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Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen

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Textdaten
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Autor: Max Dauthendey
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Titel: Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen
Untertitel:
aus: Geschichten aus den vier Winden, S. 143–171
Herausgeber:
Auflage: 4. und 5. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Albert Langen
Drucker: Hesse & Becker
Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ngiyaw-eBooks und Commons
Kurzbeschreibung:
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Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen

Ich habe manchmal darüber nachgedacht, wenn ich Frau Claudia nach Jahren in dieser oder jener Weltstadt wiedersah, womit sich ihre Augen vergleichen ließen. Es machte mich oft in ihrer Nähe unruhig, daß ich keinen Maßstab für ihre Augen fand, und wenn ich aus der Ferne, bei Gesprächen oder in Gedanken, das Bild Claudias vor mich hinstellte, stotterte meine Vorstellung, möchte ich sagen, und brachte niemals einen Vergleich zustande, eine Beschreibung jener Frauenaugen.

Sie sind schwarz, aber man kann sie nicht einfach schwarz nennen, denn sie sind nicht schwarz, wenn sie einen treffen. Sie sind von einer Dunkelheit, die ist über Schwarz hinaus, eine abgründigere Farbe, vielleicht müßte man diese Augen Saturnschwarz nennen.

Einmal habe ich von Claudia, welche die Frau eines meiner Freunde ist, und mit der mich nur rein freundschaftliche Beziehungen verbinden, ein wenig ehebrecherisch geträumt.

Es war ein ziemlich harmloser Ehebruchstraum. Da ich gar nicht für Vielweiberei veranlagt bin, erstaunte mich der Traum, und ich mußte am Morgen ein kleines Gedicht darüber schreiben. Das Gedicht schilderte ein paar Tanzschritte, die ich im Traum mit Claudia tanzte. Sie war vom Hals bis zum Fuß in einen weißen Seidenschal schlank eingewickelt, und wir hielten uns zum Tanz nah, und dabei sahen Claudias Augen, jene unbeschreibbaren Augen, unerbittlich in mich hinein. Ich fand auch in jenem Gedicht wieder keinen zutreffenden Vergleich für diesen Blick, sondern nur den ganz blöden romanhaften, daß Claudias Auge ähnlich einer Messerklinge war, die auf schwarzem Samt liegt.

Dieser Vergleich mag mir deshalb gekommen sein, weil Claudia einmal in einer zornigen Aufwallung ein spitzes Messer nach ihrem leichtlebigen Gatten geschleudert hatte. Dieses Messer sauste damals, ich weiß nicht, ob ich sagen soll zum Glück oder zum Unglück, an dem sich behend Duckenden vorbei, blieb aber senkrecht wie ein Stahlpfeil im Türbrett stecken, wo es noch eine lange Weile zitterte.

Nur deshalb verzieh ich mir in dem Gedicht jenen romantischen Vergleich. Aber jetzt brauche ich mich überhaupt nicht mehr abzumühen, mir die Augen Claudias zu erklären. Sie selbst hat es neulich getan.

Es war im Winter, ich hatte mich mit einigen Freunden und Freundinnen, unter denen auch Claudia war, verabredet, mich mit ihnen am Eingang des Zoologischen Gartens zu treffen. Ich kam etwas verspätet aus einer Kunstausstellung und dachte, daß alle Freunde schon gekommen wären. Durch die großen Scheiben des Auto blickte ich unruhig der Fahrt voraus, um schnell zu wissen, ob ich wirklich der letzte sei, denn die Verspätung ärgerte mich. Meine Uhr aber schien falsch zu gehen. Ich war noch zu zeitig da, sogar einer der ersten, denn nur Claudia wartete schon vor dem Eingang. Ich sah sie dort im schwarzen Samtmantel mit schwarzem Skunksschal, schwarzer Samtkappe mit schwarzem Reiher, schwarz auf dem hellen kahlen Asphaltpflaster im kahlen Januarnachmittag stehen und sich nach meinem vorfahrenden Auto umsehen.

Aber es ist nicht richtig, wenn ich sage, daß ich all dieses Schwarz, in dem Frau Claudia jetzt immer mit Vorliebe auf der Straße erschien, zuerst gesehen hätte. Ich sah zuerst nur jene schwarzen Augen, nachdem mich ihr Blick aus dem immer todbleichen Gesicht traf. Auch Claudias Haar ist schwarz, wie ihre Kleidung. Dieses schwarze Haar trennt sich aber vom Gesicht nicht mehr als das Kleid. Es lebt nicht mehr als dieses. Leben haben nur Claudias Augen, ein Leben, das ungeheuerlich weit aus dem Gesicht fortgerückt scheint. Nicht Leben, das einem entgegenkommt. Man könnte sagen, daß man eine aufgezeichnete Landkarte vom Leben, Weltteile von einem Leben, in den schwarzen Augen schaute, wenn der Blick jener Frau einen traf.

Nach einer Weile kamen die andern Freunde, und wir traten in den leeren Zoologischen Garten ein, wo die blätterlosen Bäume öde gegen den mattgrauen Winterhimmel standen und, ebenso wie die Augen Claudias, nur Lebenslinien, hoch von der Erde weggerückt, Haltung und Bestimmung zeigten, aber keine blätterrauschende Sommerfreude.

„Wo wollen wir zuerst hin?“ fragte einer den andern.

Jemand schlug vor, zu den Raubtieren zu gehen. Ein anderer wollte zu den Affen. Ein dritter zu den Papageien. Nur Claudia sagte immer dazwischen:

„Aber zu den Eulen müssen wir auch gehen! Ihr wißt nicht, wie schön die Eulen sind. Ihr habt ihre Augen sicher nie betrachtet. Ich sage euch, es sind wunderschöne Vögel. Ich gehe nie aus dem Zoologischen Garten fort, ohne bei den Eulen gewesen zu sein.“

Als Claudia so eifrig die Eulen bevorzugte, ging sie in der Mitte der kleinen Gesellschaft, von den Damen und Herren umgeben, und sie blickte nur ab und zu nach links und rechts, und sie lächelte. Und ich mußte an den Rattenfänger von Hameln denken, der an der Spitze einer Kinderschar schreitet und diese mit seinen eindringlichen gleichmäßigen Flötenlauten in einen finsteren Berg lockt, der sich bald hinter den Ahnungslosen schließen wird.

So gingen diese schwarzen Augen, die ich bis zu jener Stunde immer noch nicht beschreiben konnte, allen anderen Augen voran, von denen keine mit so schicksalstiefen Blicken, unheimlichen Flötenlauten ähnlich, anziehen konnten wie Claudias Augen. Mir schien, wir andern wären plötzlich alle schwarz wie Claudia gekleidet, als sie uns immer wieder von den düsteren Eulen sprach. Eulen waren ihr die liebsten Tiere des ganzen Gartens und die schönsten Vögel der Welt. Und ich konnte mich bald nicht mehr des Wunsches erwehren, zu keinen anderen Tieren zu gehen als zu den Eulen. So ging es schließlich allen, die um Claudia waren. Die Eulen wurden für jeden der Mittelpunkt des Gartens. Und während die Stimme der schwarzäugigen Frau die Eulen pries, wie ich es noch nie von jemandem gehört hatte, und während einer nach dem andern seine eigenen Wünsche fallen ließ, sah ich auf dem Fünfminutenweg hin zu den Eulenkäfigen Claudias Leben, das sich rasend vor mir abspielte. Man sagt, daß einem von einem Turm oder Berg Stürzenden innerhalb der Sturzsekunden das Leben in blitzartigen Bildern vor den Augen vorüberrase. So geschah es mir mit Claudias Leben auf dem Weg zu den Eulenkäfigen.

Vorher hatte ich es nie im Zusammenhang gesehen. Nie hatte sie selbst mir viel erzählt. Nur Andeutungen, nur Sätze und nur kurze Geschehnisse, erzählt von gemeinsamen Freunden über sie, lagen zerstreut in mir.

Nun aber schossen mir alle diese Eindrücke, wie von einem Magneten angezogen, auf dem Weg zu den Eulen zu einem so tragischen Lebensbilde zusammen, daß mich jeder Schritt marterte, den ich neben Claudia weitergehen mußte. Und doch lockte mich die Erhabenheit eines verfinsterten Menschenlebens, so wie schmerzliche Flötenlaute bestricken und uns fortführen können in ein Dickicht, durch Stacheln und Dornen.

Claudia war einst eine starke, mutige, das Leben herausfordernde, tapfere, junge Studentin gewesen. Der Mann, den sie heute noch liebt, trotzdem er ihr Grauen einflößt, trotzdem er täglich Mühlsteine an ihre Seele hängt, war damals ein hoher schlanker Student. Claudia hatte ihm den Namen Dagon gegeben; Dagon, der biamesische Gott des Ungeheuerlichen, der Gott des Verschlingens ohne Ende, der Gott der Lebensunsicherheit, zu dem alle Sterblichen beten, und der ihnen nichts für ihr Gebet gibt, keine andere Gewißheit als den Tod. Dagon, der Gott des grauenhaften Nichts, der Schicksalsrachen, der die Menschheit zermalmt, dem niemand Widerstand leisten kann, der Gott, für den die Blumen welken, die Vögel tot aus dem Himmel fallen, vor dem aus Furcht die Erde zu zwei Dritteilen in das bittere Angstwasser ihrer Meere gehüllt steht, während nur ein Drittel der Erde Dagon die Stirnen der Berge als Widerstand hinstellt.

Claudia hatte diesen Namen wie in einer Vorahnung ihres Schicksals dem jungen Studenten gegeben, damals noch nicht wissend, wie tief erkennend sie dabei war. Denn wie stark der Gott allmächtiger Willkür in dem Geliebten verkörpert war, das erfuhr sie erst im Laufe der Zeit.

Es waren zuerst nur Kleinigkeiten gewesen, die Claudia den Namen Dagon und damit die Erscheinung des gruseligen Gottes vor die Augen führte, wenn sie den jungen Mann und zukünftigen Lebensgefährten beobachtete. Es belustigte sie, den Geliebten auf Widersprüchen zu ertappen, aus denen er sich lächelnd und kühl überlegend oder mit einem gewandten Geistessprung ins Blaue ihren starken schwarzen Augen entrückte. Damals merkte sie zuerst, daß jener Mann in noch einer ihr fremden Dimension lebte, die sie nicht an anderen Menschen kannte, die Dimension des Fabelhaften, die Dimension, in der die Wirklichkeit und der Schein, die Wahrheit und die Lüge nebelhaft ineinander gleiten. Eine Welt war in ihm, wo Wirklichkeit auf dem Kopf steht und Unwirklichkeit wird, ähnlich wie Häuser am Ufer eines Flusses im Spiegelglanz des Wassers mit dem Dach nach unten stehen und scheinbar auf einer anderen Weltseite leben, einer Welt, die tief scheinen will, unergründlich aussehen will, die aber nichts ist als ein auf den Kopf gestelltes Zerrbild der Wirklichkeit.

So spiegelte das Gehirn jenes Mannes, mit scheinbaren Unergründlichkeiten verblüffend, die Ufer des Lebens wieder, indem es das Feste beweglich machte, es wahnwitzig verzerrte, es für unergründlich ausgab.

Ehe Claudia sich mit dem Studenten verlobte, war ein anderer Mann ihrem schwarzen Blick verfallen, ein junger Adeliger, der sich von ihrer Anziehungskraft nicht losmachen konnte, trotzdem er von Claudia nichts zu hoffen hatte. Sie trug damals ihr schwarzes Haar kurzlockig geschnitten und, nach Knabenart, in der Mitte gescheitelt. Sie rauchte auch, als es noch nicht allgemein war, daß Frauen Zigaretten rauchten. Sie wäre vielleicht auch am liebsten in Herrenkleidung ausgegangen. Ihr immer elfenbeinblasses Gesicht zeigte rote frische trotzige Lippen, und alles Verwegene, Herausfordernde, menschlich Kühne erregte sie, da ihr eigener junger Körper der Welt knabenhaft verwegen und widerspruchsvoll gegenübertrat.

Ein Freund jenes jungen Adeligen suchte sie eines Tages in ihrem Studentenzimmer auf und bat sie, sich doch zu entscheiden, ob sie nicht die Frau seines Freundes werden wollte. Als sie „nein“ sagte, schlug der Abgesandte, der ein ernster und zielbewußter Mensch war, in ehrlichem Zorn mit der Hand auf den Tisch und fragte Claudia, was sie veranlasse, die Hand eines ehrbaren jungen Mannes mit einem Nein abzuweisen.

Die Gefragte sagte ganz einfach, daß sie bereits gewählt habe, und nannte den Namen Dagons.

„Dann prophezeie ich Ihnen, daß sie niemals glücklich werden,“ entfuhr es dem heftig Erregten, der seinen Freund verdrängt sah von einem, der ihm Widerwillen einflößte. „Aber sagen Sie mir, ehe ich gehe,“ fügte er hinzu, „was haben Sie gegen meinen Freund einzuwenden?“

„Daß er adelig ist,“ antwortete ihm frei und stolz die junge Studentin, „ist der Grund, der immer bleiben würde, wenn ich nicht bereits einen andern vor ihm gewählt hätte. Ich will nicht, daß man in seiner Familie auf mich als auf eine Bürgerliche herabschaut.“

Claudia prahlte niemals mit ihren Anbetern. Nur einmal, als ich sie tief unglücklich antraf und ganz natürlich fragte: „Wie sind Sie denn mit diesem Mann zusammengekommen, der Ihnen jetzt so viel Qualen bereitet?“, da erzählte sie diese kleine Verlobungsperiode, und sie schloß: „Gerade weil mich der Freund jenes Adeligen vor Dagon warnte und mir Unheil prophezeite, gerade das war es, was mich herausforderte, Dagon erst recht zu wählen. Es machte mir Lust, mit meinem Geliebten Seele gegen Seele zu ringen. Das fabelhaft Verwandlungsfähige seiner Seele reizte die eisernen, starren und gefestigten Lebensbegriffe in mir. Mir war, als könnte Dagon alles Feste in Wolken auflösen. Mir war, als sähe ich einem Zauberer zu, wenn er mich leise und lächelnd schon in der ersten Zeit unseres Bekanntwerdens belügen konnte. Dann drang ich mit meinen Augen in ihn ein, und mir war, als müßte ich das Lügen aus ihm ausbrennen. Er lächelte wieder und log hilflos weiter und tat, als hätte ich wirklich das leichte Lügen an der feinsten Wurzel in ihm abgetötet. Aber ich ahnte ja nicht, daß er immer wieder neue Fäden der Lüge hinter sich herziehen konnte, wie die Spinne ihre Fäden, daran sie tanzt, daran sie sich über Abgründe schwingt. Während ich aber glaubte, in Dagon die Lüge abzutöten, wurde ich langsam von ihm abgetötet, entkräftet. Denn Unheil ist sein Schaffen, und nur Unheil war er für mein ganzes Leben.“

Und Claudia erzählte weiter:

„Am ersten Weihnachtsfest, das wir zusammen als Verlobte feiern wollten, reiste ich zum erstenmal in meinem Leben zum Fest nicht nach Hause, trotz der Bitten meiner Eltern und Geschwister und obwohl ich wußte, daß mein Vater alt und krank war. Aber am Nachmittag des Weihnachtsabends, auf den ich mich so sehr gefreut hatte, bekam ich ein Telegramm, das mir den Tod meines Vaters anzeigte. Ich saß eine Stunde später im Eisenbahnzug und durfte den Abend weder bei dem geliebten Mann, noch in meiner geliebten Familie verbringen, sondern war in einer Hölle von Einsamkeit, zwischen zwei Zielen hin und her schwankend, zwischen dem Ziel des Lebens und dem Ziel des Todes. Leidend, weinend und erschüttert saß ich in der weihevollen Nacht als einziger Reisender im leeren Zug, von Selbstvorwürfen gepeinigt, weil ich meinem toten Vater den letzten Wunsch nicht erfüllt hatte, ihn auf seinem Krankenbett am Weihnachtsabend zu besuchen.

Ich hatte nun an diesem Abend nichts, weder den Geliebten, noch das Heim. Ich hatte die Leere. Das war der Anfang des Verschlingens, das von Dagon ausgeht. Aber ich hatte mir Dagon gewählt, das mußte ich mir immer wieder sagen. Ich hätte auf dem Landgut des Adeligen vielleicht ein ruhiges, seßhaftes Leben führen können, gepflegt von einem mich aufrichtig Liebenden. Ich hatte es nicht gewollt. Mich hat der Kampf mit dem Unklaren, Ungewissen gelockt. Ich wußte es damals nicht: es ist der Kampf mit dem Nichts gewesen.“

So erzählte mir Claudia ohne Pathos, ohne große Geste, mit schwarzblanken Augen, die glänzend zu sein schienen von den Abgründen ihres Unglückes. Es war auch, als triumphiere in ihrem Blick das Bewußtsein des Unentrinnbaren, als käme sich jene Frau selbst erstaunlich vor und als ließe sie ihr Erstaunen über sich aus ihrer Augenschwärze strahlen. Deshalb klagte sie eigentlich nicht, wie andere klagen, wenn sie Grauenhaftes, Martervolles erleben. Sie lebt in einer Unglücksekstase, und mir scheint, ihre Augen werden immer glänzender, je unglücklicher sie von Jahr zu Jahr wird.

Nur einmal in jenem Winter erschrak ich. Da verflüchtigte sich das Feuer ihres Willens zum Unglück. Ihre Augen sahen so verklärt aus, als ginge sie nur noch mit den Zehenspitzen wie eine Traumwandlerin auf den Dächern der Welt.

Als Claudia und Dagon ein Jahr verheiratet waren und sie sich schwanger werden fühlte, waren sie beide nach Kanada ausgewandert. Sie wußte nicht mehr, wer zuerst den Plan gehegt hatte. Sicher blieb nur, daß es ihr Unglück war, daß er ausgeführt wurde. Sie, die schon damals fühlte, daß sie in dem Mann so wenig Sicherheit hatte, als wenn sie sich an seinen Schatten anklammern würde, hatte begeistert den Weg ins freiheitliche Amerika angetreten, schwärmend für alles Großzügige, Unbegrenzte, nie Dagewesene. Dort in dem jugendlichen Land Amerika, wo die Frau den Mann regiert, hoffte Claudia vielleicht, Dagon allein für sich zu bekommen und seine Augen, die alle Frauen wie Irrlichter umgleiten konnten, zum festen Blick zu zwingen, der sich dann von ihrem Herzen nicht mehr abwenden sollte. Denn Claudia wollte Dagons eidechsenhaften Seelenbewegungen die schwerthafte Stärke ihrer Augen geben.

Aber was half es ihr. Alle ihre Kraft verpuffte nur wie nasses Pulver, da Dagons Schicksal feindlich gegen ihr Schicksal gerichtet war.

Kaum waren beide in Amerika gelandet, so erhielten sie die Nachricht, daß Dagon seinen Vater verloren habe und wegen wichtiger Erbschaftsangelegenheiten nach Deutschland zurückkehren müsse.

Claudia konnte nicht umkehren; sie hatte eben ihr erstes Kind geboren und lag zu Bett. Und Dagon entglitt ihr, wie sie es immer erwartet hatte. Der Ozean trennte sie bald. Sie, die keine Stunde ohne ihn sein wollte, war gezwungen, ihm von einem Weltteil zum andern nachzuklagen. Und als Dagon später Claudia nachkommen ließ und sie in Europa erwartete, hatten sie nicht den Ozean hinter sich gelassen, als sie sich wieder die Hände reichten. Zwischen ihrer beider Augen blieb der erste Ozean der Trennung, und viele Ozeane folgten, die sich einer an den andern reihten. Denn Dagon hatte Claudia von da ab mit der und jener Frau betrogen, mit der und jener Freundin. Wenn sie auch immer Geständnisse aus ihm herauslockte, das Urversprechen einer Treue, einer männlichen Festigkeit, auf der ihre schwarzen Augen ruhen wollten, konnte sie Dagon nie abringen.

Claudia warf sich dann auf die Arbeit. Sie hatte studiert, hatte ihr Examen gemacht. Sie wurde Ärztin und arbeitete an Dagons Seite unentwegt und damals noch ungelähmt. Sie tat ihre Arbeit gern, um ihren Mann zu ihrem Schuldner zu machen. Denn Dagon hatte kein Vermögen geerbt, wie sie beide es erwartet hatten. Dagons Geschwister hatten es vermocht, den sterbenden Vater zu veranlassen, seinen leichtlebigen Sohn zu enterben, ihn nur auf Pflichtteil zu setzen, und dieses Geld sollte Claudias Kindern und nicht Dagon ausgezahlt werden.

Sie verdiente nun neben ihrem Mann, denn sie hatten beide hohe Lebensansprüche. Die Luft um Dagon wurde immer trüber. Er blieb halbe Tage fort, ohne daß Claudia wußte, wo er war. Sie erfuhr immer wieder von neuen kleinen Leidenschaften zu Frauen aller Kreise, die Dagon fesselten und die er ausleben mußte.

Er selbst spaßte nur darüber, als wären seine Liebeserlebnisse nicht mehr als kleine Warzen an der Hand, die kommen und gehen und dem Wohlergehen nicht weiter schädlich sind.

Bei jedem neuen Erlebnis ihres Mannes hoffte Claudia, es würde das letzte sein. In jener Zeit war es einmal, daß ihr die Geduld plötzlich riß und sie ein Messer nach Dagon schleuderte, das in der Tür stecken blieb. Und endlich mußte sie erkennen, daß ihres Mannes Seele, wenn sie nach ihr griff, immer ihrer Hand entglitt, so wie man den feinen Wüstensand nicht in der Hand behalten kann; denn wenn man die Faust zudrückt, rieselt dieser ewig bewegliche und ewig erhitzte Sand durch die Fingerritzen, und wenn man die Faust öffnet, hat man nichts in der Hand.

So war das Herz Dagons in der Hand Claudias. Wenn sie es noch eben festhielt, – es war nicht mehr da, wenn sie die Hand öffnete und nachsah.

Darüber wurde ihr eigenes Herz dürr. Es wurde von den Leiden und Schmerzen und von der Leidenschaft versüßt wie getrocknete Datteln, die zuckriges Fleisch um einen steinharten Kern tragen. Den Stein in Claudias Herzen löste nichts auf. Der Stein saß im süßen Fleisch unbeweglich, und das süße Fleisch welkte und dörrte.

Da wurde eines Tages Claudia von Verzweiflung gepackt. Ich war damals nicht in ihrer Nähe und hörte nur aus Briefen meiner Freunde, daß jene Frau ihrem Mann Gleiches mit Gleichem vergolten und sich einen Freund genommen hatte, einen jungen Kaukasier, mit dem sie fortgereist war, um ihre gereizten Gefühle zu beschwichtigen. Später hörte ich, daß sie diesen Freund wieder verlassen, ihr und Dagons Kind zu sich genommen habe und in verschiedenen Weltteilen allein herumreise. Sie hatte nach dem Tode ihrer Mutter ein Vermögen geerbt, und da ihr die Arbeit keine Freude mehr machte, lebte sie in dem Genuß des Müßiggangs. Die Liebeslust und die Arbeitslust waren in ihr abgetötet. Sie lebte dem Kinde, das sie fernhalten wollte von dem Unheilschatten jenes Mannes, dem sie glaubte entronnen zu sein.

Er aber lebte wie ein Junggeselle, bald hier, bald dort, in den verschiedensten Städten, vertiefte sich in Wissenschaften, wie er sich in Frauen vertiefte, hastig, blendend und geblendet.

Dann plötzlich eines Tages, als ich in jene Großstadt kam, wo Claudia und Dagon vorher gewohnt hatten, hörte ich, daß beide wieder zusammenlebten. Ich besuchte sie. Da hingen im Korridor große welke Kränze mit langen breiten Seidenbändern. Dagon glaubte plötzlich eine musikalische Begabung bei sich entdeckt zu haben und hatte öffentlich eigene Kompositionen gespielt und seine ersten Konzerte gegeben.

Seltsamerweise hatten alle Wohnungen, welche jene beiden Menschen bewohnten, den gleichen hellen und lichten Reiz eines glücklichen Heims. Niemand konnte in diesen weiten, behaglichen und lässig vornehm eingerichteten Räumen vermuten, daß hier zwei hausten, die sich marterten. Beider Zartfühligkeit traf sich hier und vereinigte sich im Ausdruck von Möbeln, Spiegel und Bildern. Die innere Zartfühligkeit Claudias gab den Räumen vornehme Ruhe, und die äußere Zartfühligkeit Dagons gab den Räumen jene unnachahmbare lässige Vornehmheit, die den Besucher glücklich einlullte. Erlesene Bücher, erlesene Kunstwerke und Musikinstrumente täuschten jeden, der nicht eingeweiht war in die Herzensschrecknisse, die sich hier zwischen zwei Lebenskameraden abspielten.

Claudia leitete ihr Haus lautlos, erzog ihr Kind glücklich und wußte sich immer ihren Freunden in ihrem Äußeren reizvoll modisch in Kleid, Haartracht und Schmuck zu zeigen.

Nie fehlen Blumen auf ihrem Teetisch, nie geht bürgerlich langweilige Luft durch ihre Zimmer. Es ist Claudia ein Genuß, wenigstens äußerlich glücklich zu wirken – auf die nicht Eingeweihten, die nicht in ihren schwarzen Augen zu lesen verstehen.

Lange Zeit erschien sie immer als glückliche Gattin, die, leicht die Achsel zuckend, die Lebensweise ihres Mannes hinzunehmen schien. Und viele mögen verblüfft gewesen sein, als Claudia plötzlich mit dem Kaukasier verschwand. Aber nicht einer hatte es ihr beim näheren Hinsehen verdenken können.

Und nun zurückgekehrt, scheint sie die Rolle der Glücklichen nicht mehr harmlos spielen zu können. Dazu ist ihr Gesicht doch zu blaß geworden, und ihre Züge sind wachsmaskenartig erstarrt. Ihre Augen funkeln nicht mehr lebenstrotzig. Der Trotz sieht versteinert aus und steckt als Kern in ihrem Herzen.

Am Weihnachtsabend, als ich bei Claudia und Dagon mit einigen Gästen eingeladen war und jene Frau uns alle unter den brennenden Weihnachtsbäumen ihres Salons beschenkte, da schien es für Sekunden, als könnte doch vielleicht das Wachs ihres Gesichtes nochmals weich werden und schmelzen. Dann aber, als es während des Abendessens klingelte und unter den Geschenken, die von Bekannten geschickt wurden, auch Aufmerksamkeiten von einigen Damen waren, deren Gunst Dagon in letzter Zeit errungen hatte, da sah ich, wie Claudia zu frieren begann. Trotzdem die Zimmer von der Wärmeleitung und den Weihnachtskerzen heiß waren, bat sie, daß man die Fenster schließen möchte, das eine der eingeladenen Damen geöffnet hatte. Die Gepeinigte fror von innen heraus. Ich glaube, sie muß ihr Herz in diesem Augenblick so schmerzend gefühlt haben, wie man in der Winternacht das Eisen einer Türklinke brennend kalt fühlt, wenn man die Hand darauf legt.

Dagon hat schon längst keine Geheimnisse mehr vor seiner Frau. Das letzte Schamgefühl ist zwischen ihnen gefallen. Im Gegenteil, er will, daß Claudia nichts fühlen soll und nichts mit ihm teilen soll als die Lust, die ihm seine Abenteuer geben. Sie soll die Lust an dem Verbrechen, das er an ihrer Liebe begeht, sich selbst verleugnend mit ihm genießen.

Wieder haben jetzt beide eine Wohnung, in der kein Hauch von Unglück zu spüren ist. Die hellen weißen und himmelblauen Gemächer, mit gelbseiden verschleierten elektrischen Lampen und voll mit Bildern und Büchern und von zierlichen asiatischen Nippes belebt, sind wie eine irisierende Haut über einem Pfuhl von pechschwarzem Wasser.

Aber die einzige tiefe Empfindung, die man in diesen hellen und gefälligen Räumen erlebt, kommt nicht von den Büchern in den Schränken und nicht von den Kunstwerken aus, sie geht aus von den unglücksglänzenden schwarzen Augen Claudias; diese Augen, denen das Weinen schon längst kein Trost und keine Erlösung mehr ist, glänzen vor Schmerzen.

Bald nach dem Weihnachtsfest sah ich Claudia bei einem Besuch wieder. Sie stand an ihrem Teetisch und trug über dem schwarzen Seidenrock eine goldgelbe Seidenjacke, die war von einem etwas dunkleren Goldgelb als die Schleier ihrer Lampen. Sie schien Ruhe und Wärme auszuströmen, und ich fragte mich erstaunt: was geht in ihr vor? Ihre Augen waren entkräftet und schienen außerhalb des Zimmers traumwandelnd herumzugehen. Ich erfuhr dann, daß sie krank sei, sie hustete, sie hatte Fieber. Es war eine rein äußerliche Krankheit, und Claudia trug diese Krankheit wie ein Weihnachtsgeschenk des Himmels mit sich. Sie, die einstmals so stark war, daß sie nicht für den Tod geboren schien, freute sich, daß ihr Fieber täglich stieg, freute sich, daß ihre Augen erlöschen wollten. Und wenn man sagte, daß sie sich pflegen müßte, lächelte sie nur. Sie erwartete das Sterben und freute sich.

Der Tod kam nicht. Die Schwäche ging vorüber. „Weshalb?“ fragte sie erschrocken.

Sie lebt jetzt immer noch im selben Hause mit dem, mit dem sie einst gerungen und gekämpft hat. Sie lebt kampflos jetzt. Beide sehen sich täglich, aber sie sprechen sich wenig. Claudia weiß nie, wohin Dagon geht, wenn er abends seinen Frack anzieht. Sie will es auch gar nicht wissen.

Und er fragt nicht, wenn Claudia ins Theater fährt, wohin sie geht. Und das ist vielleicht noch schmerzlicher für sie zu ertragen, daß er sie gehen läßt, wohin sie will.

Das Kind, ihre Tochter, ist bald erwachsen und sieht und versteht und hört alles. Und das ist das Allerschmerzlichste für Claudia.

Der selbstherrliche Mann schont die beiden Frauen nicht, nicht die Tochter und nicht die Mutter. Er lächelt über sie hinweg, plaudert zu den beiden von seinen Erfolgen bei den Frauen, will, daß sie mit ihm über die Scherze, die er mit dem Liebesleben und seinem eigenen Herzen treibt, lachen sollen.

Und Dagon lächelt sein allesverschlingendes Lächeln, wenn die beiden Frauen ihm ausweichen. Wenn die beiden Frauen anklagen, lächelt er und verschlingt ihre Anklagen. Wenn die beiden Frauen ihn morden wollen, lächelt er und verschlingt ihre Mordgedanken.

Er ist liebenswürdig, spaßhaft; er ist nie mürrisch. Er ist nur launenhaft verschlossen, wo er sich fürchtet zu sprechen, weil er sich bei aller lächelnder Offenheit nie ganz offen gibt.

Seine lächelnde Offenheit ist ein Abgrund, in den er die Offenheit der andern hineinlockt. Und er sieht lächelnd zu, wie Menschen in diesen stürzen, die er angelockt hat. Er lächelt und gleitet über die Angstblicke, die er sehen müßte, hinweg.

Welches ist das Schicksal, das ihn ereilen wird? Wo ist die Grenze, die seiner Unendlichkeit im Grausamsein gesetzt ist?

Seht, dieses sind die Blicke, die als einziges Leben aus den Augen Claudias starren. Will sie sein Ende erleben, und ist sie deshalb noch nicht gestorben? fragte ich mich. Das ungeheuerliche Ende, die ungeheuerliche Todesstunde, die in der Brust Dagons das lächelnde Herz voll Ungeheuerlichkeiten töten wird, die ihm und sein allesverschlingendes Lächeln aus der Welt schaffen wird, – wartet Claudia darauf? –

Als wir zu den Eulenkäfigen kamen, trug ich diese letzte Frage in mir. Da saßen wie seltsame weiße und graue Federgruppen die Eulen, diese weichen, lautlosen Nachtgeschöpfe, auf den Ästen abgestorbener Bäume hinter den Gitterstäben. Einige konnten die Köpfe ganz rund um den Nacken drehen. Andere spitzten die katzenartigen Ohren. Aber alle saßen da wie ausgestopfte Federbälge. Die einen hatten wunderbar silberweißes Gefieder, und es wirkte jeder weiße Vogel wie eine einzige ungeheuerliche Riesenschneeflocke. Andere graue Eulen waren wie ein dicker Ballen Spinnweben. Und wenn sie nicht manchmal die Köpfe rundum gedreht hätten, so daß das Gesicht nicht auf der Brust, sondern plötzlich auf den Rücken stand, so hätte man in ihnen kein Leben vermutet.

So sahen die Eulen aus, als wir von weitem an die Käfige kamen. Aber als wir nähertraten, da verschwanden die Federkörper. Da standen nur in der Luft über den abgestorbenen Baumästen paarweise ungeheuerliche schwarze Augen. Augen, die so groß und rund in ihrer Schwärze starrten, als müßten sie alles und nichts sehen; als könnten sie die Tiefe des ganzen Weltalls umfassen, alle Schmerzen und alle Trostlosigkeiten der Abgründe des Lebens.

Während sich alle meine Freunde beim Näherkommen über die Federn, die Haltung, die Kopfwendungen der Eulen ereifert hatten, wurden sie jetzt stumm. Und nur Claudia, die vorher stumm gewesen war, als wir die Eulen zuerst erblickten, wurde jetzt vor den Eulenaugen laut und begeistert.

„Haben diese Vögel nicht die schönsten Augen der Welt? Da sprechen die Menschen immer von glotzenden Eulenaugen, und ich finde, es sind die feierlichsten, ausdrucksvollsten, geheimnisreichsten und schicksalsschwersten Blicke, mit denen nur je ein lebendes Wesen auf die Welt herabsehen kann. Solche Augen möchte ich haben,“ setzte Claudia hinzu. „Wie ich diese Tiere um ihre Augen beneide! Auf was warten sie nur, diese Eulenaugen?“ –

Als wir uns später unter dem schwerhölzernen, blutroten chinesischen Tor am Ausgang des Zoologischen Gartens trennten und der Abend schon über den Straßenschachten dunkelnd lag, die elektrischen Lampen in den Straßenfluchten aufleuchteten, ging ich einsam heim. Der Himmel wurde immer nachtdunkler, und als ich in den nachtschwarzen Äther sah, der noch sternlos über den Dächern der Häuser stand, erkannte ich in dem schwarzen Himmelsabgrund, den Eulenaugen und Claudias Augen eine Einheit. In der Nacht und in jenen Augen war kein Blick mehr, den man hätte fühlen können. Sie schienen alles innere Leben hergegeben zu haben. Und nur ein Wille war in ihrer Finsternis. Der: mit stummer Macht den Untergang der Lebenden, auf die sie herabsahen, zu erwarten.