Auf der Station von St. Pancras
[602]
Ob es sechs oder sieben Jahre her ist, weiß ich nicht mehr genau; daß aber damals das Riesenhôtel noch nicht existirte, welches sich jetzt am St. Pancras-Bahnhofe im Norden Londons breit macht, will ich bezeugen – dies ist auch die Hauptsache an der langweiligen Geschichte.
Also vor sechs oder sieben Jahren kam ich eines Sonnabends gegen Mitternacht mit dem Dampfer in London an. Der menschenfreundliche Capitain konnte es nicht über das Herz bringen, seine einzige Passagierin mit Sack und Pack in der Geisterstunde an’s schreckliche Ufer setzen zu lassen; er dampfte daher nur mir zu Liebe am gewöhnlichen Landungsplatze vorüber und noch ein tüchtiges Stück stromaufwärts.
Als der graugelbe Sonntagsmorgen anbrach, lagen wir mäuschenstill auf der vielbesungenen, majestätischen Themse. Auch heute wiegte ihre breite Brust unzählige Schiffe und Schifflein mit und ohne Flaggen, aber ich konnte mich mit dem besten Willen nicht für sie begeistern; sie war mir gar zu schmutzig.
Ein Kahnschiffer hatte die Güte, mich und meine Habseligkeiten an’s Land zu rudern. Sein Gewissen mußte dabei ein Auge zudrücken; denn es war ja Sonntag, und am Sonntag darf man in England bekanntlich nicht rudern, aber sein Gewissen machte sich für ein paar Schillinge extra ganz gern der Sünde schuldig. Stöhnend schleppte er meinen schweren Koffer die schlüpfrige Anlegetreppe hinauf; ächzend setzte er ihn in der ersten besten Straße nieder, und sich den Schweiß von der Stirn wischend, sagte er:
„Wenn Sie nun einen Wagen brauchen, Ma’am, der kleine Jack da holt Ihnen gern einen. Es ist zwar Sonntag, aber für ein paar Pfennige extra – He, Jack! Die Dame braucht einen Wagen.“
„Einen Wagen, Ma’am?“ fragte Jack herbeilaufend; „schön, Ma’am! Es ist zwar Sonntag heute – thut nichts; ich hole Ihnen einen für einen Schilling, Ma’am“ – meinte er mit schlauem Grinsen.
Als ich den Schilling bewilligt hatte, trabte der junge Wucherer davon. Ich aber setzte mich auf meinen Koffer und sah mich um. In welchem Theile Londons ich mich damals befand, weiß ich noch heute nicht – der schönste war es keinesfalls. Vor mir dehnte sich eine endlose, enge Straße, deren Häuser sich sämmtlich zum Verwechseln ähnlich sahen. Hatte hier und da der gelangweilte Maurer eine kleine Abweichungssünde begangen, so war der gute Kohlenrauch gleich bei der Hand gewesen, um sie mit dem eintönigen schwarzen Mantel seiner Liebe zuzudecken. Schwarz, rabenschwarz war überhaupt Alles, so weit das Auge reichte. Neben mir blickte sogar ein schwarzes Bäumchen über eine schwarze Mauer. Die kleinen Londoner, die bettelnd mittlerweile immer engere Kreise um mich zogen, sahen vollends aus, als ob sie aus dem Schornstein kämen.
„Arme Dinger!“ dachte ich, in meine Tasche langend, „keine Seife dieser Erde wäscht Euch wieder weiß.“
Sie betielten mich einmal über das andere „Lady“ und erfanden, um mir das Geld aus der Börse zu locken, die herzbrechendsten Geschichten. Des Einen Mutter lag todt, des Anderen Vater im Sterben, eines Dritten ganze Familie an den Blattern darnieder; Alle hatten sie seit vorgestern nichts gegessen. Die Aermsten! Sie sahen aus, als ob sie in ihrem Leben nichts als Steinkohlen geschluckt hätten.
Eben war ich mit meinem Kupfergeld zu Ende, als Jack zurückkam. Grinsend deutete er auf das Gefährt, welches ihm auf dem Fuße folgte. Er hatte gut lachen, der kleine Schelm! Mir war der Anblick des Kutschers seiner Wahl weniger erfreulich. Sein Antlitz glänzte wie ein aufgedunsener rother Vollmond; seine Schielaugen hatten den üblichen Sonnabendsrausch noch nicht ausgeschlafen; der Hut saß ihm im Nacken, und aus dem einen Aermel seines schmierigen Rockes blickte ein vorwitziger Ellenbogen. Ich habe Jack im Verdacht, daß er mir diese Perle von einem Rosselenker mit Vorbedacht verschafft hatte; denn noch hatte ich meiner Ansicht über denselben in keiner Weise Luft gemacht, da flüsterte der Schlaukopf schon:
„Glauben Sie, daß er betrunken ist, Ma’am? Geben Sie mir noch einen Schilling, und ich hole Ihnen in der Minute einen anderen!“
„Das glaube ich, Jack. Ein noch schöneres Exemplar,“ antwortete ich ärgerlich lachend. Bei mir dachte ich: „Mehr oder weniger angetrunken sind die guten Leute immer, ohne daß sie darum umwerfen oder sich verirren. Und wer sieht und kennt mich im großen Babylon?“
„Ich möchte nach St. Pancras,“ redete ich die Perle auf dem Bocke an.
„St. Pancras? – Zehn Schillinge,“ brummte er, ohne sich lange zu besinnen.
„Zehn Schillinge?“ wiederholte ich, ob der runden Summe große Augen machend.
„Ja, zehn Schillinge,“ schrie er schon aufgeregt, „keinen Penny weniger nehme ich heute. Wollen Sie einsteigen oder nicht? Haben Sie mich holen lassen oder nicht? Ist es Sonntag oder nicht? War ich im Begriff zur Kirche zu gehen oder nicht?“
Als er sah, daß Jack’s elastischer Mund sich bei der letzten Frage von Ohr zu Ohr dehnte und daß ich selbst einen etwas zweifelnden Blick über seine Toilette gleiten ließ, gerieth er außer sich vor Wuth und ließ von der Höhe seines Bockes einen solchen Hagel von Verwünschungen auf mich niederprasseln, daß mir Hören und Sehen verging.
Ob dem Spectakel war die Straße auf einmal lebendig geworden. Alte Weiber krochen aus Kellerluken hervor. Fenster wurden aufgeworfen. In den Oeffnungen erschienen grinsende Menschenköpfe, nickten dem Kutscher Beifall zu und ermunterten ihn durch Zurufe und wieherndes Gelächter.
Bei dem Anblick durchzuckte mich plötzlich der entsetzliche Gedanke: Wie, wenn du dich in einem der verrufenen Theile Londons befändest, in welchem man die Leute beraubt, um sie hernach mir nichts, dir nichts verschwinden zu lassen?! Unglückskind, und dein Koffer steht mitten auf der Straße! Und du hast deine Börse wohl eine Viertelstunde offen in der Hand gehalten!
„Meinetwegen denn, zehn Schillinge,“ rief ich (in meiner Herzensangst hätte ich auch zehn Pfund gerufen) und stürzte Hals über Kopf in den Wagen. „Da steht mein Koffer! Nur recht schnell, damit ich den Zug nicht verfehle!“
Zitternd erwartete ich, daß sich der Wüthende jetzt weigern werde, mich und meine Siebensachen an das ersehnte Ziel zu befördern. Aber er war besser, als er aussah. Schwerfällig rollte er vom Bock herunter – fluchend packte er den Koffer – fluchend schob er ihn auf den Wagen – fluchend rasselte er mit mir in den Sonntagsmorgen hinein.
Wehe den unseligen Straßenjungen, die sich uns auf Peitschenlänge näherten! Wehe den tollkühnen Kötern, die uns über den Weg liefen! Alle mußten sie es entgelten, daß ich mich so schlecht gegen den Armen benommen hatte. Wie eine Windsbraut fegten wir durch die friedlichen Straßen, unbekümmert um das feierliche Läuten der Glocken, unbekümmert um die frommen Kirchgänger, welche entsetzt an uns vorüber kopfschüttelten.
Ich fand unser Benehmen nichts weniger als anständig und hätte mein schamrothes Angesicht gar zu gern in die Kissen meiner Carosse gedrückt, aber diese hatten leider nicht umsonst so manche Nacht das Haupt ihres müden Eigenthümers gewiegt. Sie glänzten von Fett und dufteten nach Branntwein.
Wenn ich nicht irre, haben sämmtliche Miethwagen der Riesenstadt vor etlichen Jahren die Revue passiren müssen, worauf eine große Anzahl derselben in den wohlverdienten Feuertod gewandert ist. Im Interesse des fahrenden London hoffe ich, daß bei der Gelegenheit auch das Exemplar, welches mich nach St. Pancras trug, in Rauch aufgegangen ist – wenn es nicht schon vor dem Zeitpunkte seine arme Seele ausgehaucht hat. Alles klirrte, klapperte und ächzte an dem unglücklichen Fuhrwerk. Jeden Augenblick erwartete ich, meinen Koffer durch die Decke zu mir niedersteigen, oder den Fußboden unter mir versinken zu sehen. Er zeigte verschiedene Risse und eine klaffende Wunde, die ein altersgraues Häuflein Stroh nur sehr nothdürftig bemäntelte. Gern hätte ich die Perle auf dem Bocke beschworen, aus Rücksicht für das ehrwürdige Gefährt doch etwas langsamer zu fahren, aber das Fenster rechts ließ sich nicht öffnen, das links war von einer derben Faust mitten in das Herz getroffen und sah seiner baldigen [603] Auflösung entgegen. Erfolgte diese durch meine Vermittelung, so wurde das Fenster auf meine Rechnung geschrieben. Ich stemmte daher meine Füße gegen den Rücksitz, war eine halbe Stunde lang mit geschlossenen Augen auf Alles gefaßt und sagte – dem heiligen Pankratius meinen besten Dank, als er mich nach Ablauf dieser Zeit in seinen Bahnhof aufnahm.
Wo sonst das bewegteste Leben zu pulsiren pflegte, herrschte heut „Grabesstille fürchterlich“. Aus der hohen Eingangspforte, aus welcher dem gepäckreichen Reisenden sonst ein Dutzend dienstbeflissener Geister auf einmal entgegenstürzte, schritt – nachdem er der Perle Zeit gelassen, ein Weniges zu spectakeln und zu fluchen – feierlich langsam ein riesiger Polizist mit feuerrothem Cotelettenbart. Er öffnet mir den Wagenschlag, hat einen Blick des Mitleids für das invalide Fuhrwerk, einen zweiten der Mißbilligung für dessen Eigenthümer, läßt sich von diesem meinen Koffer auf die starke Schulter schieben und fragt dann, mir majestätisch voranschreitend:
„Wohin wünschen Sie zu reisen?“
„Nach W.“
Er setzt den Koffer nieder, consultirt eine enorme Taschenuhr und spricht: „Der Zug ist vor fünf Minuten abgefahren.“
„Aergerlich!“ rufe ich und wünsche von Herzen, daß ich mich der Perle fünf Minuten früher anvertraut hätte. „Also muß ich auf den nächsten warten. Bitte, seien Sie so freundlich, unterdessen ein Bischen nach meinem Gepäck zu sehen!“
Mit diesen Worten drücke ich ihm nach guter deutscher Sitte ein Geldstück in die große Hand, erschrecke aber nicht wenig, nachdem ich es gethan; denn wie ich mich plötzlich besinne, gestatten die englischen Eisenbahndirectionen nicht, daß man ihren Dienern mit Trinkgeldern lohne. Kommt dies dennoch vor, so geschieht es heimlich. Ich aber habe einem Manne des Gesetzes, dessen heilige Pflicht es ist, das Zustecken möglichst zu verhindern, etwas zugesteckt! Natürlich erwarte ich, daß er mir meinen Mammon vor die Füße werfen und mich auf der Stelle arrestiren werde, aber es erfolgt nichts Derartiges. Der Edle läßt das Geldstück ruhig in seine Tasche gleiten, legt dankend die Hand an den spitzen Hut und sagt, auf den Koffer deutend:
„Schon gut, Ma’am. Verlassen Sie sich auf mich! Aber Sie werden warten müssen –“
„Ja, leider!“
„Sie werden – es ist jetzt acht Uhr – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – ja, sechs Stunden warten müssen.“
„Unmöglich!“
Er zuckt bedauernd die Achseln:
„Es ist eben Sonntag heute. Vor zwei Uhr führt kein Zug nach W.“
„Bitte, zeigen Sie mir den Wartesaal!“ rufe ich; denn der Schrecken ist mir in alle Glieder gefahren, und ich fühle das Bedürfniß, einen Augenblick sitzend meine Kräfte zu sammeln.
Der Wächter der Ordnung zupft verlegen an seinem rothen Backenbart.
„Es thut mir leid,“ spricht er, „aber ich habe strenge Ordre, den Wartesaal bis Punkt ein Uhr verschlossen zu halten.“
„Warum in aller Welt?“
„Wegen der Straßenjugend, Ma’am. Sehen Sie, ich bin heute den halben Tag allein hier; wie leicht könnten sich da die unnützen Rangen in die Säle schleichen und der Direction die guten, neuen Möbeln beschädigen!“
„Ist ein Hôtel in der Nähe?“
„Nein.“
„Also habe ich die Wahl, sechs Stunden lang den Perron auf und ab zu spazieren, oder in den öden Straßen herum zu wandern?“
Bei diesen in heller Verzweiflung ausgestoßenen Worten faßt den Diener der Gerechtigkeit ein menschliches Rühren. (Ich habe ihm ja auch eben erst ein Geldstück geschenkt.)
„Wenn Sie in eine Kirche gingen,“ schlägt er vor. „Es vertreibt die Zeit.“
Ja, wenn ich in eine Kirche ginge? Der Gedanke ist gar nicht übel. Aber – wo finde ich hier im hohen Norden Londons gleich eine Kirche? Und darf ich es auch wagen, ohne Gebetbuch und – was noch schlimmer ist – im Reisecostüm, ohne Capothut? – Das Gebetbuch liehe mir vielleicht eine barmherzige Seele, den runden Hut aber vergäbe mir keine. Dazu sollen die Blattern in dieser Gegend wüthen. – Nein, ich gehe lieber nicht.
„Oder,“ fährt der Menschenfreundliche fort, als er sieht, daß seine Idee keinen Anklang findet, „ich könnte Sie auch allenfalls in den Wartesaal lassen, aber unter einer Bedingung: daß Sie mir gestatten, Sie einschließen.“
„Wenn Sie weiter keine Bedenken haben,“ rufe ich unendlich erleichtert aus, „schließen Sie mich in Gottes Namen ein! Sagen Sie mir aber erst, wo ich mir ein nettes Buch kaufen kann; denn – aber freilich, heut sind ja keine Bücher zu haben.“
„Gewiß nicht,“ bestätigt er vorwurfsvoll. „Es ist Sonntag.“
„Oeffnen Sie immerhin!“ seufze ich, „so verschlafe ich die unglücklichen sechs Stunden.“
„Sollten Sie irgend etwas brauchen, sollte es Ihnen gar zu langweilig werden,“ bemerkt der Gute, im Begriff meinen Kerker hinter mir zu schließen, „so klopfen Sie nur an die Thür! Ich bin immer in der Nähe.“
Der Schlüssel dreht sich um seine Achse.
„Halt, halt!“ rufe ich. „Eben fällt mir ein: ich muß nothwendig erst nach W. telegraphiren. Um zwölf Uhr werde ich dort erwartet.“
„Das Telegraphenbureau ist am Sonntag geschlossen,“ schallt es durch das Schlüsselloch zurück.
Ich bin allein – „Gebieter über Alles, was ich überblicke“, das heißt über einen langen blank polirten Tisch, über verschiedene Ledersophas und einige Stühle. Ich mache es mir auf einem der Sophas so bequem, wie es die Beschaffenheit des Möbels erlaubt. Es ist knüppelhart, und seine Rücklehne hört da auf, wo beim normalen Menschen der Rücken anfängt. Ich versuche zu schlafen – in allen erdenklichen Positionen – und finde es unmöglich. Ich durchwühle meinen Handkoffer nach einer langweiligen Lectüre, um der Natur zu Hülfe zu kommen. Da ich aber aus verschiedenen Gründen auf dem Meere nie lese, so habe ich nur für den Nothfall ein dünnes illustrirtes Blättchen mitgenommen – mein Ein und Alles.
Wenn ich ein Bischen zum Fenster hinaussähe? Dies liegt nämlich nicht außer dem Bereich der Möglichkeit, obgleich das Fenster dicht unter der Decke angebracht ist. Ich brauche nur auf den Rücken meines Sophas zu steigen und mich auf die Zehenspitzen zu heben. Ader es ist auf die Dauer ermüdend und langweilig; denn ich erblicke nichts als Schienen, über die kein Zug fährt, und einen Perron, auf dem sich Niemand sehen läßt, nicht einmal der rothbärtige Diener der Gerechtigkeit. Ich steige von meiner Höhe herab, fange an, um den großen Tisch herum zu spazieren, bedauere dabei abwechselnd die unglücklichen Menagerielöwen und die armen Sünder in der Tretmühle und sinke nach viertelstündigem Rundlauf erschöpft und schwindelig auf mein ledernes Kanapee.
Ich versuche zum zweiten Male zu schlafen, finde es zum zweiten Male unmöglich. Will ich nicht vor Langerweile umkommen, so muß ich mich jetzt an mein Ein und mein Alles machen. Leider enthält es außer einigen älteren Modeberichten und dem Innern eines Romans, aus welchem ich nicht klug werden kann, nur noch eine Novelette, vier Seiten lang:
Auf der ersten sehen sie sich zum ersten Male, verlieben sich sterblich in einander und schwören sich unter einer Straßenlaterne ewige Treue (Notabene: sie haben Beide zusammen keinen halben Thaler im Vermögen); auf der zweiten trennt sie das grausame Schicksal in Gestalt ihrer nach einem Goldschwiegersohne angelnden Mama; auf der dritten bereinigt sie die freundliche Vorsehung in Gestalt seines zu rechter Zeit dahingeschiedenen Erbonkels; auf der vierten Seite Hochzeitsreise, Sonnenaufgang auf dem Rigi, Aussicht auf eine glückliche Zukunft. –
Es ist jetzt genau zehn Uhr; meine Hülfsmittel sind erschöpft, und mit der Langenweile stellt sich auch der Hunger ein. Ich habe heute Morgen noch keinen Bissen genossen. Freund Rothbart muß mir meinen Kerker öffnen.
Ich gehe an die Thür und klopfe. Niemand kommt. Ich klopfe lauter. Es rührt und regt sich nichts. Ich klopfe und rüttele wie ein Verzweifelter. Alles bleibt todtenstill.
Wenn er mich vergessen hätte – nach Hause gegangen wäre – mich in diesen fürchterlichen vier Wänden jämmerlich verhungern ließe! – Vergebens sucht mir mein Verstand zu beweisen, daß der Mensch in vier Stunden nicht verhungern kann; meine aufgeregte Einbildungskraft hält das Schrecklichste für möglich, und ich schüttele, klopfe, rüttele, lausche abwechselnd wohl zehn
[604] Minuten lang. Da – endlich – lassen sich Schritte vernehmen, langsame, gemessene Schritte. Der Schlüssel dreht sich. Rothbart erscheint in der Thüröffnung, sehr erstaunt, mich so aufgeregt zu finden. Er nimmt meine Vorwürfe sanftmüthig entgegen; er hat mich nicht klopfen hören, ist nur bis an die nächste Straßenecke gewesen, um die Leute aus der Kirche kommen zu sehen.
„Sie glauben nicht, wie langweilig es hier Sonntags ist,“ setzt er mit einem Seufzer hinzu.
Ob ich es glaube!
„Ich möchte frühstücken. Die Bahnhofsrestauration –“
„Wird Sonntags nicht –“
„Das dacht’ ich mir. Aber Sie werden nicht behaupten wollen, daß ich in der Nähe nicht irgendwo eine Seele finde, die mir trotz des Sonntags für mein Geld etwas zu essen giebt?“
„O nein – das will ich nicht behaupten.“
„Aber, wo finde ich sie?“
„Ja, wo?“ spricht er sinnend. „Ein Hôtel ist nicht in der Nähe; die Kaffeehäuser sind heute fast alle geschlossen – das heißt, ich wüßte wohl eins, aber – Sie werden nicht in ein Kaffeehaus gehen wollen?“
„Lieber als hier verhungern! Wenn es anständig ist.“
„O, sehr anständig, wenn auch nicht gerade ersten Ranges.“
„Und wo liegt es?“
„Wenn Sie erlauben, Ma’am, so führe ich Sie hin. Ich bin im Hause bekannt.“
„Aber was macht unterdessen die Station?“
„Die läuft nicht weg.“
So wandeln wir denn gemeinschaftlich durch ein paar Straßen, der Mann des Gesetzes und ich. In jeder andern Stadt bekämen wir natürlich ein Gefolge von Gassenbuben; in London spielen die Polizeidiener häufig die Ritter bedrängter Damen, und es hält mich kein Mensch für verhaftet. Vor einem räucherigen, zweistöckigen Gebäude bleiben wir stehen. Mein Begleiter stößt die Hausthür auf und ruft mit Stentorstimme:
„Hann!“ („Ann“ hätte er gar zu gern gerufen, aber einem ungebildeten Londoner Kinde kommt leider immer zur Unzeit ein H in die Kehle.)
Es poltert in den unteren Regionen. Drauf erscheint im Hintergrunde Hann mit einem Kopf à la Struwwelpeter.
„Nun Bobby?“ fragt sie mit freundschaftlichem Grinsen.
„Die Dame will ein Frühstück, Hann.“
Freund Rothbart empfiehlt sich. Hann kommt näher, sich die Hände an der Schürze trocknend, und ladet mich höflich ein, ihr über einen fadenscheinigen Treppenläufer nach oben zu folgen. Hier öffnet sie mir mit den Worten: „Das Kaffeezimmer!“ ein kleines, ziemlich unsauberes Gemach, das weniger nach Kaffee, als nach einem Gemisch von Tabak und Bier duftet. Es enthält sechs Pferdehaarstühle, einen Lehnstuhl und einem Tisch mit schwarzer Wachstuchdecke, auf welcher sich in weißen Ringen und Ringlein unzählige Tassen und Gläser verewigt haben.
Hann wünscht zu wissen, was ich begehre. Leider ist ihre ganze Erscheinung so unappetitlich, daß ich aus ihren ungewaschenen Händen nur Thee und gekochte Eier begehre. Sie verspricht, sich zu beeilen, und poltert treppab. Ich rücke den Lehnstuhl an das Fenster und bekomme, indem ich dies thue, eine hohe Idee von dem Patriotismus der Engländerinnen; denn über des Lehnstuhls Rücken breitet sich der einzige Schmuckgegenstand des Zimmers, ein Antimacassar, auf dem eine kunstfertige Hand in feinen Häkelnadelstichen den Herzog von Wellington portraitirt hat. Großer Sieger von Waterloo! Man hat Dich – wer weiß wie oft! – in Stein gehauen, in Erz gegossen, in Oel gemalt, in Holz und in Kupfer gestochen, aber gewiß nur dieses eine einzige Mal in Baumwolle gehäkelt! – Voll inniger Rührung lege ich mein Haupt auf dies Denkmal von zarter Frauenhand.
Ueber der Straße unten liegt ein Nebelschleier, aber er ist blaß und dünn und gönnt mir das Vergnügen, alle fünf Minuten einen gelangweilten Menschen vorüberspazieren zu sehen. Grabesstille herrscht im Hause, nur dann und wann unterbrochen von Lauten aus der Unterwelt, in welcher Hann sich meinem Frühstück widmet.
[620] Wie ich so allein dasitze und auf Hann und meine Mahlzeit warte, ist es mir, als höre ich hinter mir einen tiefen Seufzer. Niemand da! Ich muß mich also wohl getäuscht haben.
Nach Verlauf einer guten halben Stunde naht Hann mit Geklirr. Sie setzt ein Theebrett auf den Tisch und fordert die Summe von zwei Schillingen für das lucullische Mahl, das sie mir bereitet. Während ich meine Börse hervorsuche, geht die Hausthür. Gleich darauf lassen sich schwere Schritte auf der Treppe vernehmen.
[622] „Ah! Es kommt Jemand,“ bemerke ich.
„Nur der Doctor,“ sagt Hann, ein wenig verlegen, wie mir's scheint.
Der Doctor stampft in ein Nebenzimmer. Indem er dessen Thür öffnet, dringt wiederum ein tiefer Seufzer an mein Ohr.
„Was war das?“ fragte ich.
„O! Das war nur die Mistreß. Sie stöhnt in Einem fort. Sie hat die – sie hat Zahn – sie hat K – sie hat Kopfweh, schreckliches Kopfweh,“ stottert Hann, nimmt die beiden Schillinge und poltert mit einem: „Adjö, Ma'am! Ich dank' Ihnen,“ Hals über Kopf in den Tartarus hinab.
„Wunderliche Person!“ murmele ich, indem ich anfange, mir ein Ei (besser: einen Kieselstein) zu Gemüthe zu führen. „Zeigt ein wahrhaft rührendes Vertrauen in meine Ehrlichkeit, da sie mich hier allein läßt. Wer bürgt ihr dafür, daß ich nicht mit den knöchernen Theelöffeln und dem baumwollenen Denkmal des Herzogs von Wellington davongehe? – Wunderliche Mistreß! Hat ein bischen Kopfweh und läßt gleich den Doctor kommen. Merkwürdig, wie verwirrt das Mädchen wurde, als ich fragte, wer da seufze – ganz dunkelroth im Gesicht. Wenn sie mir eine Unwahrheit gesagt hätte! Wenn Mistreß gar kein Kopfweh hätte, sondern eine schlimme Krankheit, die sie nicht zu nennen wagte – am Ende gar eine ansteck – Großer Gott! Wenn die Frau die Blattern hätte! Gerade in dieser Gegend fallen ihnen ja wöchentlich Hunderte zum Opfer.“
Ich stoße das Theegeschirr zurück, springe auf, stürze die Treppe hinunter zum Hause hinaus und höre nicht auf zu stürzen, bis ich athemlos in der Bahnhofshalle vor dem verdutzten Diener der Gerechtigkeit stehe.
„Antworten Sie mir auf Ihr Gewissen,“ rufe ich ihm zu, „haben Sie es gewagt, mich in ein Haus zu führen, dessen Besitzerin an den Blattern krank liegt?“
Rothbart zieht die Augenbrauen in die Höhe, schüttelt den Kopf und spricht, mir höflich die Thür meines Kerkers erschließend: „Daß ich nicht wüßte! Wer sagt das? Hann?“
„Ach nein. Die behauptet natürlich, ihre Herrin habe Kopfweh, wurde aber –“
„Verlassen Sie sich darauf, Ma'am,“ unterbricht er mich mit edler Begeisterung, „wenn Hann gesagt hat, daß ihre Mistreß Kopfweh hat, so hat sie Kopfweh. Hann lügt nicht.“
„Warum in aller Welt wurde sie denn so verwirrt und stürzte mit einem dunkelrothen Gesicht zur Thür hinaus?“
„Sie wird plötzlich Angst bekommen haben, der Braten könne anbrennen. Sie ist ein gewissenhaftes Mädchen – ist Hann.“
„Es ist etwas Schönes um das felsenfeste Vertrauen, das der gute Rothbart in Hann setzt,“ seufze ich, als ich mich wieder einsam in meinen vier Gefängnißwänden sehe, „ich wollte, ich könnte es theilen.“
Ich theile es nicht. Ich habe überhaupt kein rechtes Vertrauen zu den Londonern von heutzutage. Sie sind lange nicht mehr so gewissenhaft wie ihre Vorfahren zur Zeit der furchtbaren Pest. Dazumal zeichnete der ehrliche Bürger, sobald die Seuche bei ihm eingezogen war, ein großes, rothes Kreuz an seine Thür, was so viel bedeutete, als: „Wenn Du Dein Leben lieb hast, so tritt nicht über meine Schwelle!“ Heute ladet des würdigen Mannes Urenkel arglose Leute mit gleißnerischen Worten in sein inficirtes Haus und setzt ihnen inficirte Lebensmittel in inficirten Schüsseln vor, einzig und allein um ein paar armselige Schillinge an ihnen zu verdienen. Der also Betrogene ißt und trinkt, bezahlt sein Geld und – bekommt die Blattern.
Hundert alte halbvergessene Ansteckungsgeschichten kommen mir in den Sinn, während ich wie ein ruheloser Geist um den großen, polirten Tisch herum wandere. Ich denke sie nach einander von Anfang bis zu Ende durch und bringe sie auf meine Lage in Anwendung. Meine Seele leidet dabei Folterqualen, aber die Zeit vergeht mir schnell. Ich traue meinen Ohren nicht, als Rothbart plötzlich die Thür aufschließt und mir strahlenden Antlitzes verkündet, daß ich jetzt nur noch eine einzige Stunde zu warten habe.
Im Laufe der Stunde erscheinen fünf Damen, eine alte, zwei ältliche und zwei junge. Sie tragen sämmtlich Capothüte und halten Gebetbücher in den Händen, zum Zeichen, daß sie die Bahn heute nur deshalb benutzen, weil sie in irgend einer Vorstadtskirche den Nachmittagsgottesdienst zu besuchen wünschen. Sie vertheilen sich auf vier Ledersophas und sehen mich, die ich endlich wieder auf dem meinigen zur Ruhe gekommen bin, starr, stumm und vorwurfsvoll an; denn daß ich nicht in der nämlichen frommen Absicht reise, offenbaren ihnen mein runder Hut und mein Handkoffer. Fünf Minuten lang ertrage ich das Kreuzfeuer aus den zehn Augen; dann gehe ich hinaus, um den Mann des Gesetzes zu bitten, mich baldmöglichst einsteigen zu lassen.
Draußen ist es lebendig geworden. Rothbart hat Gesellschaft bekommen. Er löst sich aus einem Knäuel von Gepäckträgern und kommt mir entgegen. Einsteigen kann ich jederzeit, meint er, die Waggons halten ja vor dem Perron, aber es wird noch eine gute halbe Stunde darüber hingehen, bis der Zug reisefertig ist.
„Lieber eine halbe Stunde im Coupé sitzen, als noch eine halbe Minute im Wartesaal,“ entscheide ich.
Rothbart holt meine sieben Sachen heraus, schließt mir draußen das allerschönste Coupé auf und entfernt sich mit dem Versprechen, mich zu benachrichtigen, sobald ich mir am Schalter ein Billet lösen kann.
Die Zeit vergeht langsam, aber sie vergeht doch. Die Locomotive langt schnaubend an. Einige Dutzend Sonntagsreisende steigen mehr oder weniger schamroth ein. Jetzt kommen die fünf Capothüte, schenken mir im Vorüberschreiten noch schnell fünf vorwurfsvolle Blicke und wählen, jede Gemeinschaft mit mir meidend, das nächste Coupé.
Und nun erscheint Rothbart, der Treue. Er hat meinen Koffer besorgt und meint, es sei nun hohe Zeit, daß ich mir ein Billet löse, der Zug fahre in sechs Minuten. Ich wage es, der guten Seele nochmals ein Geldstück in die Hand zu drücken. Er nimmt es zu meiner Freude ohne Scrupel entgegen, wünscht mir gerührt eine glückliche Reise und geht. Ich eile an den Schalter:
„Ein Billet nach W.“
„Billet nach W.! – Nach W? – W.? Bedaure! Eilzug nach Edinburgh hält nicht in W. Werden bis fünf Uhr warten müssen.“
Einen Moment stehe ich wie vom Blitze getroffen; dann fliege ich, eingedenk der eilenden Minuten, an das allerschönste Coupé und entreiße ihm mit blutendem Herzen meine Habseligkeiten.
„Einsteigen einsteigen!“ ruft, indem ich dies thue, der Schaffner. Er hat die Hälfte der Wagen bereits geschlossen.
Von Angst getrieben stürze ich auf den ersten besten Gepäckträger zu und beschwöre ihn, mir schnell, schnell meinen Koffer herauszugeben. Der Mann ist mit Freuden bereit dazu, weiß aber nicht, ob der Verlangte im Gepäckwagen Nr. 1, unmittelbar hinter der Locomotive, oder in Nr. 2, am äußersten Ende des Zuges, weilt. Ich weiß es auch nicht; drei Collegen, die er nach einander consultirt, wissen es ebenfalls nicht. Niemand weiß es, außer Rothbart, und der ist spurlos verschwunden. Ueber dem Consultiren ist es auch schon zu spät geworden. Sämmtliche Wagen sind geschlossen. In einer halben Minute reist mein Koffer auf eigene Faust nach Edinburgh und von da nach Thule – kehrt vielleicht über's Jahr, vielleicht nimmer wieder. Da erscheint plötzlich ein Rettungsengel, ein wohlbekannter, mit leuchtenden Coteletten, sieht mich unter der Last meines Grames tiefgebeugt dastehen und begreift im Nu die Situation. Auf den Schaffner zustürzen, ihm ein unverständliches Wort zurufen, einen Wagen aufreißen und einen Koffer an das Tageslicht zerren, ist das Werk eines Augenblicks. Der Zug braust davon. Aufathmend stehen wir da. Rothbart erschöpft sich in Entschuldigungen, daß er mein Eigenthum dem falschen Zuge anvertraut, ich mich in Danksagungen, daß er es ihm noch zu rechter Zeit wieder entrissen hat. Dann gehe ich traurig gesenken Hauptes in den fatalen Wartesaal zurück. Rothbart folgt mit dem Schlüssel. Es thut ihm unendlich leid, aber es ist seine heilige Pflicht, mich bis fünf Uhr wieder einzusperren.
Nachdem er gegangen, strecke ich mich auf das alte traute Lederkanapee und zolle meinem harten Schicksal einen kleinen Thränentribut. Bei dieser vergnüglichen Beschäftigung überrascht mich der Schlaf, der Allerweltströster. Mir weiß er leider keinen besseren Trost, als einen langen, verwickelten Traum, in dessen Verlaufe ich berghohe Hindernisse übersteige, um den Fünf-Uhr-Zug zu erreichen, der mir schließlich schadenfroh davondampft. Ich schicke ihm einen Jammerruf nach und erwache – erwache und fahre entsetzt in die Höhe.
[623] Im Zimmer herrscht Nacht, tiefste, schwärzeste Nacht. Rothbart hat mich vergessen. Der Fünf-Uhr-Zug ist über alle Berge.
Vernichtet sinke ich auf mein Lager zurück. Rothbart hat mich vergessen, Rothbart, der Schutzengel, der mich den ganzen Tag behütet hat, Rothbart, auf dessen Treue ich Häuser gebaut hätte. Vielleicht liegt er jetzt daheim im weichen Bett und schnarcht den Schlaf des gerechten Dieners der Gerechtigkeit und denkt nicht einmal im Traume an die Unglückliche, die er bis morgen früh an das knüppelharte Ledersopha in dem schrecklichsten aller Wartesäle gefesselt hat. Bis morgen früh! Entsetzlicher Gedanke! Bis morgen früh! Nein, ich halte es nicht aus. Komme, was da wolle, ich klopfe so lange an die Thür, bis ich mir Hülfe und Befreiung herbeigeklopft habe.
Entschlossen springe ich auf und suche im Finstern nach der Thür. Ich finde nach einander sämmtliche Ledersophas und unzählige Mal den großen Tisch, die Thür jedoch erst, nachdem ich mir am Kaminsims beinahe den Kopf zerschmettert habe. Aber was lange währt, wird endlich gut, sehr gut ! Ein schwacher Lichtschein fällt durch das Schlüsselloch – ein heller Hoffnungsschimmer in mein Herz; denn wenn draußen noch Licht brennt, so ist Rothbart noch nicht fort; wenn er noch nicht fort ist, so fahren noch Züge; wenn noch Züge fahren, so ist es ja nicht unmöglich, daß sich jetzt bei Nacht und Nebel einer von ihnen der kleinen Stadt W. erbarmt, an der man den Tag über so hochnasig vorbeigefahren ist.
Ich klopfe, rüttele, schüttele – ohne jegliches Resultat – schüttele, rüttele, klopfe – und höre ein fernes, leises Kichern, wenn mich mein Ohr nicht täuscht, ein Kichern aus weiblicher Kehle. Es kommt näher und näher. Ganz sachte legt sich von außen etwas auf den Thürgriff und bewegt ihn leise hin und her.
„Wer ist da?“ frage ich und halte den Athem an.
„Ich!“ kichert es durch das Schlüsselloch[WS 1].
Um Vieles klüger fahre ich fort:
„Ach bitte, öffnen Sie mir!“
Das unbekannte Ich dreht wieder ohnmächtig am Thürgriff und kichert dazu.
„Nein, das hilft Ihnen nichts,“ rufe ich. „Seien Sie so freundlich und sehen Sie sich nach dem Polizisten um, der mich hier eingeschlossen hat! Er ist ein Mann mit feuerrothem Backenbart – und, bitte, sagen Sie ihm, er solle auf der Stelle kommen und mir aufschließen!“
Draußen ist das Kichern verstummt. „Polizist – eingeschlossen – O, wie schrecklich!“ murmelt das Ich.
Das fehlte noch! Das Ich glaubt, ich befinde mich hier in polizeilichem Gewahrsam. In fliegenden Worten reinige ich mich durch das Schlüsselloch von dem schwarzen Verdacht. Das Ich kichert zufriedengestellt, verspricht meine Bitte zu erfüllen und geht. Lange, lange stehe ich da und warte. Endlich nähern sich Schritte, schwere, langsame, wohlbekannte. Die Thür öffnet sich. Rothbart steht vor mir.
Statt bei meinem Anblick zurückzufahren, sich mit der Hand vor die Stirn zu schlagen, sich beispielloser Vergeßlichkeit anzuklagen, mich fußfällig um Verzeihung zu bitten, lächelt er unschuldig wie ein Kind und spricht:
„Ah! Sie wünschen Licht, Ma’am? Verzeihen Sie! Ich hatte vergessen – war ein bischen eingenickt.“
Damit streicht er ein Schwefelholz an und nähert sich dem Kronleuchter. Ich bin empört ob solcher Gemüthsruhe, halte aber für’s Erste noch meinen Zorn in Schranken und sage nur sehr ernst:
„Haben Sie die Güte, einmal nach Ihrer Uhr zu sehen!“
„Im Augenblick,“ antwortet er, entzündet mit großem Phlegma drei Gasflammen, trägt das verkohlte Ueberbleibsel des Schwefelhölzchens bei Seite und zieht dann die riesige Taschenuhr hervor: „Fünf Minuten nach drei Uhr, Ma’am.“
„Drei Uhr!“ wiederhole ich entrüstet. „Und Sie sagen das mit einer Gleichgültigkeit, einer Seelenruhe, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre, daß Sie mich den Fünf-Uhr-Zug und Gott weiß wie viele Züge nach diesem haben verschlafen lassen?“
„Verschlafen lassen?“ sagt er und sieht mich verblüfft an.
„Ja, verschlafen lassen!“
„Aber, mein Gott – es ist ja erst drei Uhr.“
„Und der Zug ist gestern Nachmittag um fünf Uhr abgefahren.“
Rothbart sieht mich groß und starr an, als fürchte er, ich habe den Verstand verloren.
„Erlauben Sie, Ma’am,“ sagt er langsam und nachdrücklich, „der Zug fährt heute Nachmittag um fünf Uhr – das heißt: in zwei Stunden.“
„Heute Nachmittag? Um des Himmels willen; es ist ja Nacht, pechfinstere Nacht. Sie werden mir doch nicht weißmachen wollen, daß die Sonne zu dieser Jahreszeit vor sieben Uhr untergeht?“
Bei diesen Worten löst sich die Starrheit in Rothbarts Zügen.
„Also deshalb!“ ruft er, wie von einer Last befreit. „Gott sei Dank! Ich dachte schon – – Wir haben Nebel, Ma’am,“ fährt er lächelnd fort, „einen Nebel, so dick – man könnte ihn mit dem Messer zerschneiden, diesen Erbsensuppen-Nebel.“
Krampfhaft auflachend sinke ich auf mein Lederkanapee. Rothbart lacht mit, und er hat alle Ursache. Der Aermste sah sich im Geiste schon unter der unangenehmen Nothwendigkeit, mich an diesem schrecklichen Sonntage noch nach einer Irrenanstalt transportiren zu müssen; er glaubte nicht anders, als ich habe in der grausigen Einsamkeit des Wartesaals den Verstand verloren.
Nachdem ich mir die Augen getrocknet, gehe ich hinaus und sehe mir den berühmten, unheimlichen Nebel an, den sich London aus Kohlenrauch und allen möglichen Zuthaten zusammenbraut und der mit dem unschuldigen Naturkinde, das bei uns zur Herbstzeit Wiese und Wald zudeckt, nur den Namen gemein hat; denn er wallt nicht in blaßgrauen Schleiern, sondern in schweren, düsteren, schwarzbraunen Gewändern. Lichtet er sich momentan, so zeigt er einen gelben Hintergrund, genau von der Nüance und fast so dick wie die Lieblingssuppe der Kinder Albions, die ihm den schönen Namen Erbsensuppen-Nebel erworben hat.
Ein paar Stunden später sitze ich im Zuge, brause nordwärts und habe das seltsame Schauspiel, aus stockfinsterer Nacht kommend, die Sonne in rothgoldener Pracht untergehen zu sehen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Schüsselloch