen nicht fehlte, hab ich eben gezeigt, — und nicht bloß für uns Kinder. Auch die Nachbarn fanden ihre Freude daran, unter un­serm Dache zu weilen, zumal an den Sonntagnachmittagen, und fühlten sich wohl an dem großen gastlichen Tisch, an dem fröhlichen Sinn.

Aber die Jahre tragen die Last, sagt das Sprichwort. Das fühlte endlich auch der Vater. Wohl that die gute Mutter alles, um ihrem lieben Friedrich die Arbeit zu erleichtern. Wie oft ging sie hinaus, wenn er an dem Schultisch saß, um nach den Knechten und Mägden zu sehen! [212] Ja sie steht noch vor meiner Seele, wie sie im Herbst, wenn die Kartoffeln ausgehoben wurden, und die Tage oft schon gar rauh und kalt waren, des Vaters Leibpelzchen umthat und aufs Feld ging, um durch ihre Gegen­wart die Arbeit zu fördern; denn die Mägde in Kurland — ob’s vielleicht am Klima liegt? — pflegen, wenn ihrer viele beisammen sind, viel mehr mit der Zunge, als mit den Händen zu arbeiten, und wenn ein paar flotte Bursche hinzukommen, erst recht. Aber auch sonst half sie dem Vater nach Möglichkeit, nicht bloß bei dem Anschreiben der mancherlei Meldungen, sondern in gewissem Maße auch in der Pflege der Seelen. Er war ja kein Pastor bloß von der Kanzel herab, unser Vater. Er besaß die Liebe und das Vertrauen seiner Gemeinde. Und es war eine schöne Zeit, wo jeder Bauersmann mit allem, was ihm das Herz drückte, zuerst zu seinem Pastor gelaufen kam. Ich weiß nicht, ob sie je so wiederkehrt. Nun gab es aber noch viele andere kleinere Leiden und Anliegen, manche nur halb ge­heilte Wunde, zumal in Frauenherzen, manche Sorge um kranke Kinder u. s. w. Das lief denn alles zu der lieben Mutter, die allzeit ein offnes Ohr, ein offnes Herz, viel Geduld und eine offne Hand hatte, — die in so vielen Dingen Rat wußte und, ohne zu predigen, mit ihrem mil­den sanften Wort so wunderbar zu trösten verstand, das Leid einem vom Herzen nahm und es dem großen himm­lischen Leidträger ans Herz legen half. Wie viele haben’s ihr gedankt bis an ihr Lebensende! Es war ein liebes Mütterlein. — Und sie und der Vater hatten beide gerade in jener Zeit so viel zu tragen. Unser ältester Bruder war, wie erzählt, in Mitau in seinem achtzehnten Lebens­jahr am Typhus gestorben. Sie trugen’s still, ihr großes, schweres Leid; wie sehr es ihnen aber ans Herz ging, das zeigte sich auch darin, daß sie dem jüngstgebornen und [213] letzten Kinde, das gerade in jener traurigen Zeit zur Welt kam, gleichfalls den Namen Georg gaben. Der Verstorbene, der Unvergeßliche, sollte ihnen in diesem wieder auf- und fortleben.

Mittlerweile war auch ich soweit, daß mein Unterricht größere Ansprüche machte; aufs Gymnasium wollten mich die Eltern, noch unter dem Druck des schmerzlichen Ge­schickes stehend, das sie eben erfahren hatten, nicht geben; anderseits war es dem Vater ohne Hilfe nicht gut möglich, mich bis zur Universität vorzubereiten, da noch andere jüngere Schüler waren und die Pflichten des Amtes nicht verleugnet werden konnten. So entschied man sich denn dafür, zur Hilfe in dem Unterricht einen tüchtigen Hauslehrer zu suchen.

Nun war in jener Zeit ein vielbesprochener Pastor auf die vor kurzem durch den Fürsten * gegründete Pfarre B. gekommen, der durch seine Beredsamkeit, wie durch die Strenge seiner Forderungen großen Ruf erlangt hatte. Auch wir, den Vater an der Spitze, machten an einem schönen Sonntage im Sommer, wo in unserer Kirche um einiger Reparaturen willen kein Gottesdienst stattfinden konnte, uns früh morgens in großer Gesellschaft dorthin auf, und die Predigt, die ich damals hörte, ist mir noch jetzt, nach bald fünfzig Jahren, im Gedächtnis geblieben. Ich weiß nicht, durch wen es geschehen war, aber der Vater hatte gerade in der Zeit, wo er eines Lehrers bedurfte, von einem Herrn von Klein sprechen hören, der in der Familie des Fürsten sich aufhalte, ein anerkannter Pädagog, ja Oberlehrer (d. h. Gymnasiallehrer) sei, aber von seiner Thätigkeit als solcher wegen angegriffener Gesundheit sich zurückgezogen habe. Derselbe sei von entschiedenem, christlichem Ernst und würde vielleicht zu bewegen sein, eine Hauslehrerstelle auf dem Lande anzunehmen, wenn die mit derselben verbundenen [214] Anstrengungen nicht zu groß für ihn wären. Das Ver­trauen, das ihm von dem Pastor des Ortes und von dem wegen seiner gläubigen Richtung und seines Lebensernstes bekannten Fürsten gezollt wurde, war ohnehin die beste Empfehlung. Darauf hin setzte sich unser lieber Vater mit dem Herrn von Klein in Verbindung, konnte aber dabei ein gewisses Unbehagen nicht los werden. „Weißt du, Dorchen,“ sagte er zu der Mutter, „der Mann gefällt mir durchaus nicht. Er hat lange Knochen[4] solche Menschen sind faul.“ — „Aber, Friedrich, er ist dir doch so sehr empfohlen worden?“ hieß es. — „Mag sein; ich spreche nur von dem ersten Eindruck, den ich nicht los werden kann.“ —

Herr von Klein aber konnte sich nicht sofort entschei­den; er müsse, hieß es, erst das Haus, die Knaben, die Aufgabe selbst näher ins Auge fassen, und wollte zu die­sem Zwecke persönlich nach Wahnen herüberkommen. Er erschien denn auch. Lang, dürr, bleich, mit dunklem hoch aufgerichtetem Haar, eingefallner Brust, in dem blauen Frack mit blanken Knöpfen, wie ihn nur die Oberlehrer der Gymnasien zu tragen berechtigt waren, ernst, wie einer, der mit der Welt abgeschlossen hat und sich an den Thoren der Ewigkeit weiß. Wir Jungen sahen uns den zukünfti­gen Mentor mit Staunen und geheimem Grauen an, — aber, — daß ich’s nur gleich gestehe, wir bemerkten auch, daß seine dunkelgraue Hose unten einen nur schlecht zu­genähten Riß hatte, daß er wenig aufsah, — ja er erschien uns originell genug, um ihn bald darauf mit seiner ge­bückten Haltung und seinem hektischen Ausdruck sehr erkenn­bar, wenn auch etwas karrikiert, aufs Papier zu bringen. Die fromme Rede floß ihm vom Munde; er wußte in die [215] Gegensätze schneidende Accente zu legen; aber auch von andern Dingen wußte er zu reden. So sprach er z. B. nach dem Frühstück von der Pflege der Musik, von der Ausbildung des Gehörs durch das Geigenspiel, und kam endlich auf Ole-Bull, den damals in seiner Glorie stehen­den Violinvirtuosen. Jetzt schilderte er ein Konzert, dem er beigewohnt, mit einem Feuer, einem Redefluß, daß uns der Mund offen stand. Nach einer kleinen Promenade im Garten setzte er sich auch einmal ans Klavier, „um es zu probieren“; aber er warf nur einige Akkorde und die be­kannte Melodie: „An Alexis send ich dich“ hin, und als wir, wie begreiflich, herbeistürmten, um den neuen Herrn Lehrer spielen zu hören, hielt er an, sah sich vornehm und mitleidig nach uns um und sagte mit scharfer Betonung: „Ich spiele nicht vor!“ — Er gefiel uns nicht, der Herr von Klein. — Auch jetzt konnte der gewissenhafte Mann sich nicht entscheiden; eine so wichtige Sache mache ihm eine doppelt ernste Selbstprüfung zur Pflicht; aber in acht Tagen werde er über seine Entscheidung Mitteilung machen. Damit fuhr er in Begleitung seines Dieners, den er als „einen moralisch guten Menschen, von dem er sich bei sei­ner angegriffenen Gesundheit nicht zu trennen vermöge,“ bezeichnet hatte, in des Fürsten Wagen wieder zurück. Nach acht Tagen erschien denn auch eine Epistel, in welcher er seine Zusage gab und in weiteren acht Tagen seine Funk­tionen anzutreten versprach, zugleich aber auch um einen Vorschuß von fünfzig Rubeln bat, deren er bedürfe, um einige Aufträge, die er soeben von seiner Mutter erhalten, zu erledigen. Der Vater ging an seinen Schrank und schickte ihm das Verlangte durch den moralisch guten Menschen. So warteten wir denn mit Ungeduld auf die Ankunft des seltenen Mannes. Der von ihm bestimmte Termin kam heran, er ging vorüber, — und noch immer beglückte uns [216] Herr von Klein nicht mit seiner Gegenwart. Man wartete noch einen Tag, eine Woche, und immer erschien er nicht. Im Gegenteil! Die Abwesenheit des Fürsten benützend, an dessen Stelle er sogar die Hausandachten geleitet hatte, war Herr von Klein „infolge einer eben erhaltenen Nachricht von der gefährlichen Erkrankung seiner Mutter,“ in der Equipage des Fürsten nach Mitau gefahren. Dort hatte er alsbald den Baron von H., einen Nachbar und Freund des Fürsten, der ihn oft im Hause des letztern gesehen hatte, aufgesucht und ihm unter dem Vorgeben, daß er verschiedene Einkäufe und Aufträge für den Fürsten zu besorgen gehabt habe, aber um 200 Rubel zu kurz ge­kommen sei, glücklich die genannte Summe abgenommen und darauf schleunigst seine Reise nach Riga fortgesetzt. Nur an Eins hatte der gute Mann nicht gedacht. In S., dem Schlosse des Fürsten, wohnte Zimmer an Zimmer mit ihm ein alter, mürrischer Porträtmaler Grun. Dies war in dem ganzen fürstlichen Hause der einzige Mann, der seine leisen Zweifel an der Frömmigkeit des verhimmelten Herrn von Klein hegte; ja in engerem Kreise hatte er sich sogar nicht entblödet zu sagen: „An dem ganzen Kerl ist kein ehrlicher Faden.“ An Sticheleien hatte es ohnehin unter diesen engen Nachbarn nicht gefehlt, welche der sonst so wortreiche Herr von Klein meist nur mit einem mit­leidigen Blick oder durch Äußerungen über den traurigen Standpunkt des Unglaubens, des „natürlichen Menschen“ u. s. w. beantwortet hatte, die der alte Grun seinerseits mit einem bedeutsamen Zwinkern seines linken Anges hin­nahm. Im übrigen nahm kein Mensch Notiz davon. Kaum aber war der Herr Oberlehrer, natürlich in Begleitung des moralisch guten Menschen, nach Mitau aufgebrochen, als auch schon der Alte die Bemerkung machte, daß ein ihm ge­höriges, silberbeschlagenes Prachtstück von einem Meerschaum­kopf [217] sich gleichfalls auf die Reise begeben hatte, auch einige andere wertvolle Kleinigkeiten; und sogar mehrere seiner feinen Hemden, auf welche der Alte besondern Wert legte, hatten der gleichen Versuchung nicht widerstehen können. Kurz der alte Brummbär geriet in eine nicht gelinde rage, schaffte sich ein Fuhrwerk und setzte seinen entwichenen Effekten und ihrem frömmelnden Protektor spornstreichs nach. Er trifft diesen freilich nicht mehr in Mitau, erreicht ihn aber in Riga und nimmt ihm den Raub ab, wobei die ganze Elendigkeit des Heuchlers zu Tage kam; auch der Baron von H. gelangte wohl in den Besitz seiner allzu leicht geleiste­ten Vorschüsse; nur dem Vater mißglückte dies. Wohl schrieb er, nachdem er, freilich zu spät, all diese herrlichen Geschichten erfahren hatte, an einen juristischen Freund nach Riga; dieser gab ihm aber die traurige Aussicht, man könne den sogenannten Herrn von Klein, der sich übrigens als eins der abgefeimtesten Subjekte entpuppe, im besten Fall wohl auf einige Zeit ins Arbeitshaus bringen, die Unter­haltskosten habe aber der Kläger zu tragen, und ob der jedenfalls arbeitsscheue und kränkliche Schwindler je soviel zusammenarbeiten werde, um die Verköstigung zu bezahlen und gar noch die fünfzig Rubel wieder zu erstatten, sei mehr als fraglich. So ließ der Vater ihn denn laufen. Was aus ihm schließlich geworden, haben wir nie erfahren.

So war denn die erste Expedition zur Erlangung eines Hauslehrers kläglich und abschreckend genug verlaufen; aber nötig war einer doch. Es galt darum ein neues Aus­schauen nach einem solchen, welches auch schließlich mit Er­folg gekrönt ward, indem der schon früher von mir erwähnte Dr. phil. van der Süß, Altonaer von Geburt, in unser Haus kam. Mit Spannung sahen wir Knaben seiner Ankunft entgegen. Der Doktor der Philosophie imponierte uns nicht wenig. Ich lag leider um jene Zeit krank. Man [218] wußte noch nicht, was es werden würde. Da unglücklicher­weise der Arzt geäußert hatte, nach dem hochgradigen Fie­ber zu urteilen, könnten es sogar die Pocken sein, die im Anzuge wären, so kann man sich denken, wie mitleidig und spähend Mutter, Tanten und Geschwister mich ansahen, — der Vater war abwesend — um die schreckliche Entscheidung herauszulesen. Nun, es waren keine Pocken, sondern nur die Masern. Kaum hatte aber die gute Großmutter sich davon überzeugt, so griff sie mit kräftiger Hand ein, „um den Ausschlag herauszutreiben,“ und ließ, obgleich wir in der Pfingstzeit standen und gerade eine Gewitterschwüle im Anzuge war, den großen schwarzen Kachelofen anheizen, bis glücklicherweise der Vater nach Hause kam und ausrief: „Ihr bringt ja den Jungen um!“ Da wurden denn die Scheite aus dem Ofen gerissen und der künstlichen Stei­gerung des Fiebers Einhalt gethan. Während ich in der darauf folgenden Nacht noch im Bette lag und dem ein­tönigen Regen lauschte, der mittlerweile eingetreten war, rollte ein Wägelchen vor die Thür; es war der neue Doktor. Wie gern hätte ich ihn von Angesicht gesehen; aber es ging nicht. Endlich, endlich aber waren auch die langsam hin­schleichenden Krankheitstage, welche mir von Tante und Ge­schwistern durch Vorlesen der Schriften der Miß Gr. Kennedy nach Möglichkeit gekürzt wurden, überstanden, und ich konnte des neuen Lehrers ansichtig werden. Ich wurde sogar sein Stubengenosse; denn des Großvaters großes, erinnerungsreiches Zimmer ward wieder zum Schulzimmer, und der anstoßende Raum nahm mein und des Doktors Bett auf. Wir wurden auch ganz gute Freunde, und lernen konnte man schon etwas bei ihm. Noch heute denke ich gern an die genußreichen Stunden zurück, die wir über dem Homer und Horaz, dem Sophokles und Plato ver­bracht haben, und an die Geschichte der griechischen und [219] römischen Litteratur, die wir bei ihm hatten. Aber eins stand ebenso fest, daß der Mann einige Absonderlichkeiten an sich hatte, für welche man zunächst nicht einmal einen Erklärungsgrund zu finden vermochte. Es kamen nämlich Tage, wo der kleine Mann mit dem vorgebeugten Kopf seine blassen, unscheinbaren Augenbrauen finstrer und finstrer zusammenzog, mit seinen blöden Augen neben und durch die silberne Brille fürchterliche Blicke hervorsandte, mit dem Fuße stampfte und, wenn er gerade im Freien war, gegen unsichtbare Feinde wild durch die Luft fuchtelte. Man sah, es war ein Gewitter, ein Sturm im Anzuge. Jetzt, plötz­lich, brach er los. Erst rannte der Unglückliche wie ein Rasender im Zimmer herum, warf drohende, unverständ­liche Laute um sich, bis er die Thür seines Zimmers auf­riß und den langen Gang über den Boden, auf welchem Großvaters und Binchens Füße einst so friedvoll gewandelt hatten, und die Bodentreppe hinunterjagte, um sich bei dem Vater zu beklagen, daß er verfolgt werde. „Verfolgt?“ fragte der Vater verwundert. „Von wem?“ — „Die, die da! In Altona!“ hieß es dann (seine Verwandten, fromme, liebe Leute, unschuldig wie die Sonne). „Sie wollen es hindern; sie wollen es nicht zu stande kommen lassen. Aber, ich sage es Ihnen, Herr Pastor, sie und kein Mensch auf Erden soll es verhindern.“ — „Was denn?“ fragte weiter der Vater, und da kam es denn endlich heraus, was frei­lich kein Sterblicher mit hundertfachem Prophetengeist hätte erraten können, daß die Königin Viktoria (buchstäblich) ihn glühend liebe, — und er natürlich sie; daß man ihn nur deswegen nach Rußland expediert habe, um sie nicht zusammenkommen zu lassen; aber er werde zeigen, daß er so nicht mit sich umspringen lasse u. s. w.“ — Ein ander­mal hatte die Verzweiflung die Oberhand. Dann hieß es: „Wenn das so fortgeht, Herr Pastor, diese Intriguen, [220] dieser Verrat, dann bleibt mir nichts übrig, als mich unter die Erde zu vergraben.“ „Wünschen Sie vielleicht eine Schaufel dazu, Herr Doktor,“ erwiderte der Vater in aller Ruhe; „ich könnte Ihnen eine geben lassen?“ — Dann gab er dem Armen wohl auch die Versicherung, — er werde nicht dulden, daß jemand einem so seltnen Glück, wie es dem Doktor zuteil geworden, in den Weg trete. Die Falten glätteten sich auf der Stirn dieses „Ritters von der traurigen Gestalt,“ ja er überzeugte sich von der Thorheit seiner Phantasien, fühlte vielleicht unter dem wiederkehren­den Geisteslicht, wie lächerlich er sei, wie bemitleidenswert, und brach in Thränen aus. Der „Raptus,“ wie wir diese Anfälle nannten, war vorüber, und es konnten Monate vergehen, bis wieder einer kam. In der Zwischenzeit war der Doktor ganz vernünftig. Uns Kindern machten diese Anfälle mehr Spaß als Herzeleid, ja wir hatten sie nach den Anlässen, bei welchen sie zum Ausbruch gekommen waren, klassifiziert. Einmal war es eine zuschlagende Mause­falle, welche natürlich nur von des Doktors Feinden, ihm zum Tort, aufgestellt worden war, ein andermal ein ver­schobenes Kopfkissen gewesen, welches den Raptus hervor­rief, ja einmal wurde sogar das Brennholz, das lamm­fromm vom Winter her unter dem Ofen lag, und die Stühle im Zimmer schuldig befunden, und flogen sämtlich zum Fenster hinaus in den Garten, gerade in die Spargelbeete hinein. Darnach hatten wir einen „Mausefallen“-, einen „Kopfkissen“-, einen „Stuhl“- und sogar einen „Dirn“- Raptus, weil des Doktors Anfall mit dem Ausruf: „In­fame Dirn!“ begonnen hatte. Ob er damit Frau Venus oder sonst eine Göttin gemeint hatte, vermag wohl nie­mand zu sagen. Nun waren wir Knaben nicht ohne Ta­lente; namentlich war einer der jüngern, mein lieber Au­gust v. D. mit absonderlicher mimischer Neigung und Be­gabung [221] ausgestattet. Von seinem Genius geleitet, führte er in unsern Mußestunden diese Raptusse zu unsrem all­gemeinen Gaudium drastisch genug auf. Es war überhaupt ein drolliger Bursche, dieser August, gerad und ehrlich und unverdorben, von uns allen geliebt, Sohn eines alten, 1812 lahm geschossnen Majors, darum etwas kriegerisch gesinnt, namentlich gegen Nesselgebüsche, Kletten, Ameisen­haufen u. s. w., ein fruchtbarer Märchenerzähler und sogar Dichter. Mit Hilfe eines flachen Steines wollte er die Früchte seiner Muse drucken und meiner Schwester Lotte widmen. Eins seiner Gedichte begann: „Gesetzte Beine führen wir Auf einem Birkenschlitten,“ — gewiß eine klas­sische Wendung. Reizend transponierte der Schalk den Kapu­ziner aus dem Wallenstein ganz in des Doktors Ton und Gebärde, so daß wir Knaben uns vor Lachen nicht zu lassen wußten. Auch sonst, wenn der Doktor, voll donquichotischer Gedanken an die Prinzeß Viktoria, hastig die Straße hinauf­schritt, ging Augustchen hinterdrein und setzte die Füße nach des Doktors Takt, bis dieser einmal, von ungefähr sich umwendend, den Spuk gewahrte und ihm zurief: „Geh voraus! Geh voraus! Mach mir keine Männeken hinter dem Rücken!“ Daß er dadurch nicht besonders in der Gunst des Doktors stieg, kann man sich denken.

Doch gingen unsere Tage trotz der einzelnen verrückten Intermezzos ruhig und ordentlich dahin. Nur ich, als des Doktors Stubenkamerad, hatte zuzeiten einige unangenehme Augenblicke zu überstehen, wenn der unruhige Herr mit sei­nem Kopfkissen in Krieg geriet und sich daran machte, sein ganzes Bett umzukramen. Ehe er an diese Arbeit ging, nahm er das Licht und beschnüffelte mich, kurzsichtig, wie er war, ob ich auch eingeschlafen sei. Natürlich betrug ich mich so vorsichtig wie der Wandrer in der Fabel, als Meister Petz ihn inspizierte, und schlief so täuschend, wie [222] nur möglich. Weh mir, wenn der Doktor gemerkt hätte, daß Verrat im Spiele war; ich glaube, er hätte mir den Hals umgedreht. Abends saß er meist über seinem Ari­stoteles, aber einmal fand er sich veranlaßt, nicht nur das viel geplagte Vieh, den Pegasus zu besteigen, sondern sogar als leibhafter Götterbote herniederzuschweben. Es war nämlich der Eltern Silberhochzeit im Anzuge, und unser guter Doktor war in Aussicht derselben auf den schönen Gedanken gekommen, einen Festzug mit Gestalten aus Göthes Hermann und Dorothee zu komponieren; — hieß der Vater auch nicht gerade Hermann, so war doch der Name in der Familie üblich und die Mutter jedenfalls eine richtige Doro­thee. Wir Kinder sollten nun die verschiedenen Rollen über­nehmen, die der Doktor in ganz leidliche Verse gebracht, und die wir bis auf den Ipunkt sattelfest memoriert hatten. Er selbst aber wollte, um der Sache doch den richtigen Schick zu geben, als der Götterbote, der die Schatten aus der Unterwelt heraufführt und damit des Jubelpaares Ge­schicke zur Darstellung bringt, als Hermes Psychopompos auftreten. Hiezu bedurfte es natürlich eines Kostüms. Aus einem besonders intimen Kleidungsstück wurde glücklich eine Toga fabriziert und mit Purpur verbrämt, Trikots fanden sich auch, um des Doktors mißgestaltete Beine so götterhaft wie möglich erscheinen zu lassen, nur statt der Sandalen mußten Morgenschuhe dienen, da es doch zu unanständig gewesen wäre mit entblößten Hühneraugen vor die Silber­braut zu treten; aber ich hatte, wie ich versichern kann, ganz nette silberne Flügel an die Schuhe gepappt. Ein andres ähnliches Meisterstück meiner Hand war der silber­strahlende Flügelhelm aus Zuckerpapier und der Merkurstab. ­Soweit war alles gut. Vater und Mutter saßen auf ihren Ehrensesseln, die lieben Nachbarn und Freunde versammelten sich, — sieh! da schwebte der Götterbote durch [223] die Küchenthür in den Saal und wir Schatten hinter ihm her. Jetzt trat er vor das Jubelpaar, warf sich in die nötige Positur, reckte seinen Botenstab in die Höhe und begann pathetisch genug:

Aus jenen Höh’n, wo, was Poesie gesungen …

In diesem Augenblick fühlte eine neugierige Katze in sich den Drang, auch an der Fête teilzunehmen, drängte sich nach vorn und — dem Doktor gerade gegenüber — zwischen den Stuhlbeinen des Silberbräutigams hindurch, macht einen zierlichen Buckel und flötet mit erhobnem Schwanz ein Miau! so zart, so schmachtend, wie je der Doktor vor seiner angebeteten Prinzessin gehaucht. Das brachte ihn völlig aus dem Konzept; weg war sein Gedächtnis, — und ein Souffleur nicht vorhanden. Er züchtigt seinen wider­willigen Kopf; umsonst, dieser weiß nichts von allem, was ihm die Götter aufgetragen hatten. Der Doktor räuspert sich verzweifelt, einmal, zweimal, dann bat er bescheiden „Herr Pastor, Sie erlauben, daß ich nochmals anfange.“ Der Vater hatte natürlich nichts dagegen, nur ward es ihm schwer, sein Lachen unter dem Mantel der Würde zu verstecken. Der Doktor reckte also noch einmal seinen Stab in die Höhe, begann noch einmal mit göttlichem Pathos:

Aus jenen Höh’n, wo, was Poesie gesungen …

aber das tückische Gedächtnis verrät ihn aufs neue. Hat er vielleicht gar gehört, wie der Schalk, der August, den hoch­trabenden Anfang in seiner Weise fortsetzt und uns zuflüstert:

Aus jenen Höh’n, wo, was Poesie gesungen …
In unendlichem Wirrwarr liegt?

Hermes räuspert sich aufs neue, peinlich, unbarmherzig, umsonst! und bricht schließlich in den Seufzer aus: „Herr Pastor! Entschuldigen, — die Katz, — die Katz!“ — Aber sieh da, gerade in diesem kritischen Moment, wo der Vater samt seinem Dorchen an dem heruntergeschluckten Lachen fast [224] ersticken, tritt die liebe Lottetante, allzeit räsonnabel und auf mögliche Fatalitäten vorsorglich eingerichtet, mit dem Konzept der Hermesrolle zum Doktor und giebt ihm einen auffordernden Wink, seinem Göttergedächtnis Sukkurs zu bieten. Das ging denn auch ganz gut, und Hermes kam glücklich auf die Erde. Jetzt kamen wir Kinder an die Reihe und sagten unsere Sachen wie am Schnürchen her. Somit war alles glücklich abgelaufen. — Da nun aber unter den jungen Füßen etliche waren, welche meinten, eine Hochzeit ohne Tanz sei nur eine halbe Hochzeit, und wenn’s auch eine Silberhochzeit wäre, — so ward der Saal bald geräumt, dem alten Klavier ein muntrer Walzer entlockt und — wer hätte das gedacht! sofort die erste beste Dame, war’s nicht gar meine gute Schwester Lotte? von dem Götterboten aufgenommen. Hab ich jemals eine Komödie ohne Eintrittsgeld gesehen, so war es diesmal: Hermes Psychopompos den Walzer tanzend, daß ihm die Flügel an den Schuhen klappten! Das Fest ging froh und ohne Un­fall zu Ende und das Beste an demselben war nicht das, was nach außen hervortrat, sondern das stille, innige Dankesopfer, welches die Eltern dem Herrn in ihren Herzen brach­ten für all die Barmherzigkeit, Güte und Treue, die er an ihnen gethan.

Nachgerade war es aber doch Zeit, daß sich der klas­sische Götterbote wieder auf die Socken machte; denn seine Anfälle kehrten häufiger wieder, und die für einen Erzieher so notwendige Autorität ging trotz seiner Gelehrsamkeit dabei gänzlich in die Brüche. Glücklicherweise war ich nun auch so weit, daß ich zur Universität abgehen konnte. Dort hatte ich aber erst ein Eintrittsexamen zu überstehen, das erste Examen überhaupt in meinem Leben. Der Vater hatte gestattet, daß, wenn ich glücklich durchgekommen wäre, ich ihm die Nachricht von der Wahnen nächstbelegenen, aber immer­hin [225] vier Meilen entfernten Poststation per Estafette zuschicken könne; denn die reguläre Post kam nur einmal wöchentlich nach Wahnen. Nun, er hatte die Freude, daß seine treue Mühe an mir nicht verloren war. Gerade bei einer Schulfeier in der Volksschule beteiligt, hörte er das Posthorn erklingen; der Brief sagte ihm, daß ich mit der besten Nummer durchs Examen gekommen war. Nur Eltern­herzen verstehen es mitzufühlen, wie wohl solche Bot­schaft thut.

Ein Jahr nach dem andern flog dahin. Ich beendigte meine Studien, meine Hauslehrerjahre, trat mein erstes Pastorat (Kremon[5]) an, ward Bräutigam, gründete mei­nen Hausstand und freute mich mit meiner Friederike der sonnigen Tage unseres häuslichen Glückes. Es mochten etwa sechs Wochen her sein, daß wir verheiratet waren, da kamen meine lieben Schwiegereltern mit den beiden Schwägern zu uns zum Besuch. Man hörte allerdings beunruhigende Mitteilungen über den Ausbruch der Cholera in Riga, aber kein Mensch fürchtete sich vor ihr auf dem Lande, mitten in einer schönen und gesunden Gegend. Am andern Tage aber ergriff die unheimliche Krankheit meinen Schwiegervater, der durch einen infizierten Ort gekommen war, gerade als wir uns zu Tische setzen wollten, einige Minuten später auch meinen älteren Schwager, und raffte beide in wenig Stunden hin. Es war der erste überwälti­gende Kummer, der mich und meine arme junge Frau traf.

Auch in der alten Heimat war manches anders gewor­den. Die Großmutter war gestorben. Zwei meiner Schwe­stern wurden verheiratet; die eine folgte ihrem Manne in das Innere des Reichs und wurde bald Witwe, die andere ward die Gattin des Pfarrers Henkel, der das alte Pastorat [226] vom Hofe Wahnen aus, wo er Hauslehrer war, gern und oft besucht hatte, und uns allen lieb wie ein Bruder ge­worden war. Jetzt hatte er in seiner Heimat, in Koburg, schon eine Pfarre erhalten und gründete dort seinen Herd. Meiner lieben Mutter ward es nicht leicht, die Tochter so fern zu wissen, wenn sie sich auch sagen mußte, daß sie sehr glücklich und wohl aufgehoben sei. Die Entfernungen, zumal wenn es sich um das Ausland handelte, waren da­mals noch viel schwerer zu überwinden als jetzt. Um ihr die Freude des Wiedersehens zu bereiten, hatte der Vater­ Jahre hindurch einen Rubel zu dem andern gespart; mein Bruder Wilhelm hatte auch gerade um die Zeit sein Stu­dium in Dorpat beendet, seine Hauslehrerzeit überstanden, konnte die Mutter begleiten und dabei außer dem Genuß, den ihm die Reise brachte, etwas für seine leidende Ge­sundheit thun. Der Vater drängte selbst dazu, und gewiß war es seinerseits ein großes Opfer, das er brachte, wie sich die oben erwähnte Freundin unseres Hauses in ihrer Skizze ausdrückt; denn noch nie waren die Ehegatten für längere Zeit von einander getrennt gewesen, und der Vater gewohnt, alles was ihn bewegte, mit der Mutter zu be­sprechen. So machte sie sich denn auf den Weg. Es war eine Reise voll Genuß, wie jede erste Reise aus dem flachen Ostseeküstenland mit seinen wenig entwickelten Städten in das vorgeschrittenere, erinnerungsreiche und landschaftlich soviel ansprechendere Mutterland. Die Berge und Burgen und Wäl­der des schönen Thüringerlandes machten einen großen Ein­druck auf die Mutter. Brauche ich noch die Freude des Wieder­sehens mit der geliebten Tochter, die Begrüßung der beiden Enkelkinder zu schildern, denen bald ein drittes sich zugesellen sollte! In der hiebei zu erwartenden ernsten Stunde gedachte die Mutter unsere liebe Schwester zu pflegen und den einmal ihr gegönnten Besuch darum so lange als thunlich [227] auszudehnen. Aber es geschah auch diesmal, wie so oft, daß während man eben im Zuge ist, sich der irdischen Freude recht hinzugeben und es sich wohl werden zu lassen auf Erden, Gott seine heimsuchende Hand über uns aus­streckt und uns mit überirdischer Gewalt an sein Herz zieht, um uns nicht in die Gefahr kommen zu lassen, diesen Platz je zu verlieren. Der Vater, sonst so rüstig und von keiner ernstern Krankheit je angefochten, wurde von einem typhösen Fieber befallen und starb nach wenigen Tagen. Die arme Mutter, so sehr sie auch nach Empfang der Nach­richt ihre Rückreise beschleunigte, konnte bei den unvollkommnen Kommunikationsmitteln jener Zeit nicht einmal zu seiner Bestattung eintreffen. Sie fand ihn schon unter der Erde. Es war unmöglich gewesen, die Leiche in jenen heißen Sommertagen noch länger unbestattet zu erhalten. Aber noch war der Kelch der Trübsal nicht geleert. Kaum hatte sie ihre heißen Thränen etwas getrocknet, als aus Koburg die Nachricht eintraf, daß unsere Schwester Minna bald nach ihrer Niederkunft am Fieber gestorben sei. Es waren wohl die dunkelsten Tage, die über unsere arme Mutter gekommen waren. Vor kurzem noch eine fröhliche Naemi, jetzt eine Mara. Was der Vater im Gefühl des nahenden Todes ausgerufen hatte: „Meine armen, un­erzogenen Kinder!“ das lag wie eine Zentnerlast auf ihrer Seele; aber sie wie er wußte ihren Kummer und alle ihre Sorgen groß und klein an Gottes Herz zu legen. Mit stillem, sanftem Geist trug sie, was aus ihres Gottes Hand über sie gekommen, seiner Liebe und seiner Hilfe gewiß — auch mitten in ihrem allergrößten Leid. Und des sterbenden Vaters Gebet und die Thränen der Witwe, sie fanden Erbarmen bei Gott. Es ist keins von uns zu Grunde gegangen.

Die Patrone der Kirche ehrten das Gedächtnis des Heimgegangen. [228] Baron von Hahn (Asuppen) ließ es sich nicht nehmen, ihm selbst den Leichenstein zu setzen, auf welchen er die Inschrift eingraben ließ:

1 Kor. 3, 11.
„Einen andern Grund kann niemand legen, außer dem,
der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

Auch darin ehrten die Patrone das Andenken unseres Vaters, daß sie einstimmig meinen Bruder Wilhelm zu seinem Nachfolger ernannten.

Und wieder ward ein neuer Herd gegründet, wieder erklangen Kinderstimmen in dem alten Pastorat, — aber nicht auf lange. War es vielleicht eine Ahnung, daß mein Bruder, noch so jung, mitten in seiner treuen Arbeit an der Gemeinde mit besonderm Eifer sich der Anlage eines neuen Gottesackers widmete und demselben soviel Liebe und Pflege zuwendete? Ach, nur zu bald trug er liebe Kind­lein dort hinaus; nur zu bald ruhte auch er selbst auf dem schönen stillen, weit hinausschauenden Hügel. Ein Blutsturz hatte seinem Leben und Wirken ein jähes Ende bereitet. Auch seine Witwe, die mit ihren Töchtern ins Mecklenburgische zog, wo sie eine verheiratete Schwester hatte, ist eingegangen zu der seligen Ruhe, die Gott seinem Volke bereitet hat. Sie ruht in fremder Erde.

So sind die lieben trauten Stimmen eine nach der andern verstummt; nur noch die Steine reden zu uns auf den Gräbern und die Kreuze. Die alten Zeiten sind ver­gangen, eine neue Welt aufgekommen. War es da ein Wunder, daß unser liebes Mütterlein, das mit dem 4. No­vember dieses Jahres (1883) sein 92. Lebensjahr erreicht, sich sehnte, auch ihrerseits den Wanderstab aus der Hand zu legen, auszuruhen und daheim zu sein bei dem Herrn! Ihr letzter Erdenwunsch, auch den jüngsten Sohn (Georg) noch in dem geliebten Kurland angestellt zu sehen, war [229] durch Gottes gütiges Walten erfüllt. Ja, sie hatte ihn noch in D. besuchen und an den Enkeln sich freuen können. War sie auch bis zu ihren letzten Lebenstagen überall, ob sie, wie es einst durch die Güte der Besitzer geschah, im Hofe Wahnen ihr Stüblein hatte, ob sie bei uns, oder bei Schwester Sophie oder den andern Kindern verweilte, von lauter Liebe umgeben, von allen geachtet und verehrt, noch oft erfreut durch Zeichen der Anhänglichkeit und Teilnahme aus der alten Heimat oder aus der Mitte ihrer Umgebung, — die Augen fingen an dunkel zu werden, die Hände müd, und mehr als je richteten sich ihre Gedanken nach der Stätte, wo ihr Vater, ihr Gatte, ihr Sohn das Wort Gottes verkündet hatten, wo die Eschen, die ich einst an des früh vollendeten Bruders Georg Grab pflanzen sah, über ihn und den Vater ihre breiten Äste strecken. Dort wollte auch sie begraben sein. Und während ich hier in weiter Ferne diese Zeilen hinwarf in der Hoffnung, sie ihr noch zusenden zu können, trifft mich die Botschaft, daß ihres Herzens Sehnsucht erfüllt und sie, von Schwester Sophie treu bis ans Ende gepflegt, nach einigen schweren Leidens­tagen am 2. Dezember sanft und selig entschlafen ist. Das Lied: „O Haupt voll Blut und Wunden,“ hat sie sich noch zuletzt vorlesen lassen und ihre Grabschrift hatte sie längst bestellt; sie lautet:

Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet.

Dort nun sammeln sich Kinder und Großkinder, Nachbarn und Freunde, um ihr das letzte Geleit zu geben. Und kann ich nicht dort sein, war es mir nicht mehr vergönnt, diese Blätter in ihre Hand zu legen, so seien sie ein Dankes- und Ehrenkranz, den ich im Geiste niederlege auf ihr Grab.

Die wir einst als Kinder in dem alten Hause uns tum­melten, — wir sind nach Gottes Rat hinausgegangen nach Nord und Süd, nach Ost und West. Auch sie, die für [230] uns alle das einende Band war, unsere gute, unvergeß­liche Mutter, ist nun dahin. Ist es denn nichts mehr, was uns in dieser Weise vereint, so sei es doch für alle Zeiten und auf Kind und Kindeskind derselbe Glaube, den wir von den Eltern empfangen haben, die Liebe, die nimmer stirbt, und die Erinnerung an die Stätte, die soviel von der Freude unseres Hauses und von seinem Leide gesehen. Gott segne sie fort und fort, und alle, die sie betreten!


Stuttgart, 18. Dezember 1883.



  1. Bekannt außer seinen unzähligen Grammatiken, durch seine fast komische Übersetzung des Neuen Testaments, die den heiligen Schriftstellern durchaus die „Aufklärung" des 18. Jahrhunderts oktroyieren wollte, durch Schriften über Pisé-Bau etc., wenn ich nicht irre, sogar über Rumfabrikation.
  2. Ein elendes rationalistisches Machwerk, aber damals viel gebraucht und verehrt.
  3. Lettisch rippa, etwa fünf Zoll im Durchmesser, von Apfel­holz oder hartem Birkenmaser gefertigt.
  4. Der Vater meinte seine gestreckten, schlaffen Bewegungen, die ihm zugleich ein Zeichen innerer Schlaffheit waren.
  5. in Livland