Auerswald und Lichnowsky/Einleitung
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Soweit in so vielen Beziehungen das Jahr 1848 hinter uns zu liegen und fast in den Nebel der Sage zu verschwimmen scheint, so sind doch gewiß die Vorfälle des 18. Sept., welche sich an die Namen Auerswald und Lichnowsky knüpfen, noch in Jedermanns lebhaftem Gedächtnisse.
Ein allgemeiner Schrei des Entsetzens und tiefster sittlicher Empörung gieng damals durch alle Gauen des Vaterlandes und weit über dessen Grenzen hinaus. Ja es gab wohlgesinnte Menschen, welche die grauenhafte Thatsache gar nicht für möglich hielten. Der Verfasser dieser Schrift kam am 19. Sept. 1848 Abends in der Göthe-Schiller-Stadt an und vernahm von einem eben aus Frankfurt angelangten Postbeamten die blutige Kunde; allein er gab sie in einem auserlesenen Kreise, worin es ihm vergönnt war, den Abend zuzubringen, ohne allen Erfolg preis; man lächelte ihn ungläubig an und sprach in sorgloser Anmuth weiter über Göthische Frauenbilder, Auerbachische Dorfgeschichten und Lisztische Entwürfe.
Freilich dachte der Verfasser damals und einige Wochen später, als er sich in Frankfurt die Stätte des gräßlichen Ereignisses zeigen ließ, selbst nicht entfernt daran, daß er vier Jahre später dazu berufen werden könnte, [2] über Theilnehmer an jenem Verbrechen seine Stimme als Rechtsgelehrter abzugeben. Es geschah dies aber, als im Sommer v. J. das Appellationsgericht der freien Stadt Frankfurt a. M. die Untersuchungsakten in dieser Sache an das Tübinger Spruchkollegium behufs der Abfassung des Urtheils übersandte und die Berichterstattung dem Verfasser übertragen wurde.
Obwohl die Arbeit bei dem großen Umfang der Akten ebenso mühselig als zeitraubend war, so unterzog er sich derselben doch mit Vergnügen, weil sie einen Fall betraf, der nicht nur die Erörterung der wichtigsten rechtlichen Fragen (besonders in Beziehung auf Urheberschaft, Theilnahme, Komplott etc. etc.) im Keime enthielt, sondern auch über den Kreis des specifisch-rechtlichen Interesses hinaus die merkwürdigsten Einblicke in eine Reihe von andern die allgemein menschliche Theilnahme in Anspruch nehmenden Verhältnissen versprach.
Die Erwartung wurde denn auch keineswegs enttäuscht, eher übertroffen. Und eben dieß wurde die Veranlassung zu dem Entschlusse, eine Bearbeitung des Falls zu versuchen, welche nicht nur dem Juristen, sondern jedem Gebildeten überhaupt von Interesse sein könnte, wozu denn auch das h. Appellationsgericht zu Frankfurt seine Genehmigung mit dankenswerthester Zuvorkommenheit ertheilt hat.
Was zuvörderst die Rechtsgelehrten (Theoretiker und Praktiker) betrifft, so braucht für sie das besondere Interesse eines so vielseitig wichtigen, die schwierigsten Probleme der Wissenschaft beleuchtenden Kriminalfalls nicht erst näher auseinander gesetzt zu werden. Dagegen scheint es am Platz, auf einen besondern Umstand aufmerksam zu machen.
[3] Es sind bis jetzt zwei literarische Bearbeitungen des fraglichen Falls vorhanden, die jedoch die vorliegende keineswegs überflüssig, sondern eher zum dringenden Bedürfnisse zu machen geeignet sind, – auch ganz abgesehen davon, daß sie jedenfalls von den hier auf der Angeklagtenbank vorzuführenden merkwürdigen Persönlichkeiten keine Notiz nehmen und keine Notiz nehmen konnten.
Die eine davon ist ein einfacher Abdruck des bei der Verhandlung vor dem Schwurgerichtshof in Hanau im April 1850 von dem Präsidenten Zuschlag gegebenen Resumés (Gerichtssaal, 1851, Novemb. Beil. Heft). Gewiß wird jeder, der die Untersuchungsakten durchzusehen Gelegenheit hatte, den Fleiß, die Gründlichkeit, die Umsicht und die Gewandtheit hochzuschätzen wissen, womit dieses Resumé ausgearbeitet ist. So viel aber auch der Kundige darin zwischen den Zeilen lesen kann, so wenig kann es doch seinem ganzen Zwecke nach genügen, eine vollständige Anschauung des gesammten Vorfalls zu gewähren, und aus den mitgetheilten Fragen, wie sie an die Geschworenen zu Hanau gestellt wurden, wird selbst der Jurist oft nur mit Mühe die rechtliche Ansicht des Schwurgerichtshofs selbst sich zu entziffern im Stande sein.
Die andre findet sich in den: Bemerkenswerthen Entscheidungen der Kriminalkammer des Ober-Appellationsgerichts zu Kassel, herausgegeben von Heuser, Bd. Vl. H. 1, unter dem Titel: „Die Ermordung der Reichstagsabgeordneten General v. Auerswald und Fürsten Lichnowsky zu Frankfurt a. M., zugleich als Beitrag zu der strafrechtlichen Lehre vom Komplott, nach den Akten beider Instanzen, sowie nach andern Quellen bearbeitet.“ – Dieselbe macht dem Titel nach, wie man sieht, den Anspruch [4] für eine erschöpfende, zum Mindesten befriedigende, faktische und rechtliche Darstellung des Falls, ja sogar noch für etwas mehr zu gelten. Es werden jedoch wohl auch mäßige Erwartungen durch das Geleistete kaum ganz befriedigt werden. Abgesehen nämlich von dem „Beitrag zur Lehre vom Komplott,“ der nur in dem Vortrage des Referenten beim Ober-Appellationsgerichte zu Kassel zu finden ist und hier – was auch gar nicht zu fordern war – auf keinerlei Selbständigkeit irgend einen Anspruch macht, – ist die Darstellung des thatsächlichen Hergangs weder vollständig, noch genau, und dazu sehr ungleich, indem Nebensachen weit ausgeführt, Hauptsachen dagegen mit zwei Worten abgethan oder ganz übergangen werden. Die Darstellung folgt meist wörtlich dem Hauptberichte des peinlichen Verhöramts in Frankfurt, welcher, seinem Zwecke gemäß, schnell gefertigt wurde und keineswegs überall sein Material kritisch gesichtet hat. Namentlich ist hinsichtlich der Angeschuldigten Henriette Zobel die fragliche Darstellung nicht blos oberflächlich, sondern sogar leichtfertig und willkührlich. Den Hauptinhalt des Schriftchens bildet ein aus den Correspondenzen der Frankf. Ob.-Postamtszeitung, der deutschen und der Hanauer Zeitung zusammengesetzter Bericht über die Verhandlungen vor dem Schwurgerichte zu Hanau, welcher zwar manche interessante Einzelheiten gibt, übrigens schon der Art seiner Entstehung gemäß durchaus fragmentarisch und eben im Kern der Sache lückenhaft ist. Von wirklichem Werth ist daher im Grunde nur die Mittheilung des Verweisungserkenntnisses, der an die Geschwornen gestellten Fragen, des auf den Wahrspruch gebauten Erkenntnisses, sowie des Erkenntnisses in der Kassationsinstanz mit seinen Entscheidungsgründen.
[5] Wäre aber auch der letztgedachten Arbeit mehr Gehalt nachzurühmen, als ihr in der That nachgerühmt werden kann, so liegt es doch in der Natur der Sache, daß beide Darstellungen als wesentlich nur auf die mündlichen Verhandlungen vor Geschwornen (beziehungsweise, wie die letztere, vornämlich auf die Reden der Partheivertreter) gebaut, nicht in der Lage waren, das faktische und noch weniger das rechtliche Material vollständig mitzutheilen. Dazu kommt noch überdieß, daß die Verhandlungen in Hanau mehrfach durch sehr beklagenswerthe unlautere Einflüsse getrübt waren, welche dem Zweck der Ermittlung der Wahrheit empfindlich hemmend in den Weg traten. Endlich zeigt ein Blick auf das zu Hanau gefällte Enderkenntniß, daß die Geschwornen über mehrere der wichtigsten, hier einschlagenden, rechtlichen Begriffe, z. B. den des Komplotts, den Unterschied von Mord und Todtschlag etc. etc., keineswegs genügend unterrichtet oder wenigstens gehörig sicher waren.
In mehr als Einer Beziehung wird daher den Rechtsgelehrten eine auf wiederholte gewissenhafte Durchforschung der Akten gegründete Darstellung des Falls willkommen erscheinen.
Es liegt jedoch, wie gesagt, hier ein Fall vor, der keineswegs blos ein juristisches Interesse darbietet, vielmehr in verschiedenen Rücksichten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vor vielen andern geeignet ist, – ein Fall, der nach dem Ausdrucke des Präsidenten Zuschlag „an hoher Wichtigkeit nicht leicht von einem andern wird übertroffen werden, auf dessen Ausgang die Augen der ganzen gebildeten Welt mit gespannter [6] Aufmerksamkeit gerichtet sind, dessen Gegenstand der allgemeinen Weltgeschichte angehört.“
In der That sind es nicht blos die vielen näheren oder entfernteren Freunde der beiden hervorragenden, als Schlachtopfer blinder Wuth gefallenen Männer, welche berufen sind, einer getreuen Darstellung des vorliegenden Falls ihre Theilnahme zuzuwenden.
Die Vorfälle des 18. Sept. in ihrer Verkettung mit der Genehmigung des Waffenstillstandes von Malmö, der Volksversammlung auf der Pfingstwaide, dem Barrikadenkampf in Frankfurt etc. etc. gehören der Geschichte, insbesondere der Geschichte des deutschen Parlaments an. Sie bilden eine sehr wesentliche Parthie in dem Gesammtbilde der deutschen Erhebung im Jahr 1848. Sie sind die dunkle, die blutigschmutzige Folie der idealistischen Schwärmerei, des poetischen Rausches, der glänzenden Begeisterung, welche die edleren Gemüther ergriffen, aber freilich sich sehr unpraktisch gezeigt hatten.
Wenn damals der intelligente und gebildete Theil der Nation eine in der Geschichte beispiellose praktische Unfähigkeit an den Tag legte und damit bewies, daß der aus Westen gekommene Sturm die Besten im Volke unvorbereitet und in politischer Bildung unreif angetroffen hatte, – war es zu verwundern, wenn die Hefe des Volks in dem Augenblicke, wo ein böser Dämon sie auf die Bühne stürmen ließ, eine fast fabelhafte Rohheit und Dummheit in dieser Beziehung zu erkennen gab? Die folgende Darstellung wird die aktenmäßigen Belege dafür liefern, bis zu welcher Höhe sich die Begriffsverwirrung in der unteren Schichte der Gesellschaft erhob, welche Gemüthsrohheit, welche Barbarei der Sitten bei so Vielen an den Tag [7] kam, welch viehischblinder Zerstörungstrieb, zum Theil in grausenhaft possirlicher Ausdrucksweise, sich aus der aufgehetzten Masse entlud.
Dieses Nachtstück des deutschen Gesellschaftslebens ist sehr werth, von jedem angeschaut und beherzigt zu werden, dem es um die Erhaltung und Förderung der kostbarsten Güter des gemeinschaftlichen Daseins zu thun ist. Er möge sich überzeugen, daß es nichts hilft, vor gewissen furchtbaren Wahrheiten die Augen zu verschließen! Er möge einsehen, daß wir auf der Asche eines Vulkans wandeln, unter welcher die glühende Lava immer wieder hervorbrechen kann! Es sind nicht Betrachtungen und Phantasieen, die hier vorgeführt werden, sondern Thatsachen, – nackte wirkliche Thatsachen, welche wiederkehren können und wiederkehren müssen, so lang man nicht dazu thut, ihnen durch das einzig geeignete Mittel vorzubauen, – durch wahre (vom Aether der Humanität durchleuchtete) Volksbildung.
Vor den Gerichten, welche den vorliegenden Fall zu untersuchen hatten, sind eine Menge von gesellschaftlich niedrig gestellten Personen aufgetreten, deren Aussagen auf’s Unzweideutigste erkennen lassen, daß sie ruhige und gutmüthige Menschen waren, daß sie aber, als der Versucher an sie heran kam, der Verstandes- und Charakterbildung ermangelten, welche sie allein widerstandsfähig gemacht haben würde. Es handelt sich aber nicht blos um religiöse Bildung, vollends nicht um einseitige, auf Kosten der edelsten Fähigkeiten des Menschen einexerzirte. Es handelt sich um eine Bildung, deren Grund und Ziel die Freiheit ist. Denn nur diese vermag einen Charakter [8] zu zeitigen und die einzig zuverläßige Beschränkung zu lehren, – die Selbstbeschränkung.
Verweigert man den untern Klassen die Möglichkeit solcher Bildung, macht man sie mit Absicht und Plan zur Hefe der Gesellschaft, so muß man sich auch nicht wundern, wenn sie in der Stunde der Gefahr die Barbarei hervorkehren, zu welcher die Verblendung sie verdammt hat.
Die Akten im vorliegenden Fall zeigen, daß um jene Zeit in der Umgegend von Frankfurt ein System republikanischer und kommunistischer Wühlerei mit wahrer Virtuosität betrieben wurde; sie zeigen aber auch, daß eben nur die politische Stockblindheit, die gänzliche Ungeübtheit und Fremdheit in den öffentlichen Angelegenheiten, die absolute Erziehungslosigkeit in diesem Elemente der fette Boden war, worin jene Wühlerei gedeihen und üppig wuchern konnte. Man kann nun wohl einzelnen Wühlern das Handwerk legen, man kann sie rudelweise abfangen und in’s Stockhaus sperren. Aber, so lang man eben nur chirurgisch, nicht medicinisch verfährt, wird man nie verhindern, daß nicht immer neue Wühler auferstehen, und am wenigsten wird man verhindern, daß nicht jener der geschicktesten und durchtriebensten Polizei unfaßbare, unsichtbare, geheime Wühlgeist, jener hic et ubique (nach Shakespears Ausdruck) als Maulwurf unter dem Boden grabe. Hat man dann aber das Volk nicht an bessere Nahrung gewöhnt, so wird man es nicht andere als natürlich finden müssen, wenn es an den Träbern, die ihm vorgesetzt werden, Geschmack findet und in dem Branntweinrausch, der ihm angehängt wird, Thaten vollführt, von denen man nicht sagen kann, ob sie mehr Eckel oder Grausen erregen.
[9] Daß mit diesen Bemerkungen das vorliegende Verbrechen nicht beschönigt werden soll, versteht sich so von selbst, daß kaum ein Wort darüber verloren zu werden braucht. Die nachfolgende Ausführung wird zur Genüge zeigen, wie sehr der Verfasser bemüht war, die Grenze der rechtlichen Zurechnung auf’s Gewissenhafteste einzuhalten. Allein es wird gleichwohl gestattet sein, dieselben Personen, welche man die unbestechliche Wage des Rechts in der Hand verdammen muß, menschlich zu beklagen und auf die Mittel hinzuweisen, welche dazu dienen können, die Wiederkehr ähnlicher Wuthausbrüche einer verwahrlosten Menschenklasse zu verhindern.
Uebrigens wird der Leser finden, daß der Zufall auf der hier zu beschreibenden Angeklagtenbank eine eigenthümliche Trias von Individuen zusammengewürfelt hat.
Wir sehen da einen Mann, der als wackerer Bürger, als geschickter und thätiger Arbeiter, als guter Familienvater geschildert wird. An ihm ist nichts Pöbelhaftes, nichts Bübisches, nichts Frivoles; er ist mit Burschen, wie der sog. Berliner oder gar der Schneider Ludwig u. A., die in Hanau vor Gericht standen, nicht zu vergleichen. Er ist nicht ohne eine gewisse Bildung, er hat die Welt gesehen, er hat Manieren und weiß sich auszudrücken. Sein Wesen ist verschlossen. Er fühlt sich, freilich im Uebermaß; sein Pathos streift an’s Lächerliche. Er verabscheut das Bübische und Gemeine, das Brutale und Henkermäßige, was an dieser That klebt. Ihn hat der Teufel des Hochmuths verführt; er hat eine Rolle als Volksführer spielen wollen, und eine klägliche Begriffsverwirrung, ein gänzlicher Mangel an politischer Elementarbildung hat ihn seinen Lorbeer auf dem blutgedüngten Felde des Verbrechens suchen lassen.
[10] Neben ihm sitzt eine Frau, deren früheres Leben ohne Vorwurf ist, die sich unter ungünstigen Umständen mit ihrem Manne redlich durchgebracht hat und es sich im Schweiße ihres Angesichts hat sauer werden lassen. Sie wird als verträglich, nachgiebig, sanft, ja als besonders sanft geschildert; sie habe kein Thier leiden sehen können, hab ganz still und eingezogen gelebt, habe Abende hindurch mit ihrem Manne musizirt etc. etc. Aber jene Zeit, die so Viele aus ihrem Gleise schleuderte, hat auch diese Frau aus der dem Weibe geziemenden Bahn gerückt. Sie hat in der Paulskirche gesessen, hat auf Zitz und Genossen gehorcht, hat Politik getrieben. Die Ungunst der Zeitverhältnisse schmälerte den Erwerb ihres als Notenlithographen von der Blüthe des Kunstlebens abhängigen Mannes und bedrohte sie mit völliger Nahrungslosigkeit, während zugleich ein ungerechter Prozeß, in welchem sie sehr chikanös behandelt wurde, gerade in jenen Tagen sie in Gefahr setzte, ihr letztes sauer Erworbenes zu verlieren. Sie sog aus der Politik, wie sie ihr zugänglich wurde, das Gift des Hasses gegen die Wohlhabenden, der Wuth gegen die Vornehmen, die Besitzenden, gegen Alle, die sie im Verdachte hatte, daß die Noth und der Ruin des Volks ihnen in die Schuhe zu schieben sei. So gestimmt hätte sie wohl auch die brennende Fackel in einen Pallast geworfen. Als ihr denn aber ein Dämon jene beiden so unzeitig spazieren reitenden vornehmen Herrn vorüberführte, da quoll es glühend in ihr auf. Sie wollte das Volk rächen, als Würgengel ihm voranschreiten, und es wurde das Wort des Dichters an ihr wahr:
Da werden Weiber zu Hyänen
Und treiben mit Entsetzen Scherz;
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Noch zuckend mit des Panthers Zähnen
Zerreißen sie des Feindes Herz.
Sonderbar genug nimmt sich neben diesen beiden Angeklagten der dritte aus. Dieser hat nie Politik getrieben; er weiß nichts vom Parlament, bekümmert sich nicht um die Leiden und Fieberkrisen des Gesellschaftslebens. Die Schneiderboutique und das Wirthshaus sind seine Welt. Er ist auch in der weiten Welt herum gewesen, hat aber nicht viel profitirt; noch immer ist er Geselle, ein guter, ziemlich fleißiger Arbeiter, dem man nichts Unrechtes nachzusagen weiß, als etwa, daß er das Spiel liebe. Uebrigens ist er gesetzten Wesens; Niemand sucht etwas Außerordentliches hinter ihm, weder im Guten, noch im Bösen. Er erscheint als der reine normale Schneidergeselle. Für ihn war der 18. Sept. kein Tag des Volkskampfs, der Barrikaden, der großen Ereignisse. Ihm war er lediglich der blaue Montag, der süße blaue Montag, der Tag – nicht des Waffenstillstandes von Malmö, sondern des Nadelstillstandes in der Werkstatt des Meisters Trinkmann zu Homburg v. d. Höhe, der Tag, an dem man mit guten Kameraden nach Frankfurt trollen, von Kneipe zu Kneipe ziehen, fremdes Militär sehen, harmlose Abenteuer auf den Straßen bestehen, und immer wieder zum Aeppelwein zurückkehren konnte. Aber dieser blaue Montag sollte nicht wie andere ablaufen. Man sah Barrikaden bauen, man hörte Kanonen donnern, – es war nicht mehr geheuer in Frankfurt. Die Schneidergesellen suchten das Weite. Auf der Promenade führt ihnen der Zufall die auffallenden Reiter in den Weg, die gerade an unsern Mann die Frage richten, welche sie der Menge als Spione verdächtig macht. Nach einer Weile sprengen die Reiter wieder mit [12] verhängten Zügeln von andrer Seite daher, und die lawinenartig anwachsende Verfolgung beginnt. Sie nimmt die Schneidergesellen mit sich. Da kommt es dem Unsrigen, daß er sich wichtig machen könne. Er borgt ein altes Gewehr ohne Hahn, mit dem er wenigstens paradiren kann; er tritt über die verhängnißvolle Gartenschwelle und mischt sich unter die Rotte, der Gedankenlose unter die Wissenden und Wollenden. Alsbald nimmt er den ihm gebührenden Rang ein: bedientenhaft ordnet er sich den Führern unter, empfängt ihre Befehle und führt sie aus. Er entdeckt den einen der Versteckten, überläßt es aber Andern, ihn zu „arretiren.“ Er geht nur eskortirend neben her und, ehe es zur Katastrophe kommt, führt er abermals eine „Ordre“ aus, die nämlich: den Paletot und Hut des arretirten Mannes herbeizuschaffen, worauf er alsbald mit dem Rock, sowie sein Kamerad mit dem Hut, in aller Stille davon geht.
Man sieht daher, daß es der folgenden Darstellung auch nicht an psychologischem Interesse fehlt, das der Kenner zu würdigen wissen wird.
In der Form der Darstellung ist die Ordnung des juristischen Vortrags beibehalten, weil diese wesentlich auf dem Gesetze beruht, die Thatsachen reden und ihre Consequenzen aus sich selbst entwickeln zu lassen. Zwar hat sich früher und neuerdings bei derlei Stoffen eine gewisse Zwitterart zwischen juristischer und novellistischer Darstellung mehrfach beliebt zu machen gewußt. Dem Verfasser ist aber diese Sorte von Mittheilung von jeher nicht viel besser oder vielmehr – um ganz aufrichtig zu sein – weit schlechter vorgekommen, als jene bekannte Weise, in welcher [13] Mordthaten auf den Jahrmärkten nach der Drehorgel abgesungen zu werden pflegen.
Es handelt sich hier nicht um Futter für Boudoirs und Leihbibliotheken, sondern um eine sehr ernste Sache, die es vor andern verdient, der Oeffentlichkeit übergeben und dem deutschen Volke als einem großartigen Schwurgerichte vorgeführt zu werden.