Aus Mitleid
Aus Mitleid.
Regierungsrat Forstner ging an diesem Nachmittage einen ganz ungewöhnlichen Weg nach der Vorstadt im Nordosten Münchens. Es war ein seltenes Ereignis, wenn er einmal seine gleichmäßige Stundeneinteilung änderte. Sonst begab er sich mit solcher Pünktlichkeit ins Bureau, machte so genau zur selben Zeit seinen Nachtisch-Spaziergang durch den Hofgarten und die Maximilianstraße, daß man nach seinem täglichen Erscheinen die Uhr hätte richten können. Er war etwa vierzigjährig, ein mittelgroßer, etwas zur Körperfülle neigender Mann, mit einem gutmütigen Ausdruck des vollen brünetten Gesichtes und einem kindlich treuherzigen Blick aus braunen frischglänzenden Augen.
Sein Vorgesetzter, der Justizminister, hielt große Stücke auf den Regierungsrat und nannte ihn seine rechte Hand. Forstner besaß auch einen Arbeitseifer und eine Pflichttreue, in denen es ihm nicht leicht ein anderer gleich that. Sein Amt bedeutete für ihn den Inhalt seines Daseins; es mußte ihm Weib und Kind und Gesellschaft ersetzen, er kannte nichts anderes als seinen Beruf.
Früher hatte er mit seiner Mutter zusammengewohnt, einer jener gefährlichen Egoistinnen, die mit sanfter, weinerlicher Stimme und scheinbarer Bescheidenheit und Unterwürfigkeit weichherzige Männer vollständig zu beherrschen wissen. Sie war so zart, sie konnte mit so thränenreichen, schmerzerfüllten Augen über die leiseste Vernachlässigung klagen, daß Franz, in der Sorge, ihr weh zu thun oder sie irgendwie aufzuregen, früh verzichten lernte, seine Jugendfreiheit zu genießen, und sich ganz in das mütterliche Heim einspinnen ließ. Von der jüngeren Schwester verhätschelt und in Anspruch genommen, war er wenig mit Fremden zusammengekommen und in Gesellschaft schüchtern und ungewandt geblieben.
Als die Mutter gestorben war, hatte seine Schwester zwar hoch und heilig versichert, sie würde immer bei ihrem Bruder bleiben, sich aber bald danach verheiratet. Er war sogar gezwungen gewesen, ihr sein eigenes kleines Kapital vorzustrecken, damit die Ehe mit dem Gutsbesitzer Bergmann, der um sie warb, zu stande kommen konnte. Aber die Freiheit kam für ihn zu spät. Nun hielt ihn die Macht der Gewohnheit schon fest gefangen. Er kannte auch niemand. Er fühlte sich ungewandt im Verkehr mit Damen und wies alle Bemühungen, die von seiten kluger Mütter gemacht wurden, ihn in ihren Familienkreis zu ziehen, mit ängstlicher Scheu zurück.
Auf Wunsch des Ministers war er heute von seinem gewohnten Spazierweg abgewichen.
„Bitte, lieber Regierungsrat, möchten Sie sich nicht gelegentlich nach unserem Sekretär Rautenbach erkundigen,“ hatte Excellenz gesagt. „Der Mann ist seit Wochen krank. Er wird es Ihnen gewiß hoch anrechnen, wenn Sie, auch in meinem Namen, nach seinem Befinden fragen würden. Ich weiß auch nicht, – er ist vielleicht in schlechten Verhältnissen, man könnte doch etwas für ihn thun!“
Der Wunsch des Ministers war für Forstner ein Befehl. Er wollte schon am selben Nachmittage Bescheid bringen.
Das Haus, in dem Sekretär Rautenbach wohnte, lag weit draußen, in fast ländlicher Umgebung. Ringsum Gärten mit Gemüsebeeten, ein paar Oekonomiegebäude; davor eine ungepflasterte Straße, auf der Kinder hin und her tollten; gegenüber eine Wiese mit aufgehangener Wäsche.
Durch ein Zaunthürchen trat man in den Hof, in dem ein Apfelbaum blühte.
Erst geraume Zeit, nachdem Forstner. geklingelt, wurde ihm geöffnet. Ein junges Mädchen stand ihm sehr verlegen, mit erschrockenen Augen gegenüber. Als er seinen Namen und Titel nannte, machte sie einen altmodischen Knix und öffnete, mit allen Zeichen der Aufregung, die Thür zu einem kühlen, ziemlich leeren Zimmer, in dem aber ein paar gute Kupferstiche hingen und eine große Bibliothek ihren Platz hatte!
Während sie sehr verwirrt und schüchtern auf einen Stuhl deutete und den Regierungsrat mit ängstlicher, sanfter Stimme bat, etwas warten zu wollen, bemerkte dieser, daß das junge Mädchen, welches wohl Rautenbachs Tochter war, einen ganz merkwürdig altmodischen Anzug trug. Forstner war ja durchaus kein Kenner in Damentoiletten, aber die glatten engen Aermel, der unkleidsame runde Ausschnitt, der den langen Hals frei ließ, und die harte blaue Farbe des Kleides fielen ihm doch auf. Das ohne alle Wellen und Löckchen, glänzend glatt über die Ohren gestrichene, hellbraune Haar gab ihr dabei etwas Nonnenhaftes und ließ ihr Gesicht sehr schmal und lang erscheinen.
Nach einer Weile wurde er in ein recht freundliches sonniges Zimmer geführt, in dem der kranke Sekretär sein Lager hatte. Forstner war immer freundlich gegen seine Untergebenen, aber er hatte sich um den Mann, der nur Schreiberdienste auf dem Bureau versah, nicht viel gekümmert. Rautenbach schien ein wunderlicher, verschlossener Kauz, der im Dienst nie eine Silbe mehr sprach, als er unbedingt mußte.
Als der Regierungsrat nun auf das Lager zuschritt, von dem sich der kranke Mann aufzurichten suchte, sagte er sich sofort, daß ihm sein Minister hier eine sehr traurige Aufgabe übertragen habe. Der arme Teufel trug den Stempel des Todes auf der scharf vortretenden wachsgelben Stirne.
Mitleidig bat Forstner ihn, liegen zu bleiben, und gab sich Mühe, einige möglichst überzeugende Trostesworte zu finden, die den hoffnungslosen Eindruck verschleierten, den ihm der Kranke machte. Auf dem hageren Gesichte Rautenbachs lag ein Ausdruck seelischer Qual, unruhig, ängstlich blickte er sich nach seiner Tochter um.
„Bitte, Hedwig,“ sagte er dann heiser, „geh’ du ein wenig in den Garten.“
„Ja, Vater, wie du willst!“ Sie rückte ihm noch die Kissen zurecht, damit er sich etwas aufsetzen konnte, brachte ein Glas Wasser und Tropfen für einen etwaige Hustenanfall, stellte die Klingel neben das Bett, strich dann mit rührender Zärtlichkeit dem armen Kranken das ergraute Haar aus der Stirne und huschte mit einer linkischen Verbeugung gegen den Fremden aus der Thür.
Sie verstand es, lautlos wie ein guter Geist, durch das Krankenzimmer zu gleiten.
Forstner war es recht peinlich zu Mute, als nun die bleichen Hände des Sekretärs nach seiner Hand griffen und die fieberhaften Augen ihn anblickten in verzweifelter Herzensangst.
„Herr Regierungsrat! Sie sind der einzige Mensch, der, seit ich krank bin, nach mir fragt! Ich habe keine Verwandten, keinen Freund! Sie müssen es mir vergeben, wenn ich mit Ihnen von meinem schwersten Kummer rede,“ stieß er in Hast hervor, als fürchtete er, es möchte ihm nicht Zeit vergönnt bleiben, zu Ende zu sprechen.
„Gewiß, lieber Rautenbach. – Wenn ich etwas für Sie thun kann! – Regen Sie sich nur nicht auf! Ich bleibe hier und höre Ihnen zu. Reden Sie nur ganz leise, ganz langsam!“
Dem Regierungsrat that das gute Herz sehr weh vor diesem Menschenelend, dem gegenüber er sich so ratlos fühlte.
„Es handelt sich um meine arme Hedwig. Was soll aus ihr werden, wenn ich die Augen schließe? Sie hat keine Ahnung, was für eine untergeordnete Stellung ich im Ministerium habe, sie meint, ein Sekretär, das wäre ein hoher Beamter. Sie weiß so wenig vom wirklichen Leben wie ein kleines Kind.“
„Aber warum diese Täuschung? Ich begreife nicht –“ warf Forstner ein.
„Ach sehen Sie, Herr Regierungsrat, wer mich in meiner Jugend kannte, hätte es sich nicht träumen lassen, daß ich einmal so enden würde. Schon in der Schule erwarteten die Kameraden Besonderes von mir. Zu allem verriet ich Talent, zum Musiker, Maler, Dichter! Alles das bin ich gewesen. Dabei hohe Ideen, das Größte, das Idealste im Sinne! Immer ein Schwärmer – ein Narr! Viel Größenwahn, viel Selbstüberschätzung und wenig Energie. Daran bin ich zu Grunde gegangen!
Das sagt sich so in ein paar Worten. Aber wie viel Jahre voll bitterer Erfahrung vergingen, bis der schöne große Glaube [354] zertreten war, welch zermalmende Enttäuschung mußte ich erleben, bis ich als gebrochener Mann eine Schreiberstelle suchte! Du lieber Gott!“ Er fiel erschöpft in die Kissen zurück … Ein Menschenwrack! Ein Gestrandeter, Verlorener!
„Ruhen Sie ein wenig! Ich warte schon, lieber Rautenbach,“ sagte der Regierungsrat erschüttert und schaute traurig hinaus zum schönen blauen Himmel, der in das Zimmer dieses Unglücklichen hereinleuchtete.
„Nein, nein!“ rief der Sekretär, sich gewaltsam zusammenraffend. „Wer weiß, wie lange ich noch Atem habe. Ich bin ja froh, wenn es zu Ende ist. Aber das Kind! Sehen Sie, eine Seele will der Mensch doch haben, die an ihn glaubt. Meine arme Frau, sie hatte mich für ein Genie gehalten – bis zuletzt, obwohl meine Bilder zurückkamen und meine Opern und Schauspiele nicht aufgeführt wurden, und obwohl sie viel Armut mit mir zu tragen hatte. ‚Der Ruhm kommt noch, Adalbert,’ sagte sie tröstend, noch auf ihrem Sterbebette. Als sie mich verlassen hatte, blieb die sechzehnjährige Tochter mein Einziges. Die Mutter hatte ihr ihre Begeisterung und Verehrung für mich vererbt. Diesen letzten Abglanz meiner alten Träume wollte ich mir nicht entschwinden lassen. Ich hütete ihn wie meinen größten Schatz. Ich behielt Hedwig immer bei mir, ließ sie mit niemand verkehren, der ihr hätte sagen können, welch armseliges Ende alle meine hohen Pläne gefunden. Wenn ich mich einschloß, um abzuschreiben – für fünfzig Pfennig den Bogen – dann meinte sie, ich arbeitete als Geheimschreiber des Königs an wichtigen Staatspapieren – und ich, ich ließ sie in dem Glauben! – Nun aber, nun muß alles für sie zusammenbrechen!“
Der Regierungsrat seufzte und schüttelte den Kopf. Er war im Grunde entsetzt über die Selbstsucht, die das Verhalten des Mannes geleitet. Damit die Tochter nicht aufhörte, ihn zu bewundern, hatte er ihr jeden Verkehr abgeschnitten, ihr jede Möglichkeit geraubt, sich im Leben zurechtzufinden. Seine Eitelkeit hatte dieses Menschenopfer gefordert.
Aber wie sollte er einen Vorwurf über die Lippen bringen vor diesem schwer Atmenden, vor diesem Bejammernswerten, den wohl nun längst bittere Reuequalen folterten!
„Ich werde mit dem Minister sprechen, Rautenbach, und ich selbst, so weit ich kann, will dafür sorgen, daß das arme Mädchen nicht zu rauh vom Leben angefaßt wird. Aber noch müssen Sie die Hoffnung auf Genesung nicht aufgeben.“
Der Kranke umklammerte die Hand des Regierungsrates. Seine großen Augen dankten. Er lag nun so bleich und müde in den Kissen, daß es Forstner bange wurde und er die Klingel zog. Gleich darauf schlüpfte die schlanke, wunderliche Mädchengestalt wieder leise herein.
Es war rührend zu sehen, wie dieses sanfte Kind, das bei seinem Empfang so ungeschickt und zaghaft gewesen, an dem Krankenbette mit vollendeter Sicherheit und Ruhe zu walten wußte.
Als der Regierungsrat sich empfahl, hatte der unglückliche Mensch sich wieder etwas erholt. Er lächelte ihm zu, mit einem bittenden, ergreifenden Blick, der sich in Forstners weiches Herz eingrub.
Acht Tage später stand in der Zeitung die Todesanzeige – „Sanft und schmerzlos verschieden.“
Diesmal machte Forstner aus eigenem Antrieb den weiten Weg in die Vorstadt. Er hatte es dem armen Toten so versprochen, sich der Tochter anzunehmen.
Das schien freilich keine leichte Aufgabe. Das verlassene unerfahrene Kind sah ja recht ärmlich und bescheiden aus in dem altmodischen schwarzen Kleid, das nach Kampfer roch, als hätte es lange im Koffer gelegen. Aber er brachte es doch nicht über die Lippen, sie geradezu zu fragen, wie sie ihr Leben einrichten wolle, und ihr eine Unterstützung anzubieten. Er hatte ein dunkles Gefühl, als wäre sie zu einem verzweifelten Entschlusse imstande, wenn ihr durch sein Anerbieten mit einem Mal ihre ganze traurige Lage enthüllt würde. Mit ihren verstörtem thränenlosen Augen, in ihrer verlegenen Hilflosigkeit erinnerte sie ihn unwillkürlich an eine Schwalbe, die sich in den letzten Tagen einmal in sein Bureau verirrt hatte. Das arme Tierchen that ihm so leid in seiner scheuen Angst, und er wußte doch nicht, wie er es retten sollte, da es so furchtsam vor ihm floh und sich die Flügel an den Wänden wund stieß, wenn er es haschen wollte.
Ratlos verließ er das trauernde Mädchen. Aber in seiner Gutmütigkeit verfiel er auf einen Ausweg. Wenn Fräulein Rautenberg sich für die Tochter eines höheren Beamten hielt, dann mußte sie erwarten, vom Staat eine Pension zu bekommen. Er konnte bei seinen einfachen Lebensgewohnheiten recht wohl allmonatlich eine Summe entbehren, die für den Lebensunterhalt des bescheidenen Mädchens hinreichen würde. Diese schickte er ihr durch den Amtsdiener, den er vorher unterrichtet, in der Form einer ihr gebührenden Pension. Auf diese Weise brauchte er den Minister, der die Beerdigungskosten bezahlt hatte und an dessen Mildthätigkeit ohnehin die vielfältigsten Ansprüche gemacht wurden, nicht weiter mit der Sache zu behelligen.
Hedwig erriet bei ihrer völligen Unerfahrenheit denn auch nicht, daß sie von dem Regierungsrat ein Almosen empfing. Sie dankte ihm nur in einer schönen kindlichen Handschrift für die Blumen, die er zum Begräbnis geschickt, für seine Teilnahme, und bat ihn, als Andenken an den Vater ein Bild, das dieser gemalt, entgegenzunehmen. Es war eine altmodische, farblose, aber fein empfundene Frühlingslandschaft, die Forstner in seinem Wohnzimmer aufhing. So oft sein Blick darauffiel, dachte er an das einsame Mädchen mit dem schmalen Nonnengesicht und frug sich mitleidig, wie sie wohl ihre Tage hinbringe und wie lange es dauern werde, bis die Welt ihr grausam ihre Illusionen zerstörte.
Seine Scheu vor Frauen hielt ihn ab, das schüchterne, verlegene Ding noch einmal aufzusuchen. Von dem Amtsdiener hörte er, sie ginge jeden Tag auf den Kirchhof, pflege das Grab des Vaters und schreibe seine Musikstücke ab. Der redselige Mann sagte kopfschüttelnd. „Die hat nun einmal keinen Menschen! Nur für einen Toten leben, das ist doch was Trauriges!“
Es war Herbst geworden. Der Regierungsrat arbeitete eines Abends zu später Stunde noch auf seinem Bureau, während die übrigen Beamten schon zu ihren Familien heimgekehrt waren oder an ihrem Stammtisch in der Kneipe beim Bier saßen. Plötzlich hörte er in den stillen Räumen des Ministeriums Rufen, Lärmen, hastiges Durcheinanderlaufen. Als er den Vorhang in die Höhe zog, sah er auf dem andern Flügel des Gebäudes eine Flammensäule emporschlagen. Rauch füllte den Hofraum, Funken wirbelten hernieder. Schon rasselten die Spritzen der Feuerwehr heran, eine neugierige Menschenmenge sammelte sich. Ohne einen Augenblick die Geistesgegenwart zu verlieren, traf er seine Anordnungen, lief selbst in die am meisten bedrohten Bureaus, schleppte große Stöße von Akten in das Zimmer des Ministers, das abseits von dem Flammenherd lag, verhandelte mit den Feuerwehrmännern und rannte treppauf, treppab im eifrigen Bestreben, zu helfen. Es war ihm dabei glühend heiß geworden, durch die offenen Thüren und Fenster aber blies ein eiskalter Wind. Ohne sich Zeit zu nehmen, in seinen Ueberzieher zu schlüpfen, rannte er in den Hof, stand hier in dem nassen Herbstwetter, um sich zu überzeugen daß dem Feuer Einhalt gethan werde, sprach mit dem Minister, der angefahren kam, mit den Beamten, die alarmiert herbeistürzten. Als er dann heimkam, fuhr ihm ein Schauder über den Rücken und er fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust. Der Glühwein, den seine Haushälterin ihm bereitet, erhitzte ihm nur den Kopf, wärmte ihm nicht die von Frost geschüttelten Glieder.
Am andern Morgen war er so krank, daß er sofort den Arzt holen ließ, der eine Lungenentzündung konstatierte und bald nach seinem Weggang eine Pflegerin schickte.
So lange er im Fieber lag, während der schlimmsten Zeit der Krankheit, wurde er gut versorgt. Aber als es ihm besser ging und die Diakonissin fort mußte, um schwerer Leidenden beizustehen, blieb ihm nur seine Haushälterin zur Wartung. Die alte Frau meinte es gut, doch konnte sie es nicht lassen, wie eine Bombe durch die Thüre hereinzuplatzen wenn er klingelte, wenn sie bei ihm war, mit lauter Stimme zu schwatzen und mit jeder ihrer geräuschvollen Bewegungen seine reizbaren, empfindlichen Nerven zu verletzen. Er mußte zuweilen an das Mädchen denken, das lautlos wie ein guter Geist durch das Krankenzimmer des [355] Vaters geglitten war. Ueberhaupt dieses Krankenzimmer, dieser letzte düstere Eindruck des Sterbens drängte sich immer wieder in seine Erinnerung. So oft er seine eigenen schmalen blassen Hände betrachtete oder sein mager gewordenes, verändertes Gesicht im Spiegel sah, mußte er an den Sekretär Rautenbach denken. Die Schmerzen in der Brust, die Atemnot wollten nicht weichen. Er sah wohl, welch bedenkliches Gesicht der Arzt machte, der täglich kam, der ihn immer wieder abhorchte. Auf die Frage: „Nicht wahr, lieber Doktor, ich habe einen schlimmen Treff gekriegt, von dem ich mich schwerlich erholen werde?“ antwortete der Arzt allerdings mit einem Lachen, das aber nicht ungezwungen klang. „Was fällt Ihnen ein? Setzen Sie sich doch keine Grillen in den Kopf!“
Forstner glaubte ihm nicht. Er besaß von seinem Vater, der selbst Arzt gewesen war, verschiedene medizinische Bücher, in denen er nun über Lungenentzündung, über Schwindsucht, die sich sehr häufig aus der akuten Erkrankung entwickelt, nachlas. Kraft war daraus freilich nicht zu schöpfen. Er fühlte ja selbst am besten, daß seine Lunge krank war, und daß es dagegen kein Mittel und kein Heilkräutlein gab, davon war er überzeugt. Er war ein verlorener Mann wie der arme Rautenbach, nur daß er sich wenigstens nicht um unversorgte Angehörige zu beunruhigen brauchte. Freilich, was sollte aus der armen Sekretärstochter werden, wenn er ihr nicht mehr die kleine Summe für ihren Unterhalt schickte?
Der Gedanke an diese Verpflichtung quälte ihn bei seinem vielen einsamen Grübeln, wenn er nun stundenlang in seinem Lehnstuhl saß und nur das leise Summen der Lampe, das dumpfe Wagenrollen auf der hartgefrorenen Straße hörte.
Er wollte die Sache für alle Fälle geordnet haben. Wer konnte denn wissen, ob nicht ein plötzlicher Blutsturz seinem Leben ein Ende machte? So schrieb er denn an seinen Schwager, den Gutsbesitzer Bergmann, und bat ihn, nach München zu kommen, diesen Besuch jedoch, wenn irgend möglich, seiner Frau zu verschweigen. Forstner wollte seine Schwester nicht erschrecken und beunruhigen. Sie sollte nicht erfahren, wie schlimm es mit ihm stand, die arme Julie hatte ihn einst so lieb gehabt! Sein Schwager kam denn auch, erschrak sichtlich, als er den Regierungsrat so verändert, so gänzlich abgemagert und eingefallen wiedersah, suchte aber nach einigen tröstlichen Redensarten, als Franz van seinen ernsten Besorgnissen zu reden begann.
Der Regierungsrat hatte seiner Zeit sein Kapital als Hypothek auf das Bergmannsche Gut gegeben, er bekam auch regelmäßig seine Zinsen. Da seine Schwester ihn nach dem Gesetz beerbte, war es ihm überflüssig erschienen, ein Testament zu machen, er meinte, eine persönliche Wunschäußerung würde genügen, um seine Verwandten zu veranlassen, die kleine Unterstützung an Fräulein Rautenbach auch nach seinem Tode auszuzahlen.
Aber sein Schwager verhielt sich auffällig zögernd, nachdem er ihm mit den nötigsten Auseinandersetzungen sein Anliegen vorgetragen. Der Gutsbesitzer hüstelte verlegen, fing an über die schlechten Zeiten für die Landwirtschaft zu klagen und ließ sich endlich von seiner Abgeneigtheit gegen jedwede Verpflichtung zu der Bemerkung hinreißen, es würde ihn sehr erleichtern, das Kapital nicht mehr verzinsen zu müssen er könnte dann bauliche Veränderungen vornehmen, seinen Stall besser einrichten usw. Warum einer Fremden eine im Laufe der Jahre doch beträchtlich anwachsende Summe zuwenden, welche die nächsten Verwandten so notwendig brauchten?
Kranke haben feine Empfindungsnerven und hören mit scharfem Ohr was oft einem gesunden Menschen entgeht. Forstner war nach dieser Erklärung fest überzeugt, daß Bergmann die Möglichkeit, ihn bald zu beerben, bereits ins Auge gefaßt, ja gewiß auch mit seiner Frau erwogen und besprochen habe. Julie tröstete sich wohl rasch über den Tod des Bruders, weil ihrem Gatten die ersparten Zinsen so trefflich zu statten kamen!
An seinem Grabe würden sie heimlich überlegen, wie sie das willkommene Geld am besten verwenden möchten, und hinter ihren Trauermienen ein Lächeln der Befriedigung verbergen! Und das waren die Menschen, die ihm am nächsten standen!
Eine unsägliche Bitterkeit, ein trostloses Gefühl der Verlassenheit bemächtigte sich des einsamen, in seine stille Krankenstube gebannten Mannes. Er schrieb an seinen Minister eine flehende Bitte, ihm Arbeit ins Haus zu schicken. Die langweiligsten Akten waren eine Erlösung von seinen trübseligen Gedanken. Nur wieder ins Bureau können! nur nicht in dieser Unthätigkeit beharren müssen, das war sein heißester, ungeduldigster Wunsch.
Eines Tages, als er ein paar Stunden gearbeitet hatte und sich infolgedessen in etwas besserer Stimmung befand, kam seine Haushälterin mit neugierigem Gesicht herein und sagte in einem Tone, der Verwunderung und Mißbilligung ausdrückte: ein Fräulein sei draußen – sie wolle ihn sprechen – ob sie die hereinlassen müsse?
Er vertauschte rasch seinen Hausrock mit einem schwarzen, der ihm viel zu weit geworden war, und wartete mit dem Unbehagen, das ein Kranker bei jeder Störung empfindet auf den Besuch.
Hedwig trat herein mit ihrem altmodischen tiefen Knix, in einem engen Krägelchen, das wohl auch schon ihrer Mutter gehört hatte. Sie sah gealtert und blaß aus in ihrem schwarzen Capothut, mit dem schlaff herabhängenden Kreppschleier.
Verlegen nahm sie auf der äußersten Ecke des Stuhles Platz, den er ihr anbot, und brachte kein Wort hervor. Er las aus ihrem Gesichte, aus ihrem bittenden, ängstlichen Augenaufschlag, daß sie ein Anliegen an ihn habe. Aber er selbst war auch ein wenig verlegen über dieses Zusammensein; jede Kleinigkeit konnte ihn jetzt in eine krankhafte Unruhe versetzen.
Nach der üblichen Frage. „Wie geht es Ihnen?“, die sie mit einem Kopfschütteln, mit einem leisen Seufzer beantwortete, wußte er nicht viel zu sagen.
„Kann ich Ihnen mit etwas dienen?“ frug er dann endlich, da ihr stummes Vorsichhinstarren ihm peinlich wurde.
Sie nickte, zögerte noch immer und faltete endlich die Hände wie ein bittendes Kind.
„Ich möchte ja gerne – ich wollte Sie bitten – es ist ja sehr unbescheiden, mich an Sie zu wenden, aber ich kenne ja niemand – wenn Sie mir nur einen Rat geben wollten!“
„Gerne, wenn ich kann,“ sagte er ermutigend.
„Ich habe gedacht, ich könnte doch irgend eine Stelle finden, bei Kindern oder als Krankenpflegerin. In die Zeitung habe ich eine Annonce geschickt, aber es kam niemand. Ich habe ja auch keine Zeugnisse, und wenn ich auch mehrere Sprachen verstehe und Papa mich in vielem unterrichtet hat, so ist das doch alles nicht gründlich genug für eine Lehrerin.“
Er sah sie forschend an. Hatte sie erfahren, welche Bewandtnis es mit der Pension eigentlich hatte, und war sie zu diesem Entschlusse gekommen, um seine Unterstützung künftig zurückweisen zu können? Jede Frage schien ihm peinlich. Glücklicherweise fuhr sie selbst fort
„Ich bekomme ja eine Pension, mit der ich ganz gut reiche. Ich kann sogar noch so viel sparen, daß ich bald das Geld zu einem schönen Grabsteine für meinen armen Vater beisammen habe.“
Er machte unwillkürlich eine überraschte Bewegung und wendete das Gesicht ab. Wie einfach sie leben mußte, um noch etwas zu erübrigen! Er wußte das ja am genauesten. Das arme Ding! Er fand das wirklich rührend.
„Aber es ist so schrecklich, ganz allein zu sein, gar nichts zu thun zu haben! O, Herr Regierungsrat, wenn Sie mir nur raten möchten, wie ich mich ein bißchen nützlich machen kann!“
Sie sagte es ganz leise, aber mit einer zitternden Stimme, aus der eine dumpfe Verzweiflung herausklang.
„Ich will mich besinnen,“ versprach er freundlich. „Allerdings – ich komme, seit ich krank bin, ja nicht unter Menschen. Aber es wird sich dennoch etwas finden lassen, wenn Sie ein wenig Geduld haben.“
Sie stand auf, streckte ihm schüchtern die Hand hin und wehrte sich so ängstlich gegen seine Begleitung, daß sie schon zur Thüre hinausgeschlüpft war, ehe er nach seinem Shawl gegriffen hatte, um sich auf dem kühleren Flur einzuhüllen.
[367] Nach dem Besuch Hedwigs fühlte sich Forstner merkwürdig erregt. Viele, viele Wochen lang war sein Leben so ganz einsam gewesen. Nun klang die fremde, sanfte Mädchenstimme ihm lange im Ohre nach. Hedwigs Anliegen beschäftigte ihn, wie ein Ereignis in seinem einförmige dahinschleichenden Krankendasein. Er schlief schlecht und der Arzt fand ihn erregt und fieberisch.
„Was haben Sie denn, lieber Regierungsrat? Ihr Puls geht ungewöhnlich schnell.“
„So mancherlei Gedanken, die mir nicht aus dem Kopf wollen! – Ich möchte die Wahrheit wissen,“ stieß er dann mit einem raschen Entschlusse hervor. „Wie lange habe ich noch zu leben, Herr Doktor?“
Der Arzt lachte wieder sein gezwungenes Lachen.
„Gehen Sie im Frühjahr in den Wald und horchen Sie auf den Kuckucksruf, lieber Rat. Dann fragen Sie: wie lange habe ich noch zu leben? So oft er antwortet, so viele, Jahre bleiben Ihnen zugemessen. Zehn, zwanzig, dreißig!“
„Ich sprach im Ernst, Herr Doktor,“ sagte Forstner vorwurfsvoll.
„Aber ich weiß es wahrhaftig nicht besser als der Kuckuck. Um kein Haar besser als der Kuckuck. Sie überschätzen mein Wissen, Herr Regierungsrat. Wenn wir Aerzte in der Zukunft lesen könnten, ja dann wären wir gemachte Leute!“
Diese ausweichende Antwort bestätigte dem Kranken nur was er selbst ahnte, nein – wußte. Er hatte seine Krankheit genau studiert. Ein Jahr noch! Vielleicht bis zum nächsten Winter! Natürlich, der Doktor, der mußte ihm ja Mut machen und ihn zu täuschen suchen, so lange es ging. Aber für ihn war es besser, sich keinen nutzlosen Hoffnungen hinzugeben und sich in das Unabänderliche zu fügen.
Er brütete in diesen Tagen nachdenklich vor sich hin. Ein paarmal setzte er sich vor seine Schreibmappe und nahm einen großen Bogen. Dann schüttelte er wieder den Kopf und legte die Feder weg. Endlich begann er doch einen Brief, aber einen ganz kurzen:
„Sehr geehrtes Fräulein!
Möchten Sie die Freundlichkeit haben, mich in den nächsten Tagen wieder aufzusuchen, damit ich in der Angelegenheit, in der Sie sich von mir einen Rat holen wollten, mit Ihnen Rücksprache nehmen kann. Ich darf leider nicht ausgehen, sonst würde ich mir nicht erlauben, Sie zu mir zu bemühen.“
Die Haushälterin verschluckte nur mühsam eine Bemerkung, als sie die Aufschrift „Fräulein Rautenbach“ las, und meldete am nächsten Tage mit höchst ungnädiger Miene:
„Das Fräulein in Trauer ist wieder da!“
Diesmal schien der Regierungsrat fast noch befangener als Hedwig, die ihn erwartungsvoll, mit einem Ausdruck kindlicher Dankbarkeit anblickte. Die Freude, daß er sich ihrer annahm, das Interesse, zu hören, was er ihr sagen würde, röteten ihre Wangen. Er sah in dem hellen Licht, in dem sie ihm gegenübersaß, mit einer gewissen Verwunderung, wie jung sie noch war; nur der seltsame Anzug, der Frauenhut ließen sie alt erscheinen. Aber auf ihrem schmalen Gesicht war kein Fältchen; sie konnte kaum fünfundzwanzig Jahre alt sein. Diese Beobachtung erweckte ihm wieder Zweifel über sein Vorhaben. Aber er mußte wohl reden, nachdem er sie zu sich beschieden hatte.
„Sie haben den Wunsch geäußert, eine Stelle anzutreten. Sie sprachen davon, daß Sie auch Krankenpflegerin werden würden.“
„Ja, gewiß, Herr Regierungsrat. Das ist der einzige Beruf, in dem ich Vorübung besitze, vielleicht auch ein wenig Geschick.“
Er nickte. „Ich habe mich ja überzeugen können, wie gut Sie für Ihren Vater sorgten.“
„Wissen Sie eine Stelle?“ frug sie lebhaft „O, ich wäre Ihnen so dankbar!“
Er hüstelte ein wenig. Seine Hände spielten nervös mit dem Falzbein, das er vor sich liegen hatte.
„Ich habe mir Ihre Worte überlegt, liebes Fräulein, und – da ich schon früher mit dem Gedanken umgegangen bin, mir eine Pflegerin zu nehmen – ich bin ja immer noch recht schwach und elend und es wird jeden Tag schlimmer – so meine ich, es wäre uns beiden geholfen, wenn Sie während der kurzen Zeit, die ich noch zu leben habe, bei mir blieben.“
Sie war sehr verlegen geworden und machte eine erschrockene Bewegung. Kam ihr sein Vorschlag seltsam vor oder überraschte es sie, daß er so ruhig von seinem baldigen Ende sprach? Er wußte sich ihre Miene nicht zu deuten. Er war selbst bedrückt von dem, was ihm noch zu sagen blieb, und zögerte, fortzufahren.
„Ich fürchte, Sie bieten mir das nur an, weil ich Sie gebeten hatte! Und – Sie werden sich auch bald wieder erholen,“ stammelte sie sehr verwirrt, mit dem hilflosen Blick ihrer großen braunen Augen, der etwas Rührendes für ihn hatte.
„Nein nein! Ich bin mir über meinen hoffnungslosen Zustand ganz klar. Ich brauche eine Pflegerin über kurz oder lang. Schon jetzt –“ er senkte die Stimme. – „Meine Haushälterin ist in der Küche viel besser am Platz als bei einem Kranken. Sie sehen: es ist nur Egoismus, wenn ich Ihnen diese ernsten Pflichten zumute. Aber – aber ich habe dabei auch an Sie gedacht. Ich versprach Ihrem Vater damals, als ich ihn das letzte Mal sah, daß ich mich seiner verwaisten Tochter annehmen wolle. Da meine Tage gezählt sind, kann ich das nur in einer Weise thun: ich hinterlasse Ihnen meine Pension, vielmehr die Pension, die der Staat meiner Witwe ausbezahlt. Damit Sie darauf Anspruch haben, ist freilich eine Formalität nötig: Sie müssen sich mit dem kranken Mann, dessen Pflegerin Sie werden sollen, trauen lassen. In aller Stille, hier in diesem Zimmer, das ich wohl nicht mehr verlassen werde.“
Ihr Gesicht war mit Glut übergossen. Sie hatte immer noch den furchtsamen, erschrockenen Ausdruck. Da sie schwieg, fuhr er fort:
„Es hat mir einige Bedenken gekostet, ob ich dem Staat gegenüber nicht ein Unrecht thue, wenn ich mich in Erwartung des Todes verheirate. Ich fürchte, ich werde nicht mehr viel arbeiten können. Aber ich bin zu der Ansicht gekommen, daß ich durch eine fast zwanzigjährige Dienstzeit auf diese Witwenpension ein Anrecht erworben habe. – Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag, liebes Fräulein. Sie sind ja sehr jung für ein so trauriges Amt. Aber es wird wohl nicht lange dauern, und Ihre Zukunft wäre dann gesichert.“
Sie rieb die Hände aneinander, rückte auf ihrem Stuhl, kämpfend mit ihrer Schüchternheit, verlegen nach Worten suchend.
„Wenn ich Ihnen wirklich etwas nützen kann, so bedarf es für mich keiner weiteren Ueberlegung. Dann nehme ich dankbar an, was Sie mir anbieten,“ sagte sie endlich, stockte aber wieder wie in einer plötzlichen Furcht, er könnte ihre rasche Zustimmung mißdeuten.
„Glauben Sie nicht, daß es mir um meine Zukunft zu thun ist, Herr Regierungsrat, oder, wie Sie meinten, nur – um eine höhere Pension. Nein, nein, gewiß und wahrhaftig nicht! Ich wäre nur so froh, wenn ich wüßte, wo ich hingehöre, wenn ich nicht so ganz verlassen auf der Welt wäre! Ich kann Ihnen nicht sagen, wie furchtbar es ist, wenn man so gar niemand kennt und so mutterseelenallein ist.“
Er legte seine abgemagerte Hand auf ihre zarten schmalen Hände, die in schlichten schwarzen Wollhandschuhen steckten. Wie erlöst fühlte er sich, daß er ausgesprochen hatte, was er seit vielen Tagen und Nächten im Kopfe herumgewälzt, und daß sie sein Anerbieten so einfach und natürlich aufnahm. Gerade ihre kindliche Unbefangenheit gab ihr ein klareres Verständnis für seinen Vorschlag, als es vielleicht ein erfahreneres und weltklügeres Mädchen gehabt hätte. Daß er sie zu seiner Frau machen wollte, darauf legte sie sichtlich gar kein besonderes Gewicht. Sie würde wohl, nach wie vor, ihre Stellung im Hause als die seiner Krankenwärterin auffassen. Und so mußte es auch sein. Er gestand sich, daß er, wenn er gesund wäre und noch Lebenshoffnungen hätte, nicht daran denken würde, dieses Mädchen zu heiraten, das wie eine Klosterschwester aussah und von der er nur wußte, daß sie sanft und leise sprach und ging und mit weicher Hand Kissen [368] glätten konnte. So aber! In seinem elenden Zustande! Ein armer Schwindsüchtiger! Warum sollte er nicht ein Geschöpf in der Nähe haben, das sich um ihn bekümmerte, an dem er obendrein ein gutes Werk that?
„Sehen Sie, liebe Hedwig,“ sagte er. „Ich kann nur wiederholen: wir helfen uns gegenseitig. Ich bin ja auch allein.“
Sie war nun etwas zutraulicher geworden und schaute mit einem treuherzigen Blick zu ihm auf.
„Nicht wahr, wenn ich anfangs etwas ungeschickt bin und mich nicht gleich in dem neuen Leben zurechtfinde, dann sind Sie mir nicht böse?“ bat sie. „Ich lasse mir ja gern alles sagen. Manchmal packt mich eine namenlose Angst, daß ich so gar nichts von der Welt weiß – und wahrhaftig, ich kann es Ihnen nie, nie vergelten, daß Sie Mitleid mit mir haben und mir so viel Vertrauen schenken.“
Er war von dem vielen Sprechen, von der seltsamen Unterredung doch recht angegriffen und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. – Sie sah sofort, daß er müde war, und erhob sich rasch. Aber es schien sie zu betrüben, daß Wochen vergehen müßten, bis sie ihr Amt antreten konnte, und so fragte sie bittend, ob sie schon jetzt manchmal kommen dürfe,um ihm vorzulesen. Ihrem armen Papa, der so wenig schlafen konnte, habe sie oft halbe Nächte lang vorgelesen.
„Ich hoffe, ich werde niemals ein so großer Egoist werden wie ihr Vater!“ dachte Forstner. Laut sagte er, indem er das Mädchen an die Thür begleitete:
„Kommen Sie nur recht oft, ich bitte Sie herzlich darum, liebe Hedwig.“
Die Haushälterin, die neugierig an ihrer Küchenthür gehorcht hatte, drückte an diesem Tage durch einen erhöhten Spektakel mit ihren Tellern und Schüsseln, durch polternde Schritte ihre höchste Mißbilligung aus! Forstner mußte sich mit einem Seufzer fügen, daß er das Ende dieses Regiments wahrhaftig ersehne. Allerdings, es stimmte ihn, wehmütig, als er nun die erforderlichen Papiere mit seiner Heiratsanmeldung dem Standesamte einschickte. Warum hatte er nicht in früheren Jahren eine Frau genommen? Warum sein Leben vorübergleiten lassen ohne Liebe, ohne Glück? Es war doch recht traurig, den gefürchteten Schritt jetzt erst zu thun, nur um beim Sterben eine Gefährtin zu haben!
An die Redaktionen der Münchener Tagesblätter schrieb er einen höflichen Brief und bat, in dem Lokalanzeiger seine bevorstehende Verheiratung nicht zu erwähnen. Glückwünsche hätten ihm wie Hohn klingen müssen! Nur einigen wenigen Bekannten fiel unter den vom Standesamt veröffentlichten Trauungen sein Name auf und sie schickten möglichst kurze Gratulationskarten. Am Tage der Hochzeit brachte der Amtsdiener einen wunderbaren Blumenstrauß mit einem freundlichen Schreiben des Ministers. Die duftenden Rosen waren das einzige Festliche bei der kurzen Ceremonie, welcher nur der Arzt und ein Kollege Forstners als Zeugen beiwohnten.
Trübseliger, nüchterner war wohl selten ein Hochzeitstag begangen worden. Am Morgen wurden Hedwigs Habseligkeiten gebracht, die sie in dem ihr angewiesenen Zimmer einräumte. Vieles mußte auf den Speicher geschafft werden. Dann kam der Standesbeamte, eine Stunde später der Pfarrer. Man setzte sich nach den erledigten Förmlichkeiten mit den beiden Zeugen zu Tisch. Aber der Arzt mahnte bald zum Aufbruch und empfahl seinem Patienten Ruhe. Er wollte am Abend noch einmal kommen.
Als Forstner nach seinem Mittagsschlafe mit den Blicken seine Frau suchte, fand er sie verweint, mit verstörtem Gesicht.
Auf seine Frage: „Was ist dir geschehen?“ schlug sie die Hände vor das Antlitz.
„Ich weiß nun erst, warum Sie das alles thaten! Um mich vor der Not zu retten! Und daß ich von Ihrer Güte gelebt habe, seit vielen, vielen Monaten!“
„Wer hat dir das gesagt, Hedwig?“ frug er entrüstet.
„O, ich schäme mich so, daß mir die Pension nicht auffiel,“ fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwurf zu antworten. „Daß mein Vater kein hoher Beamter war, das wußte ich ja recht wohl, wenn ich vor ihm auch nicht dergleichen that! Aber daß er wirklich nur Schreiber gewesen sein soll! Wie hart ihm das geworden sein mag! O!“
„Wer hat dir das gesagt?“ frug er wieder, von ihrem Schmerz mitleidig ergriffen, mit wachsender Empörung.
„Ihre Haushälterin versicherte mir, Sie hätten keine neue Pflegerin gebraucht. Sie gäben das nur vor aus Gutmütigkeit, damit ich nicht verhungern müsse! Sie wisse es von dem Amtsdiener.“
Forstner konnte gar nicht sprechen, so packte ihn der Zorn. In seinem Hause, am allerersten Tage, hatte sie die grausame Wahrheit erfahren! Er ging in sein Zimmer, nahm einige Goldstücke aus dem Schreibfisch, klingelte der Dienerin:
„Hier haben Sie Ihren Lohn, Frau Maierhofer, für das nächste Vierteljahr! Und nun packen Sie Ihren Koffer, sofort! Und gehen heute noch!“
„O, Sie werden es bereuen! Sie werden es bereuen! Wenn ich reden wollte! Aber einen treuen Dienstboten schickt man aus dem Haus und eine scheinheilige fremde Person nimmt man herein!“
„Gehen Sie!“ rief Forstner und stieß mit dem Stock auf den Boden, um seiner schwachen Stimme stärkeren Nachdruck zu geben.
„Ja, ja, ich lass’ Sie schon allein mit Ihrer jungen Frau!“ höhnte die Zornglühende, und wie mit Donnerschlägen schmetterten die Thüren ins Schloß.
Nach einer Stunde war es plötzlich ganz still im Hause fast unheimlich still.
Mit einer gewissen Beklemmung fühlten die beiden, die sich nun in der einsamen Stube gegenübersaßen, wie allein sie jetzt waren, nur aufeinander angewiesen. Hedwig hatte die Lampe gebracht und ihre Häkelarbeit in die Hand genommen. Manchmal warf sie, beunruhigt einen Blick auf den Mann, der sich mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl zurücklehnte. Er sah erhitzt aus, sein Atem ging rasch.
Forstner hatte auch in gesunden Tagen jeden Aerger mit einem körperlichen Uebelbefinden bezahlen müssen. Bei seinem leidenden Zustande war nach der Unruhe am Morgen die zornige Erregung, die er empfunden, zu viel für ihn gewesen. Er fürchtete, wieder schwer krank zu werden, und es bedrückte ihn, daß er Hedwig gleich am ersten Tage jede Arbeit zumuten mußte. Mühsam hielt er sich aufrecht, obwohl sie endlich sagte:
„Sollten Sie sich nicht niederlegen, Herr Regierungsrat? Ich will vielleicht in Ihrem Schlafzimmer noch ein wenig heizen?“
„Es thut mir so leid, liebe Hedwig. Morgen werden wir ja ein anderes Dienstmädchen finden. Doch eins: du sollst nicht ‚Herr Regierungsrat’ zu mir sagen! Das geht nicht vor den Leuten, überhaupt –“
Sie stand auf.
„Wünschen Sie vielleicht Ihre Suppe, Herr Forstner?“
Er lächelte, so elend es ihm auch zu Mute war, „Herr Forstner’, paßt auch nicht, Hedwig. Ueberhaupt nicht ,Sie’. Sage du zu mir und nenne mich Franz!“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das getraue ich mir nicht!“
Er nahm ihre kühle Hand in seine fieberheißen.
„Wenn ich dich aber darum bitte, Kind! Das gehört zu den Pflichten, die ich dir zumuten muß! Sag’: macht es dir nichts, daß du dich nun plagen mußt für mich armen Krüppel?“
„Nein, Franz,“ sagte sie gehorsam.
Die holde Vertraulichkeit, das erste Du, es war wohl selten in einer so traurigen Stunde erbeten worden!
Der Arzt kam, schüttelte den Kopf, als er den Puls fühlte.
„Rasch zu Bett, lieber Regierungsrat! Und einen Wickel!“
„Starkes Fieber! Ein böser Rückfall,“ bemerkte er besorgt, als Hedwig ihn hinausbegleitete. „Da treten Sie ja gleich in Ihr Pflegerinnenamt ein, Frau Regierungsrat!“
Sie erschrak ordentlich über den Titel und machte ein so verlegenes Kompliment, daß der Doktor auf der Treppe verwundert vor sich hin murmelte: „Sonderbares Ding, das er sich da ins Haus genommen hat!“
Dem Kranken gegenüber aber hatte Hedwig ihre Scheu verloren. Wie eine gewandte Diakonissin wickelte sie ihn in die Decken, legte ihm ein kühles Tuch auf die Stirne, alles mit so weichen Händen, so zart und gütig, daß er ihr immer wieder einen dankbaren Blick zuwarf. So oft er sich nur regte, stand sie neben ihm, erriet, was er wollte, gab ihm zu trinken, rückte ihm die Kissen; dann huschte sie leise wieder ins Nebenzimmer.
[370] Draußen in der Januarnacht grollte der Sturm und peitschte die Schneeflocken an die Fenster. Manchmal fuhr ein Wagen schellenklingelnd vorüber. Es war Karnevalszeit und die Menschen durchtanzten die Nächte. Der Wind trug ab und zu verirrte Musikklänge bis an das Ohr der einsam Wachenden. So war ihr ganzes Leben lang, immer nur aus weiter Ferne, wie ein verhallender Laut, die Kunde von einem lachenden, sonnigen, genußfrohen Leben, irgendwo da draußen in der Welt, zu ihr gedrungen.
Wie manche Nächte hatte sie so gesessen in stillem Lauschen und Sorgen: Wird es morgen besser sein? Fällt die Temperatur? Schläft er ruhiger?
Sie vergaß fast, daß es nicht ihr Vater war, der da drinnen lag, auf dessen schwere Atemzüge sie horchte. Ihr Schicksal schien immer das Gleiche von ihr zu fordern. Mit einem jähen Schrecken durchrieselte es sie plötzlich, als sie den Ehering an ihrer Hand fühlte.
Das war heute ihr Hochzeitstag gewesen!
Die Verschlimmerung in dem Befinden des Regierungsrates hatte das eine Gute, daß sie den beiden Menschen, die nun Mann und Frau hießen und sich dennoch völlig fremd waren, über die peinliche Befangenheit ihres Zusammenseins hinweghalf, die sie sonst wohl drückender empfunden hätten.
Dem hilfsbedürftigen Kranken gegenüber konnte von der mädchenhaften Zaghaftigkeit, die Hedwig sonst gezeigt, wenn sie ihm nur die Hand gab, unmöglich die Rede sein. Als es ihm nach einigen Tagen wieder besser ging und er wenigstens für Stunden das Bett verlassen konnte, war er schon so an seine Pflegerin gewöhnt, daß er es ganz natürlich fand, sich von ihr führen, einwickeln, bedienen zu lassen. Er konnte sich nur freuen über die gute Wahl, die er getroffen hatte. Hedwig schien wirklich zu den Frauennaturen zu gehören, denen es Bedürfnis ist, sich für einen Menschen mühen und plagen zu müssen, die in der Aufopferung ihr Glück finden. Es lag nun ein ganz zufriedener, heiterer Ausdruck auf ihrem Gesicht und sie blühte ordentlich auf in dem Krankenzimmer.
Freilich, er selbst schickte sie, nachdem ein neues verläßliches Dienstmädchen gefunden worden, täglich ins Freie und drang darauf, daß sie sich zerstreue, ab und zu ein Theater, ein Konzert besuche.
„Du sollst mir dann erzählen. Ich will was Neues hören!“ sagte er, um sie zum Fortgehen zu bewegen.
In der That, es machte ihm Freude, ihre großen, glänzenden Augen zu sehen, wenn sie heimkam. Eine neue Welt öffnete sich im Theater vor ihr, und sie genoß diese mächtigen Eindrücke mit der ganzen Frische einer Kinderseele.
Im März, an einem der ersten Frühlingstage, kam eines Morgens, als Hedwig eben ausgegangen war, Frau Maierhofer, die frühere Haushälterin, in die Wohnung des Regierungsrates und wollte den Herrn sprechen. Das neue Dienstmädchen, das sie nicht kannte, führte sie in sein Zimmer.
Forstner frug ziemlich unwillig nach ihrem Begehr.
„Mein Gott, der Herr Rat hat es ja nicht um mich verdient, aber ich kann’ es halt nicht lassen, daß ich noch so viel Anteil an Ihnen nehm’, Herr Rat. Sie sind mir doch früher ein so guter Herr gewesen. Und deshalb hab’ ich mir die Freiheit genommen, herzukommen. Denn, sehen Sie, das gefällt mir halt gar nicht, daß die gnädige Frau, die Frau Regierungsrätin“ – sie sagte das möglichst höhnisch – „auf der Straße mit einem jungen Herrn herumgeht, während ihr armer Mann zu Haus sitzen muß. Zweimal hab’ ich sie jetzt schon begegnet und gerad’ wichtig hat sie’s gehabt mit dem hübschen jungen Menschen,“
Die rachsüchtige Frau bemerkte mit boshafter Genugthuung, daß ihre Worte auf den Regierungsrat einen peinlichen Eindruck machten. Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln, als er nach einer Weile erwiderte:
„Ein Verwandter meiner Frau. Jedenfalls verbitte ich mir Ihre Klatschereien und Verleumdungen. Guten Morgen!“
Frau Maierhofer wußte trotzdem, daß sie nicht umsonst gekommen war, daß der Hieb saß.
Er saß in der That.
Wenn Hedwig nun etwas länger ausblieb, so sagte er sich mit heimlicher Bitterkeit: Sie unterhält sich wohl recht gut? Wenn sie mit frischem, warmgerötetem Gesicht heimkam, dachte er: Man sieht ihr an, daß sie lustig geplaudert hat. Hedwig erlaubte nicht, daß das Dienstmädchen sie vom Theater abhole, weil sie nicht wollte, daß der Kranke ganz allein bliebe. Wenn Franz dann die ersten Wagen nach Theaterschluß fahren hörte, wartete er mit wachsender Ungeduld auf ihr Kommen. Die Viertelstunden, die Minuten dehnten sich so lang in seiner einsamen Stube, gaben so viel Raum für die schlimmsten Gedanken, die peinlichsten Vorstellungen. Eine Frage, eine Anspielung kam nicht über seine Lippen. Er fürchtete sich ordentlich vor einer Bestätigung seines heimlichen Mißtrauens. Was wußte er eigentlich von ihr? Er kannte sie ja kaum. Er kannte überhaupt die Frauen nicht. In Büchern hatte er wohl gelesen, daß sie falsch seien und ihre wahren Empfindungen zu verbergen wissen. Vielleicht war ihre Schüchternheit, ihre kindliche Unerfahrenheit nur eine Maske!
Ein brennendes Gefühl, ein Seelenschmerz quälte ihn nun in der kranken Brust, obwohl er geglaubt hatte, es seien alle heftigen Regungen in ihm abgestorben.
Es ging wochenlang so fort; unausgesprochen, bald dumpfer, bald heftiger peinigte ihn der Verdacht.
Einmal, als Hedwig lange nicht nach Hause kam, trat er an das Fenster; öffnete es und blickte hinaus. Die Sonne schien warm, daß er sich einige Augenblicke lang von ihren Strahlen überglühen ließ. Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, wieder einmal frische Luft einzuatmen. Und wie er nun hinabschaute auf die helle leuchtende Straße, die funkelnden Fenster, das Menschentreiben, das so lustig in dem Frühlingsglanz vorbeiwogte, da packte ihn plötzlich ein wilder Neid auf alle, die sich bewegen, die gesund und frisch dahinlaufen konnten, die nun mit gesundem Appetit zu ihrem Mittagsessen eilten – der Neid des Gefangenen, des Ausgestoßenen, des Verurteilten.
Er mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht aufzuschluchzen, überwältigt von Jammer über sein Elend.
In diesem Augenblick sah er Hedwig in ihrer altmodischen Trauerkleidung um die Ecke biegen. Wahrhaftig, sie war nicht allein! An ihrer Seite ging ein schlanker junger Mensch in einem hellen Sommeranzug mit ungewöhnlich langem Haar und einer Wagnermütze auf dem Kopf. Sie schienen sich trefflich zu unterhalten; der Begleiter sprach wenigstens sehr lebhaft und Hedwig ging ganz langsam, als wollte sie den Weg zu ihrem Haus möglichst hinauszögern.
Franz zog sich vom Fenster zurück. Er saß wieder in seinem Lehnstuhl, als Hedwig eintrat. Er fühlte, daß er vor Erregung zitterte, und mußte erst eine Weile warten, ehe er mit der Ruhe, die ihm nötig schien, fragen konnte: „Wer war der Herr, mit dem du eben gingst?“
„Ein Musiker, der zuweilen meinen Vater besuchte,“ erwiderte sie rasch. Er meinte zu bemerken, daß sie verlegen geworden war.
Sie sagte nicht mehr und er frug auch nicht weiter. Seine Phantasie half ihm die Lücken ausfüllen; in ein paar Sekunden, stand der kleine Roman fertig in seinem Kopf.
Der junge Musiker, der zuweilen ihren Vater besuchte, war der einzige Mensch, den sie überhaupt zu sehen bekommen hatte. Kein Wunder, daß sie sich für ihn interessierte. Sie war ja so jung. Und ihm gefiel sie wohl mit ihrem Nonnenscheitel, trotz ihrer drolligen Kleider aus den sechziger Jahren. Er hatte vielleicht nicht viel Damenbekanntschaften. Sie liebten sich; aber „er war Musiker und sie hatte auch nichts“. Warten mußten sie auf alle Fälle, und so war sie denn die Frau des Kranken geworden, der ja doch nicht lange mehr leben konnte. Wenn sie dann Witwe sein würde, hatte sie wenigstens eine hübsche Hauseinrichtung. Daß die Pension, die er ihr hatte zuwenden wollen, bei einer Wiederverheiratung verloren gehen würde, hatte sie wohl nicht bedacht.
Sein bitterer Groll war einer tiefen ergebungsvollen Trauer gewichen. Er sah die Stunde herannahen, in der er sie bitten konnte, ihm zu vertrauen, ihm rückhaltlos die Wünsche ihres Herzens zu gestehen. Freilich die Stimmung wechselte. Manchmal konnte er seine Reizbarkeit ihr gegenüber nicht beherrschen [371] und er sagte ihr ein ungeduldiges, bitteres Wort wegen irgend einer Kleinigkeit.
Hedwig war gerade wieder in die Stadt gegangen, um Einkäufe zu machen, als ein Packträger einen Brief an sie brachte. Eine Männerhand hatte die Adresse geschrieben, das war unverkennbar: Der Brief lag nun mehr als eine Stunde lang auf dem Tische, vor Forstners Augen. Er mußte immer wieder die Aufschrift lesen: „Frau Regierungsrat Hedwig Forstner.“
Allmählich wuchs eine neue quälende Empfindung in ihm empor: das Gefühl der Lächerlichkeit vor anderen. Er dachte im allgemeinen so wenig an die Menschen, mit denen er ja nicht mehr in Berührung kam. Aber wie er es nun so schwarz auf weiß vor sich sah, daß er dieser Frau seinen Namen gegeben hatte und daß sie vor aller Welt zu ihm gehörte, da schämte er sich seiner Gutmütigkeit. Er hatte ja doch nur ihr das Opfer dieser Trauung gebracht. Ihm wäre mit einer Pflegerin, die sich nach seinem Tode nach einer anderen Stellung umsehen konnte, ebensogut gedient gewesen. Das sollte sie doch anerkennen und ihn nicht dem Gespött preisgeben! Als sie heimkam, schob er ihr das Schreiben hin und sein lange verhaltener Zorn bebte durch die Worte, die er ihr mit heiserer Stimme zurief:
„Warte doch, bis ich tot bin! Dann kannst du ja thun, was du willst!“
Sie hob erschrocken die Augen und ließ in ihrer Bestürzung das Paketchen mit Zwieback, das sie für ihn gekauft, zu Boden gleiten. Dann bückte sie sich mit einem leisen Schreckensruf und stand mit dem zerbrochenen Backwerk in der Hand so verstört, mit einem solchen Ausdruck des Staunens und der Unschuld vor ihm, daß er sich in seiner Verbitterung sagte, sie sei eine vollendete Schauspielerin.
„Was habe ich gethan? Um Gottes willen! Rede doch nicht so!“
„Der Brief ist doch jedenfalls von dem jungen Menschen, von dem Musiker, mit dem du so häufig spazieren gehst. Wohl die Absage eines Stelldicheins oder eine neue Bestellung?“
Sie blieb ganz wortlos, in starrer Verblüffung. „Ein Stelldichein? Ich?“ stieß sie endlich hervor und sah ihn bekümmert an, als redete er im Fieber.
„Bitte, leugne nicht! Man hat dich zu wiederholten Malen mit dem jungen Herrn gesehen! Wie oft du dich von ihm begleiten läßt, das weiß ich nicht. Ich bin ja nicht in der Lage, dir nachzuspüren. Darauf rechnest du wohl?“
„Das war aber doch kein Stelldichein!“ stammelte sie. „Herr Wilberg –“
„Also Wilberg heißt er?“
„Er kam doch öfter zu meinem Vater.“
„Das sagtest du schon einmal. Aber das ist doch kein Grund, warum du nun mit ihm herumrennen mußt! Warum kommt er nicht hierher?“
„Er wollte nicht, er meinte, es wäre besser, wenn wir es vorläufig noch geheim hielten –“
„Du bist wirklich naiv, Hedwig!“ stieß er höhnisch hervor. Sein heftiger Ton verschüchterte sie vollständig. Zitternd und blaß bis an die Lippen, rückte sie in die fernste Ecke des Zimmers, weit von ihm weg, und dachte nicht einmal daran, den Hut abzunehmen, als möchte sie am liebsten vor seinen finsteren Augen zur Thüre hinaus fliehen.
„Hast du dir nicht klar gemacht, daß du dem Namen, den ich dir gab, Rücksichten schuldig bist? Der junge Mensch kennt doch deine Stellung. Wie kann er es wagen, dir Heimlichkeiten zuzumuten?“
„Aber es handelte sich doch nur um die Oper meines Vaters, die er zur Aufführung bringen will. Er sprach mich an und bat mich, ihm die Komposition zu geben, die er schon kannte. Das that ich denn, weil ich mich so von Herzen freuen würde, wenn mein armer Vater, nach seinem Tode noch, anerkannt würde.“
Da Franz ruhiger geworden war und ihr mit weniger bösen Blicken zuhörte, faßte sie Mut.
„Dreimal habe ich nur mit ihm gesprochen, gewiß nicht öfter. Und das letzte Mal begleitete er mich bis an das Haus und sagte, er müßte einiges umändern. Aber er glaube, daß sich die Oper recht gut aufführen lasse, und er habe einen Freund, der Kapellmeister sei und der sich dafür interessiere.“
„Warum erzähltest du mir das nicht?“ frug er nur halb überzeugt.
„Ich wollte dich überraschen. Ich dachte, es würde dich auch freuen, wenn der Name meines Vaters auf dem Zettel stände.“
Die schlichten Worte machten den Eindruck der Wahrheit. Aber er hatte sich in sein Mißtrauen zu fest eingelebt, um so rasch an eine völlige Harmlosigkeit ihrer Beziehungen zu dem Musiker glauben zu können.
„Bitte, lies doch einmal deinen Brief,“ sagte er und drückte ihr denselben mit einem beobachtenden Blick in die Hand.
Sie zögerte nicht, den Umschlag zu öffnen. Er sah sie an, und kein Zug in ihrem Gesicht entging seinen prüfenden Augen. Langsam röteten sich ihre erst so fahl gewordenen Wangen. Eine tiefe Falte grub sich ihr in die Stirne. Mit einem Ausdruck heftigen Unwillens, leidenschaftlicher Entrüstung rief sie endlich aus:
„Nein! Das ist unverschämt! Das ist gemein!“
In seiner Erregtheit dachte Forstner sofort: er hat ihr wohl einen Liebesbrief geschrieben, und nun spielt sie die Entrüstete, da sie doch fühlt, daß sie den Inhalt nicht geheimhalten kann.
Aber Hedwig reichte ihm ohne weiteres Besinnen das Blatt, noch immer glühend vor Empörung, und er las – und schämte sich seines Mißtrauens. „Sehr geehrte gnädige Frau!“ lautete die Aufschrift. Also kein vertraulicher Ton, der sich nicht geziemt hätte! Der Musiker schrieb ihr in ziemlich umständlichen, verschnörkelten Redewendungen, er habe an der Oper des Vaters so viel ändern, neuschaffen müssen, daß sie es ihm wohl nicht verübeln werde, wenn er seinen Namen als den des Komponisten darunter setze. Sein Freund, der Kapellmeister, wünsche auch gerade von ihm ein Werk zur Aufführung zu bringen. Er sei übrigens gern bereit, den Kritikern, den Kollegen gegenüber zu erwähnen, daß er aus der Arbeit Rautenbachs viele Anregung geschöpft habe.
„Ein netter Herr!“ sagte Forstner ebenfalls entrüstet. Aber nach all den trübseligen und quälenden Gedanken, die ihm dieser Herr Wilberg in den letzten Wochen verursacht hatte, empfand er im Grunde doch eine gewisse Genugthuung darüber, daß derselbe sich in so schlechtem Lichte zeigte.
„Siehst du, Kind, das meinte er mit dem Geheimhalten, das er dir zumutete. Darum wagte er sich nicht hierher in mein Haus, in meine Nähe. Ich hätte dir abgeraten, ihm das Werk so ohne weiteres auszuliefern. Aber er merkte wohl bald, daß du die Menschen nicht kennst, nicht weißt, wie jeder nur seinen Vorteil will und es auf dem Weg zum Erfolg nicht genau nimmt!“
„So schlecht sind die Menschen!“ murmelte sie, und sie sah so verstört, so bestürzt und trostlos aus, daß er wieder an den kleinen Roman, den er sich ausgesonnen, denken mußte.
Sanft und teilnehmend schaute er ihr in das Gesicht.
„Sag’ mir’s offen, Hedwig, erschreckt dich sein Benehmen wirklich nur um des Vaters willen oder – oder hattest du den Menschen lieb, der den Toten um seinen Ruhm bestehlen, will?“
Sie sah ihn mit ihren großen Kinderaugen verwundert an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.
„Nein! Ich hab’ nie jemand lieb gehabt außer meinem armen Vater. Manchmal, wenn ich in den Büchern von Liebe gelesen habe, oder auch im Theater, wo sich das ganze Stück um nichts anderes dreht, da dachte ich mir: Wie kommt es, daß ich mich nie verliebt habe? Aber ich glaube, ich habe immer viel zu viel Sorgen gehabt und zu viel Angst, ob ich mit dem wenigen Geld, das der Papa mir gab, ausreichen würde. Ich hatte gar nicht Zeit, an anderes zu denken.“
„Armes Ding!“, sagte er mitleidig. Sie kam ihm vor wie ein Schattenpflänzchen, das aus Mangel an Sonne nicht zum Blühen kommen kann. Aber unwillkürlich beruhigte es ihn doch, daß sie nie jemand lieb gehabt hatte. Er konnte wieder daran glauben, daß dieses eine Menschenkind weinen würde bei seinem Tode; vielleicht weniger um ihn als um die Heimstätte, um die Pflichterfüllung, um den Lebenszweck, den sie bei ihm gefunden.
[382] Mit rührender Sorgfalt bemühte sich Hedwig, für ihren Kranken Speisen auszusinnen und zuzubereiten, die ihm schmecken sollten. Der Arzt betonte ja immer wieder: kräftig nähren! Aber es half alles nichts. Wenn sich Forstner, Hedwig zu Liebe, auch zu einigen Bissen zwang, dann packte ihn plötzlich das Todesgrauen und schnürte ihm förmlich den Hals zu. Er hatte nicht mehr die gleichgültige Ergebenheit in sein Geschick wie in den Wintermonaten. Eigensinnig wehrte er sich dagegen, auszufahren in die schöne Frühjahrsluft, in die Sonne. Er fürchtete sich vor dem Wiedersehen mit der Welt draußen. Hier in diesen vier Wänden schien ihm der Abschied leichter. Er hustete jetzt allerdings weniger und atmete freier, aber er fühlte sich sehr schwach und elend und verstimmt und mußte bei seiner andauernden Appetitlosigkeit ja immer noch mehr abmagern.
„Verfall der Kräfte,“ nannte sein medizinisches Lehrbuch dieses zweite Stadium seiner Krankheit.
„Geben Sie sich doch nicht solche Mühe, ein verlorenes Leben zu fristen,“ sagte er eines Tages zu seinem Arzte.
„Aber, lieber Regierungsrat, Sie haben doch keine Schmerzen mehr, der böse Husten ist vorüber.“
„Allerdings. Aber Sie täuschen mich nicht, Doktor! Ich kenne meinen Zustand ganz genau.“
„So! Dann wissen Sie mehr als ich. Aufrichtig gestanden, ich bin mir gerade jetzt sehr unklar, denn meiner Ansicht nach müßte die Besserung rascher fortschreiten.“
„Verstellen Sie sich doch nicht so! Ich habe das Kapitel ‚Schwindsucht‘ ja eingehend studiert!“
„Aha! Konversationslexikon! Ja, da liest der Patient allerdings immer mehr heraus, als sein armer Arzt ihm sagen kann. Sogar den Namen wissen Sie! Nein, lieber Regierungsrat, so darf das nicht fortgehen! Sie sind zu wenig folgsam. Morgen bringe ich meinen Kollegen mit, wir wollen eine genaue Untersuchung vornehmen. Vielleicht glauben Sie uns beiden mehr als mir allein!“
Es war ein herrlicher erster Mai, an dem die Aerzte vorfuhren. Sie klopften den Kranken ab, behorchten die Atemzüge und sprachen dann leise und eingehend miteinander.
Dann setzten sie sich an das Bett, in dem der Regierungsrat noch lag – harrend auf sein Todesurteil. „Nun will ich Ihnen reinen Wein einschenken,“ sagte sein Hausarzt. „Es stand im Winter sehr bedenklich mit Ihnen; ich hätte nicht viel Hoffnung zu geben gewagt. Lungeninfarkt – wenn Sie den Namen wissen wollen. Aber es ist eine überraschende Heilung eingetreten. Mein Herr Kollege ist ganz meiner Ansicht: die Lunge ist wieder gesund.“
„Vollkommen gesund. Die Atemzüge sind frei und kräftig!“ bestätigte der fremde Arzt.
„Wissen Sie, was Ihnen noch fehlt: der Lebensmut. Ihre Nerven sind herunter. Sie haben sich Schrullen in den Kopf gesetzt, die Sie niederdrücken. Die seelische Stimmung thut in solchen Fällen viel. Sie müssen nur wollen, und Sie können ganz gesund werden! Mein Wort darauf! So und nun stehen Sie auf, setzen Sie sich an das offene Fenster und entschließen Sie sich endlich, auszufahren. In ein paar Tagen können Sie einen kleinen Spaziergang versuchen. Ich freue mich wirklich von Herzen, daß ich so beruhigt über Sie sein kann!“
Zu dem offenen Fenster flutete ein breiter Strahl Maiensonne herein. Ein Veilchensträußchen, das Hedwig in eine Vase gestellt hatte, duftete süß in dem leise fächelnden Lufthauch. Schwalben flogen durch die blaue Luft und trotz Wagenrollen und Straßenlärms hörte man ein helles Vogelgezwitscher.
Schüchtern noch, halb ungläubig, ob alles dies ihm wirklich wiedergeschenkt sei, beugte sich Franz hinaus. Er konnte jetzt einen von Blüten überdeckten Kastanienbaum sehen, um den ein paar Kinder hüpften. Und wie er sich so von der Sonne bescheinen ließ, da überflutete ihn ein namenloses, unbändiges Glücksgefühl! Leben! Nur leben dürfen! Nur jeden Tag ins Bureau gehen, durch den Hofgarten, durch die Maximilianstraße bummeln; nur wieder zu all den andern gehören, die arbeiten und atmen! Das Einfachste, das Alltäglichste schien solche Wonne! All’ die Ergebenheit, die er sich einzureden gesucht, die Gleichgültigkeit, mit der er sich gewappnet hatte, waren wie weggeblasen. Wie ein Zauberwort klang’s ihm entgegen aus der schönen Maienwelt: Gesund! Wieder gesund! Es war ihm, als flögen auf den weißen Wölkchen holde Engel, die ihm die Jubelbotschaft verkündeten. Hedwig trat ein mit einem frohen, lächelnden Gesicht. Die Aerzte hatten auch ihr mitgeteilt, wie zufrieden sie mit ihrer Untersuchung gewesen.
Er wendete sich bei ihrem leisen Schritte um und starrte sie mit einer gewissen Verblüffung an. In seinem Glücksrausche hatte er ganz vergessen, daß sie nun in sein Leben hereingehörte, Er hatte sie sich bisher immer nur als Pflegerin vorgestellt und als seine Witwe. Als Frau, mit der er nun leben sollte, vielleicht noch manches Jahr lang – niemals! Der Gedanke war nicht gerade peinlich, aber doch wunderlich, befremdend, überraschend.
Er, ein verheirateter Mann! Sein stilles Junggesellendasein, in das er sich eben in Gedanken wieder einzureihen gesucht, auf immer dahin! Er mußte sich an diese neue Wendung seines Geschickes erst langsam gewöhnen.
Er sollte leben und er hatte nun eine Frau!
Hedwig war zu sehr beschäftigt mit der ersten Ausfahrt, auf der sie ihn begleiten sollte, und mit den besonderen Leckerbissen, die sie für ihn herrichten wollte, um ihn vorher und nachher zu stärken, so daß sie nicht bemerkte, mit welcher Verwunderung er sie betrachtete. Auch er hörte zu grübeln auf, als er im Wagen ganze Ströme frischer Luft einatmete und nach so langer Zeit wieder Bäume, Wiesen, Blumen, geputzte Menschen an sich vorübergleiten sah. Von einem wonnigen Daseinsgefühl ließ er sich einlullen – gedankenlos, verträumt. Als er heimkam, war er sehr müde, aber er aß zum erstenmal mit Appetit und Hedwig jubelte wie ein Kind, als er ein zweites Stück von dem Huhn verlangte.
Bei der zweiten Ausfahrt bemerkte er schon mit etwas wacheren Augen, daß die Leute ihn anschauten, und er stellte sich vor, daß er in den nächsten Tagen, wenn er zum erstenmal an dem Arme seiner Frau ausgehen sollte, gewiß Bekannten begegnen würde. „Liebes Kind,“ sagte er, „du mußt mir einen Gefallen thun: Geh’ in ein Modewarengeschäft und kaufe dir ein Kleid, [383] einen neuen Hut und alles, was eine Dame braucht. Du darfst es mir nicht übelnehmen, aber es kommt mir so vor, als wärest du ganz altmodisch angezogen.“
„Papa wollte es so. Er sah mich gerne gerade so wie meine Mutter gekleidet.“
„Auch dein Haar, Hedwig! Ginge es nicht, daß du es dir von einem Friseur anders ordnen ließest? Es ist ja recht rücksichtslos von mir, daß ich erst jetzt auf diese Dinge Wert lege. Aber siehst du – der Leute wegen. So lange ich nur an den Tod dachte, schien mir alles so nebensächlich, so nichtig. Nun möchte ich doch, daß du dich wie andere Frauen trügest. Kaufe dir nur etwas Hübsches, nicht wahr, Kind?“
Sie war durchaus nicht beleidigt, im Gegenteil, es schien ihr Freude zu machen, daß er sich um ihren Anzug kümmerte. Zum erstenmal in ihrem Leben sollte sie sich nach dem eigenen Geschmack kleiden, nicht alte Kleider ihrer Mutter herrichten, sondern etwas Neues auswählen dürfen. Sie hätte kein Weib sein müssen, wenn dieser Weg ins Modemagazin ihr nicht vergnüglich erschienen wäre. Mit eifriger Miene brachte sie dem Genesenden die Stoffmuster, frug ihn um Rat, und er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er ein Modejournal in Händen hielt und unter Kleider- und Hütformen wählen half.
Wer ihm das vor einem Jahr gesagt hätte!
Und der Doktor hatte recht gehabt! Sein Befinden hob sich von Tag zu Tag. Seit er in die Luft kam, pulste förmlich ein neuer Lebensstrom durch seine Adern. Der Ekel vor den Speisen war verschwunden mit seiner Todeserwartung. Für Hedwig war es ein heiteres Schauspiel, ihm zuzusehen, wie er nun Gabel und Messer zur Hand nahm; sie freute sich kindisch, daß er einen feinen Bratengeruch wieder schätzte mit frischem Genesungshunger.
Sie mochte es auch gar nicht der Köchin überlassen, ihm sein liebevoll ausgesuchtes Frühstück zu bringen. Mit der Platte in der Hand trat sie auch an diesem Vormittage in sein Zimmer.
Er hörte sie eintreten, doch als sie vor ihm stand, sprang er lebhaft auf wie vor einer Fremden. „Ja, Kind! Ich kenne dich ja kaum mehr,“ rief er dann freudig überrascht.
Die Klosterschwester war aus ihrem entstellenden schwarzen Gewande geschlüpft und eine schlanke junge Dame geworden.
„Merkwürdig! Wie solch ein Anzug euch verändern kann!“
Er vermochte sich von seinem Staunen kaum zu erholen. Armselig, engbrüstig hatte sie ausgesehen in ihren schlecht geschnittenen knappen Taillen, der Hals zu lang, die Bewegungen eckig. Mit den bauschigen Aermeln, der faltigen Bluse und dem hohen Kragen hatte sie eine reizende jugendliche Gestalt und ihre zarten Farben wirkten frisch und rosig über dem glänzenden Grau des Stoffes. Aber es war nicht das Kleid allein – die Frisur hatte sie vor allem entstellt. Mit dem emporgekämmten Haar erschien ihr Gesicht runder, voller, und es kamen die kleinen Ohren, die weichen Linien an den Schläfen zum Vorschein.
Er ward ganz verlegen, je mehr er dies hübsche Geschöpf, das sich so plötzlich vor ihm entpuppt hatte, anblickte, und er begriff es kaum, daß er sich seit Monaten von dieser selben jungen Dame hatte bedienen lassen. Sie genoß die Bewunderung, die jeder seiner Blicke ausdrückte, mit freudiger Erregung.
„Ich bin wohl recht garstig gewesen?“ sagte sie treuherzig.
„Nein, nein! Aber ich möchte dich immer so angezogen sehen, auch zu Hause! Nicht mehr die alten Kleider! Bitte!“
So ging er denn wirklich wieder durch den Hofgarten, seinen alten Weg, und nun am Arm einer Frau, der die Vorübergehenden wohlgefällige Blicke zuwarfen. Wie wunderlich ihm das alles erschien! Seine Kollegen, seine Bekannten, die sich seit Monaten damit begnügt hatten, ab und zu durch das Dienstmädchen nachfragen zu lassen, wie es dem Herrn Regierungsrat gehe, machten nun Besuch bei ihm, zum erstenmal mit ihren Frauen, da er jetzt ein verheirateter Mann war. Forstner bemerkte, daß Hedwig trotz ihrer Schüchternheit neben den meist etwas allzurundlichen Ehehälften seiner Bekannten sehr anmutig wirkte, und er lächelte ganz beschämt, wenn man ihm zu seiner reizenden Frau gratulierte; er wußte ja, daß er das nur einem blinden Glückszufall verdankte, denn er hatte sich ja ein Vierteljahr nach der Trauung überhaupt erst besonnen, wie seine Frau eigentlich aussehe.
Er dankte ihr nun, seitdem sie seinen Augen so wohlgefiel, mit größerer Wärme für jede kleinste Dienstleistung und hatte ordentlich den Wunsch, galant gegen sie zu werden. Wenn ihm diese späte Wandlung nur nicht immer ein wenig komisch erschienen wäre, so daß er fürchtete, sich lächerlich zu machen! Wie gerne hätte er ihr manchmal die Hand geküßt!
Ende Mai war Hedwigs Geburtstag. An diesem Tage wollte er seiner ganzen Dankbarkeit, dem vollen Jubel seines Genesungsgefühls Ausdruck geben, sie einmal beschenken nach Herzenslust, ihr durch eine Zeichensprache es sagen, wie erkenntlich er ihr war für ihre Güte, ihre Aufopferung. Er fuhr allein aus, ging in die verschiedensten Läden und genoß ein neues, recht reizvolles Vergnügen, als er den Tisch mit all seinen hübschen Einkäufen belud und mit einer Fülle von Maiblumen schmückte.
„Komm einmal, Kind!“ rief er an der Thür in freudiger Erregung.
Und als sie dann, neugierig, was seine Heimlichkeit bedeutet habe, eintrat, zog er sie fast schüchtern zu dem Tisch heran und sagte: „Meinen Glückwunsch, liebe Hedwig! Meine paar Gaben mußt du als schwachen Ausdruck meines Dankes betrachten.“
Sie schaute erst ganz sprachlos auf all die schönen Dinge, die er liebevoll neben den Blumen geordnet hatte, begriff nur allmählich, daß der reizende Schmuck, das Opernglas, das Spitzentuch, der Fächer, das feine Briefpapier und all die netten Kleinigkeiten, die er in seiner Gebelaune zusammengesucht, ihr gehören sollten, wirklich ihr, und rief dann wie berauscht:
„Nein! nein! Ist das alles schön! Ist das alles lieb! Das ist ja wie ein Märchen! Und mir kommt’s auch wirklich vor, als wär’ ich verzaubert, als träumte mir es nur, daß jemand so gut mit mir ist, so gut!“
So staunend, so glücksverwirrt schaute sie zu ihm auf, als sie die Hand ausstreckte, um ihm zu danken, daß all seine Scheu und sein zagendes Besinnen von einer mächtigen heißen Empfindung verdrängt wurden. Er nahm ihren Kopf in seine beiden Hände und küßte zum erstenmal die Lippen seiner Frau.
Sie wendete sich verwirrt von ihm ab und beugte sich auf die Blumen nieder; doch als er nun den Arm um sie schlang und ihr glutüberstrahltes Gesicht emporhob, sah er, daß sie nasse Augen hatte.
„Du weinst, Hedwig? Ja, was hast du denn, Kind?“
„Ach Gott,“ schluchzte sie und um ihren Mund glitt trotz der Thränen ein Lächeln. „In meinem Leben ist doch bis jetzt alles so traurig gewesen. Und nun kommt so viel Schönes, Liebes auf einmal, in einem solchen Uebermaß! Ich meine, ich könnte das gar nicht ertragen! Mir ist’s, als müßte es mir die Brust zersprengen, wenn du so lieb zu mir bist!“
Ihn hatte der Kuß auf den frischen jungen Mund sehr übermütig gemacht. „Wir haben so viel nachzuholen, Hedwig! So viel versäumte Küsse!“ sagte er, ihr zärtlich über das Haar streichend und seine Wange an die ihre schmiegend. Erst war sie so scheu, als müßte sein Bart ihr das Gesicht versengen. Aber sie lernte rasch, wie süß es ist, den Druck zärtlicher Lippen zu fühlen und zu erwiedern.
So standen sie vor dem Geburtstagstisch, vor den Maiglöckchen, die das Zimmer mit Frühlingsduft erfüllten, und küßten sich wie große Kinder, die eben erst das Geheimnis der Liebe entdeckt haben.
Bei Tische wurde Hedwig ganz ausgelassen, weil sie sich ein Gläschen von dem starken Wein, den er trank, hatte aufnötigen lassen, um mit ihm anzustoßen auf ihr eigenes Wohl. Mitten in ihrer Lustigkeit staunte sie über ihr eigenes Lachen.
„Ich meine, das bin gar nicht mehr ich!“ sagte sie. „Die ganze Welt könnt’ ich umarmen!“
„Bitte mich!“ rief er und zog sie an sich.
Von einem Klopfen emporgeschreckt, sprang sie hastig auf.
„Nun, Herr Regierungsrat, Sie sehen ja prächtig aus!“ rief der eintretende Doktor. „Um Jahre verjüngt seit den paar Tagen! Nun kann ich Ihnen bald meine Abschiedsvisite machen!“
Der Anblick des Arztes und die paar noch zu besprechenden leichten Verordnungen wandelten bald die übermütig Glückliche wieder in die gewissenhafte Pflegerin, die den Rest des Tages einzig darauf bedacht war, ihren Genesenen in ruhiger froher Stimmung zu erhalten. Sorgsam wie früher bereitete sie sein Zimmer, rüstete alles, wie er es gewohnt war, und schien gar nicht zu bemerken, mit welch’ unverwandtem Blick der glückliche Mann ihr stilles, zierliches Walten verfolgte.
Am andern Morgen, als sie beim Frühstück saßen, sagte er: [384] „Höre, Kind, mir ist heute nacht ein vortrefflicher Gedanke gekommen. Ich habe noch lange schlaflos gelegen, als du fort warst –“
Sie sah ihn gleich wieder besorgt an.
„Nein, nein, du brauchst nichts zu fürchten, es war ein ganz behagliches Wachen mit lauter schönen erfreulichen Gedanken. Was meinst du, wenn wir unsere Koffer packten, die Krankenstube hinter uns ließen und ausflögen wie andere Hochzeitsreisende – sagen wir einmal: an den Gardasee? Wäre dir das recht?“
Sie nickte mit begeisterten, glückseligen Augen.
„Da ist Sonne, strahlende Sonne!“ fuhr er in freudiger Erregung fort. „Und es soll auch hell und sonnig werden um uns! Denn schau, Hedwig, wir beide haben ja noch viel zu wenig Wärme und Sonne im Leben gehabt! Du mit deiner verkümmerten Jugend! Und ich, mein Gott, ich habe ja auch nichts gewußt als Arbeit und Bureau, immer nur das Bureau! Darum passen wir so gut zusammen, zwei arme Einsame, die alles versäumte Lachen und Küssen erst nachholen wollen!“
Er hatte sie nun fest an sich gedrückt und hielt sie so in zärtlicher Umschlingung, daß er das Klopfen ihres Herzens an seinem Herzen fühlte.
„Das schönste Fleckchen der Welt suchen wir aus für unser Glück,“ flüsterte er in ihr kleines, erglühendes Ohr. „Hier in diesen Räumen können wir unser neues Leben nicht anfangen, es hängt zu viel traurige Erinnerung daran. In voller Sommerpracht, in Reiseübermut, in Glanz und Jubel wollen wir ihn feiern, unsern richtigen Hochzeitstag!“