Auch ein Verbrecher aus Ehre
Niemals habe ich in meinem Leben den Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung tiefer empfunden, nie die schwere Verantwortung meines Berufes mehr gefühlt, als bei einem traurigen Ereignisse, das in den ersten Jahren meiner Amtsführung stattgefunden. Beim Durchblättern des Gefangenenjournals stoße ich auf die kurze Notiz: „Johann Koch, früher Flurschütz, fünfundfünfzig Jahre alt, wegen Mords zum Tode verurtheilt und von Sr. M. dem König zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt.“ Wie dürftig, nichtssagend, schablonenhaft erscheinen diese kurzen Bemerkungen, hinter denen sich ein furchtbares Geschick, eine große sociale Tragödie verbirgt! Muß man nicht dabei an einen gemeinen Verbrecher glauben? und doch war dieser Unglückliche nur ein Opfer der Verhältnisse und seiner Zeit.
Vor meinen Augen steht das Bild eines kräftigen gedrungenen Mannes in der kurzen, grauen Sträflingsjacke, mit gebräuntem Gesicht, dessen offene, gutmüthige Physiognomie eher alles Andere, als einen Mörder verrieth. Seine straffe, militärische Haltung zeigte den früheren Soldaten, aber nicht einen unserer heutigen Friedenshelden, sondern den alten, gedienten Krieger, der dem Tode oft genug unerschrocken in das Angesicht geschaut. Eine wilde Energie, ein trotziger Muth und das Gefühl der eigenen Kraft sprachen aus allen seinen Bewegungen, trotzdem war er gehorsam wie ein Kind, freundlich und unverdrossen, so daß ich mich nicht erinnere, je ein hartes Wort oder einen Tadel gegen ihn ausgesprochen zu haben. Er besaß in der That ein peinliches Pflicht- und Ehrgefühl, das leider nur selten in seiner Sphäre angetroffen wird, wo gerade das Gegentheil die Regel bildet.
Wie ich aus den Acten und seinen eigenen Mittheilungen erfuhr, war Johann Koch der Sohn eines nicht unbegüterten Bauern, der jedoch durch die unglücklichen Kriegsjahre, durch rasch sich folgende feindliche Einquartierungen und Requisitionen in seinen Verhältnissen nach und nach zurückgekommen war. Die nur zu sehr begründeten Klagen des Vaters erfüllten den heranwachsenden Knaben mit dem glühendsten Franzosenhaß. Als die Stunde der Befreiung schlug, war er einer der Ersten im Kampfe für das Vaterland. Körperlich kräftig, von Jugend auf an Entbehrungen gewöhnt, von Muth und Begeisterung erfüllt, fand er bald Gelegenheit, sich auszuzeichnen und die Achtung seiner Vorgesetzten zu gewinnen. Koch gehörte anfänglich zu dem bekannten Lützow’schen Freicorps, dessen Schicksale und Ruhm er theilte. Seiner ganzen Natur sagte das kühne Wesen und das frische Leben dieser Truppe weit mehr zu, als der spätere Dienst in dem regelmäßigen Heere. Hier galt noch der einzelne Mann, hier herrschte ein mehr cameradschaftliches Verhältniß und ein fröhliches Lagerleben, hier gab es Abwechselung, kecke Wagstücke, schlaue Ueberfälle, ritterliche Thaten, hier waltete vorzugsweise der Geist des Volkes und der Jugend, aus dem der heilige Freiheitskampf hervorgegangen war.
Unter den Augen des kühnen Lützow hatte Koch fast an allen hervorragenden Gefechten seines Corps Theil genommen und unter den vielen Tapfern sich hervorgethan. Später wurde er jedoch in das regelmäßige Heer eingereiht und einem Jägerbataillon zugetheilt. Bei Belle-Alliance schwer verwundet, mußte er mehrere Monate im Lazareth liegen bleiben. Als er endlich geheilt war, wurde er für den ferneren Dienst unbrauchbar erklärt und in Anerkennung der von ihm bewiesenen Tapferkeit mit dem eisernen Kreuz entlassen.
Nach vierjähriger Abwesenheit kehrte Koch in die Heimath und nach seinem Dorfe zurück. Er fand seinen Vater todt, die hinterlassene Wirthschaft vernachlässigt und mit Schulden belastet, so daß ihm nichts übrig blieb, als das Anwesen um jeden Preis loszuschlagen, da das baare Geld nach dem Kriege äußerst knapp geworden war. Ohnehin fehlte ihm jetzt Lust und Neigung, wieder ein Bauer zu werden. Bei seiner Gewöhnung an das frische Lagerleben mußte ihm das einförmige Dasein auf dem Dorfe, die beschränkte Existenz des Landwirths jetzt doppelt zuwider sein. Eine gewisse Ungebundenheit und Rastlosigkeit war ihm von seinem bisherigen Stande zurückgeblieben, so daß er sich nicht so leicht in die engen Verhältnisse seiner Heimath wieder finden konnte. Da ging Alles seinen alten, ruhigen Gang, als ob nichts in der Welt geschehen wäre, da hatte sich nichts verändert, während draußen das Ungeheuerste sich doch ereignet hatte. Man hatte zwar auch an dem Kampfe, aber nur aus weiter Entfernung, Theil genommen, manches Opfer an Geld und Gut gebracht, doch das war bald wieder vergessen und jetzt hatte jeder Mann völlig zu thun, um durchzukommen, die neuen Steuern aufzubringen, die alten Schulden abzutragen, die vernachlässigten Aecker zu bestellen, zu säen und zu ernten, zu bauen und zu schaffen vom Morgen bis zum Abend, von einem Sonntag bis zum andern.
Nur der heimgekehrte Koch fand keine ihm zusagende Beschäftigung, obgleich er es an Bemühungen darum nicht fehlen ließ. Ein Gesuch um den Posten eines Gerichtsboten oder Steuerbeamten wurde ihm trotz seiner glänzenden Zeugnisse und der Versprechungen, welche die Regierung den tapferen Freiheitskämpfern beim Beginn des Krieges gegeben hatte, unter dem Vorwande zurückgewiesen, daß ihm die nöthigen Kenntnisse mangelten, was allerdings leider der Fall war. Aber auch andere Stellen, die einen geringeren Bildungsgrad voraussetzten, wurden ihm abgeschlagen, weil die Zahl der berechtigten Bewerber zu groß war und ihm jede Protection, um die er sich allerdings auch nicht bemüht hatte, gänzlich fehlte. Während er aber bald hier, bald dort anklopfte und überall zurückgewiesen wurde, zehrte er allmählich die wenigen Groschen auf, welche ihm von der väterlichen Erbschaft übrig geblieben waren. Wollte er nicht als Bettler der Gemeinde zur Last fallen, so mußte er sich a!s Tagelöhner verdingen, woran ihn jedoch die nach seiner Verwundung zurückgebliebene allgemeine Körperschwäche verhinderte.
Seine Lage wurde noch peinlicher durch den Umstand, daß Koch in der Heimath ein Mädchen kennen gelernt hatte, das er [821] innig liebte und von dem er ebenso aufrichtig wieder geliebt wurde. Leider besaß seine Braut keine andere Mitgift, als ihre Schönheit, ihre Tugend und ihren Fleiß, so daß die von Beiden sehnlichst gewünschte Verbindung in weiter Ferne lag. Wenn aber die Noth am größten, pflegt auch die Hülfe am nächsten zu sein. Eines Tages, als Koch nach seiner Gewohnheit im Felde mit seinen traurigen Gedanken umherstreifte, hörte er plötzlich seinen Namen rufen. Als er aufblickte, sah er einen kräftigen Mann in grüner Pekesche vor sich stehen, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Als dieser ihn mit freundlichen Worten anredete, erinnerte er sich sogleich an den Landwehrmajor, den er bei Leipzig durch einen rechtzeitigen Schuß vor dem sicheren Todesstreich eines französischen Kürassiers bewahrt hatte. Dieser reichte jetzt seinem Lebensretter, dessen Züge und Namen er in dankbarer Erinnerung behalten, herzlich die Hand, indem er ihn aufforderte, eine kurze Strecke mitzugehen. Unterwegs erzählte der Major, daß er nach dem Frieden seinen Abschied genommen und sich hier in der Gegend angekauft und zwar das in der Nähe liegende Rittergut erworben habe. Zugleich erkundigte er sich theilnehmend nach den Verhältnissen seines Begleiters, der nach einigem Zögern offen und unumwunden über seine verzweifelte Lage und seine vergeblichen Bemühungen um eine passende Stelle mit ihm sprach. Nachdem der Major ihm aufmerksam zugehört und einige Zeit nachgesonnen, bot er Koch das allerdings nicht glänzende, aber dessen Neigungen vollkommen zusagende Amt eines sogenannten „Flurschützen“ an, der eine Art ländlicher Polizei zu verwalten hat.
Koch schlug natürlich mit tausend Freuden ein und trat schon den nächsten Tag seinen Posten an. Einige Wochen später folgte ihm das geliebte Mädchen als seine Frau nach und bezog mit ihm das kleine Haus, welches der Major ihm eingeräumt hatte. So gering auch seine Einkünfte waren, so glücklich fühlte sich Koch in seinem neuen Wirkungskreis, der ihm gestattete, den ganzen Tag mit der Büchse im freien Felde herumzustreifen, den Wald zu inspiciren, zuweilen einen Hasen oder einen Flug Rebhühner für die Tafel des Gutsherrn zu schießen, einem Wilddieberei auf eigene Rechnung betreibenden Dorfhund das Lebenslicht auszublasen, oder eine im Felde verlaufene Kuh abzupfänden. Mit vielem Eifer betrieb er sein obrigkeitliches Amt, ohne darum in Härte auszuarten. Ein strenges Pflichtgefühl beseelte ihn bei allen seinen Handlungen und seine Gerechtigkeitsliebe entwickelte sich unter diesen Verhältnissen in einem hohen Grade. Der Major war mit ihm zufrieden und behandelte ihn mehr als einen guten Freund, denn als seinen Untergebenen. Von freien Stücken vermehrte er sein Einkommen, indem er ihm ein größeres Deputat bewilligte, als die Familie des Flurschützen sich mit der Zeit vermehrte. Koch hatte einen Sohn, der nach dem Vater schlug, und eine Tochter, welche ganz das Ebenbild der Mutter und sein erklärter Liebling war. Die Jahre vergingen so in ungetrübtem Frieden, der Knabe wuchs heran und wurde zum Soldaten ausgehoben, während das Mädchen für die schönste und fleißigste Dirne in der ganzen Gegend galt.
Auch der Major hatte einen Sohn, der in einer Cadettenanstalt erzogen wurde und mit der Zeit sein Lieutenants-Examen [822] machte. Der junge, schmucke Officier kam zum Besuch nach Hause und lernte bei dieser Gelegenheit die schöne Tochter des Flurschützen kennen. Aus Langeweile und da er keinen würdigeren Gegenstand für seine Galanterien fand, verführte er das unschuldige Mädchen, ohne viel an die möglichen Folgen zu denken. Als Koch durch seine Frau den Zustand seiner Tochter erfuhr und diese über die näheren Verhältnisse befragt hatte, zog er seinen Sonntagsrock an und knöpfte das eiserne Kreuz, das Zeichen seines ehrenvollen Verhaltens, in das Knopfloch. Darauf ging er auf das Schloß und verlangte den Major zu sprechen. In schlichten Worten und ohne alle Umschweife klagte er den Verführer seiner Tochter an und forderte von dem Vater die nach seiner Meinung und seinen hochgesteigerten Ehrbegriffen einzig mögliche Satisfaction. nämlich daß der Herr Lieutenant das von ihm gekränkte Mädchen zur Frau nehmen und somit ihre Ehre wieder herstellen sollte.
Der Major, der im Grunde des Herzens ein redlicher Mann war und die Schuld seines Sohnes nicht fortleugnen konnte oder wollte, suchte vergebens dem Flurschützen die Unmöglichkeit seiner Forderung vorzustellen, indem er ihn auf die Ungleichheit der Verhältnisse, des Ranges und Standes verwies. Koch hörte ihn ruhig an, ohne ihn zu unterbrechen, setzte aber allen seinen Gründen am Schlusse seiner Rede nur die einfache Frage entgegen, ob er ihn selbst für einen Ehrenmann und seine Tochter für schuldlos halte? Da der Major Beides zugestehen mußte, so wiederholte er von Neuem seine erste Forderung, mit dem Hinzufügen, daß der Rock des Königs, den sie Beide getragen, sie auch gleich gemacht habe, daß der Unterschied der Stände während des letzten Krieges aufgehört habe, wo der Fürst und der Bauer, der Reiche und der Arme in Einer Reihe für das Vaterland gekämpft und ihr Blut und Gut hingegeben. Er erinnerte ihn, wie er damals, als er ihm das Leben gerettet, auch nicht nach Rang und Stand gefragt, sondern seine Pflicht und Schuldigkeit gethan, und sprach die Ueberzeugung aus, daß auch jetzt der Major wie ein Ehrenmann gegen den andern handeln werde.
Dieser, dem die Angelegenheit wirklich leid that, bot dem Flurschützen eine bedeutende Summe zur Entschädigung für die ihm zugefügte Beleidigung, und als dieser das Geld entrüstet zurückwies, verdoppelte und verdreifachte er sein Anerbieten. Koch blieb jedoch, trotzdem er ein armer Mann war, unerschütterlich und beharrte nach wie vor auf seiner Forderung mit einer Hartnäckigkeit, welche auch den Major immer mehr reizte, so daß dieser zuletzt die Geduld verlor und ihm eben so fest und bestimmt erklärte, daß, wenn selbst sein Sohn die Dirne heirathen wollte, er nun und nimmermehr seine Zustimmung zu einer so thörichten und unerhörten Verbindung geben würde. Bleich und stumm, ohne eine Drohung oder ein böses Wort gegen den Major auszustoßen, verließ Koch das Schloß und kehrte in sein Haus zurück, wo er seine bekümmerte Frau und die weinende Tochter fand. Ruhig zog er seinen Sonntagsrock aus und hängte ihn an den Nagel, ruhig forderte er das Mädchen auf, noch einmal an den Lieutenant zu schreiben und ihn an seine Schwüre und das ihr gegebene Versprechen zu erinnern. Da der Brief, wie zu erwarten war, ohne Antwort blieb, so ging der Flurschütz in der nächsten Woche nach der benachbarten Kreisstadt, um den Lieutenant, oder vielmehr, da derselbe noch minderjährig war, den Major beim Gericht zu verklagen.
Das war jedoch keineswegs so leicht, als es sich der arme Koch in seinem Gerechtigkeitssinn und bei seiner Unkenntniß der juridischen Formen vorgestellt hatte. Von einem Rechtsanwalt zum andern gewiesen, fand er endlich einen braven Justizcommissar, einen alten Freiheitskrieger vom Jahre dreizehn, der ihn anhörte, ohne im Voraus einen Geldvorschuß von ihm zu verlangen. Auch versprach er ihm, den Proceß zu führen, obgleich er ihm nur geringe Hoffnungen machte und deshalb zu einem gütlichen Vergleiche rieth. Davon wollte aber der Flurschütz nichts wissen, indem er sich auf die Gerechtigkeit seiner Sache und die im Namen des Königs geübte Justiz verließ, da ja, wie er wußte oder zu wissen glaubte, das Gesetz ohne Ansehen der Person urtheilte und vor demselben nach seiner Meinung alle Bürger gleich waren. Natürlich konnte er unter diesen Umständen auch nicht länger in den Diensten des Majors bleiben; er gab daher seinen Posten als Flurschütz auf und zog wieder in sein Heimathsdorf zurück, wo ihm nichts übrig blieb, als das gerade offenstehende Amt eines Nachtwächters zu übernehmen, um sich mit den Seinigen nothdürftig durchzubringen.
Auch hier zeichnete er sich durch die strengste Pflichterfüllung aus, indem er, wie aus den Acten zu ersehen, wesentlich und mit Gefahr seines eigenen Lebens zur Entdeckung und Verhaftung einer gefährlichen Diebesbande beigetragen hatte. Die bei dieser Gelegenheit ihm ertheilte Prämie und die wenigen Ersparnisse wurden jedoch bald wieder von dem Proceß verschlungen, der unterdeß ruhig seinen Fortgang nahm. Ohne Murren brachte Koch diese Opfer, legte er sich jede Entbehrung auf, indem er von Tag zu Tag auf die Gerechtigkeit für seine unglückliche Tochter wartete. Nie kam eine Klage, noch weniger ein Vorwurf gegen sie über seine Lippen, da er von ihrer Unschuld vollkommen überzeugt war.
So vergingen Wochen und Monate, bis endlich eines Tages der Gerichtsbote ihm das Erkenntniß einhändigte und dafür den letzten Groschen aus der Tasche des Armen nahm.
Mit zitternder Hand erbrach jetzt Koch das große Amtssiegel und las mit großgedruckten Worten den Namen des Königs. Dann schwammen und tanzten die Buchstaben vor seinen Augen, ein lauter Schrei entfuhr seiner bedrückten Brust und der starke Mann mußte sich an dem Tisch festhalten, um nicht zu sinken. Seine Klage war zurückgewiesen und er in die Kosten verurtheilt worden, weil nach dem Gesetz die Ehe eines Adligen mit einem Mädchen niederen Standes nicht zulässig sei.
Nachdem er sich von seiner Schwäche erholt, warf er noch einmal einen Blick auf das unglückselige Papier, um sich zu überzeugen, daß er wirklich richtig gelesen und sich nicht getäuscht. Da stand es nach wie vor groß und breit: „Im Namen des Königs“ und darunter „von Rechtswegen“.
Koch stieß ein bitteres Gelächter aus, dann riß er das eiserne Kreuz aus seinem Rock und trat seinen höchsten Ehrenschmuck mit Füßen.
Am nächsten Tage wanderte er nach der Stadt, um sich die Bestätigung aus dem Munde seines Rechtsanwaltes zu holen. Dieser rieth ihm wohlwollend von jeder weiteren Appellation abzustehen, da sie ihm doch nichts nützen würde, dagegen eine Klage auf Alimentation und Entschädigung für seine Tochter einzureichen, zu der sein Gegner gesetzlich verpflichtet wäre. Koch schüttelte jedoch mit dem Kopf und dankte dem Justizcommissar für seine Bemühungen, da dieser kein Geld von ihm nehmen wollte. Zugleich erklärte er aber, daß ihm die Ehre seiner Tochter nicht für Geld feil sei.
Anscheinend ruhig kehrte er in seine Wohnung zurück und verrichtete nach wie vor seinen Dienst. Aber in seinem Innern tobte es um so heftiger und, wie er selbst dem Richter gestand, war seit diesem Tage eine vollständige Umwandlung mit ihm vorgegangen. Sein Gerechtigkeitssinn empörte sich gegen ein Urtheil, das allen seinen Anschauungen von Recht und Gesetz, allen seinen Begriffen von Ehre widersprach. Sein beleidigtes Vaterherz verlangte eine entsprechende Genugthuung, die ihm nicht zu Theil geworden. Als das Vaterland in Gefahr war, als der König rief, hatte er nicht gezögert und sein Leben ohne Besinnen eingesetzt, und jetzt hatte derselbe König, dessen Gerechtigkeit er angerufen, ihm die nach seinen Begriffen einzig mögliche Genugthuung versagt und seine Bitte nicht um Gnade, sondern nur um Recht im Namen des Gesetzes zurückgewiesen.
Das war zu viel und mehr als er zu ertragen vermochte. Wenn aber das Gesetz ihm nicht beistand, sein König ihn verließ, so blieb ihm nichts übrig, als sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen; er wollte keine Rache, sondern nur Recht üben. Mit diesem Gedanken beschäftigte er sich von nun an bei Tag und Nacht, während er sich äußerlich bei dem Ausspruche des Gerichts zu beruhigen schien. Mehrere Versuche des Majors, die ganze Angelegenheit gütlich beizulegen, blieben von ihm unberücksichtigt und als seine Frau eines Tages darauf anspielte, gerieth er zum ersten Mal in seiner jetzt mehr als dreißigjährigen Ehe in wilden Zorn und stieß gegen sie und Alle, die sich einmischen würden, die heftigsten Drohungen aus.
So brütete er still für sich, und nur derartige plötzliche Wuthausbrüche, die jedoch eben so schnell wieder verschwanden, verriethen die heimliche Zerrüttung seiner Seele. Seine arme Tochter hatte unterdeß ein todtes Kind geboren und war schwer erkrankt. Mit unveränderter Liebe saß er an ihrem Lager, ja seine Zärtlichkeit für sie schien seit ihrem Unglück eher zu- als abgenommen zu haben. Er trug sie nach ihrer Genesung, da sie zu schwach zum Gehen war, im eigentlichen Sinne auf Händen. Während die Arme sich [823] allmählich langsam erholte und zum ersten Mal wieder, von ihrem Vater unterstützt, an einem Sonntag die Kirche besuchte, hielt die Equipage des Majors zu derselben Zeit vor der Thür des Gotteshauses. Aus derselben stieg der junge Officier, indem er einer schönen, elegant gekleideten Dame die Hand bot. Bald war es im ganzen Dorfe bekannt, daß der Lieutenant sich mit der Tochter eines reichen Gutsbesitzers verlobt habe und mit seiner Braut sich zum Besuch bei seinem Vater aufhalte. Bei dieser Nachricht sah Koch seine Tochter erbleichen und zusammenbrechen.
„Jetzt oder nie,“ flüsterte der böse Geist in ihm.
Nachdem er seine Tochter aus der Kirche nach Hause geführt, schlug er den Weg nach dem Schlosse des Majors ein. Hinter einem Gebüsch lauerte er auf die hier vorüberfahrende Equipage, die Hand an dem Hahn der geladenen Flinte, welche er heimlich unter seinem Rock verborgen hielt. Jetzt hörte er die Räder des Wagens näher rollen, er machte sich schußfertig. Ohne Zittern zielte er auf den Lieutenant, der sich in diesem Augenblick zärtlich zu seiner Braut hinüberbeugte. Ein Druck mit dem Finger, ein heller Blitz, ein lauter Knall – und der Officier war eine blutige Leiche.
Ohne an die Flucht zu denken, kehrte Koch in das Dorf zurück, aber statt in sein Haus zu gehn, suchte er den Ortsschulzen auf, indem er ihm offen gestand, daß er den Verführer seiner Tochter erschossen und Gerechtigkeit geübt habe. Anfänglich hielt man ihn für wahnsinnig und wollte ihm das Ungeheuere nicht glauben, bald aber wurde die Wahrheit bekannt. An das nächste Gericht abgeliefert, blieb Koch bei seinem Bekenntniß stehen, ohne daß er seine That zu beschönigen oder zu entschuldigen versuchte. Trotz der beredten Vertheidigung seines wackeren Rechtsanwaltes wurde er einstimmig wegen Mordes zur Hinrichtung durch das Beil verurtheilt, in Anbetracht seiner bewiesenen Tapferkeit und seines Wohlverhallens indeß begnadigt. Gegen seinen Willen war das Begnadigungsgesuch von seinem Vertheidiger eingereicht worden, da er selbst den Tod hundertfach dem Verlust seiner Freiheit vorzog. Er glaubte sogar, daß ihm ein neues Unrecht hierdurch zugefügt worden sei, und verlangte, natürlich vergebens, die Vollstreckung des gegen ihn gefällten Todesurtheils.
Obgleich er sich anscheinend in sein Schicksal endlich ergab und als Gefangener durch sein musterhaftes Betragen und seine mir bekannte Vergangenheit meine ganze Theilnahme zu erregen wußte und ich ihm in jeder Beziehung sein trauriges Loos zu erleichtern suchte, so dachte der an Freiheit und Ungebundenheit gewöhnte Mann vom Anfang seiner Haft nur auf seine Flucht. Die Sehnsucht nach Freiheit schien ihn in den ersten Wochen förmlich aufzuzehren, so daß er ernstlich krank wurde. Bei seiner kräftigen Natur erholte er sich jedoch bald wieder so weit, um an die Ausführung seiner Pläne zu gehen. Mehrere Versuche wurden entweder rechtzeitig entdeckt oder durch unerwartete Hindernisse vereitelt. Ich selbst glaubte, daß er die Thorheit seiner vergeblichen Bemühungen endlich eingesehen, und ließ mich durch seine Ruhe vollkommen täuschen, so daß ich ihm nach und nach wieder mehr Freiheiten gestattete. Ich brauchte ihn zu verschiedenen Dienstleistungen für die Anstalt, um ihn den entehrenden Beschäftigungen der gewöhnlichen Zuchthaussträflinge zu entziehen; er konnte daher in den Höfen sich frei bewegen und mit seinen Freunden, besonders mit seinem Sohne, der ihn damals wiederholt besuchte, ungehindert verkehren.
Mit diesem hatte er einen neuen Fluchtplan verabredet, den er diesmal auch mit wahrhaft bewunderungswürdiger Kühnheit ausführte, indem er in einer dunklen Nacht sich von dem Dache seines Gefängnisses an einem heimlich ihm zugesteckten Seil mit Gefahr seines Lebens herunterließ, die hohe Mauer überstieg und durch den breiten Graben glücklich an das jenseitige Ufer schwamm, wo sein Sohn ihn bereits erwartete, um mit ihm ein nach Amerika bestimmtes Schiff in Bremen zu besteigen. Beim Erklimmen der Mauer war jedoch die in der Nähe aufgestellte Schildwache durch das von ihm verursachte Geräusch aufmerksam gemacht worden und hatte, da auf ihren Anruf keine Antwort erfolgte, ihr Gewehr abgefeuert, ohne in der Finsterniß den Flüchtling zu treffen. Dieser war indeß mit seinem Sohne, so schnell es seine Kräfte gestatteten, weiter geeilt, bei ihrer beiderseitigen Unkenntniß der Gegend und der herrschenden Dunkelheit aber in einen Sumpf gerathen, aus dem so leicht kein Ausgang zu finden war. Es blieb ihnen daher nichts übrig, wenn sie nicht versinken wollten, als in einem dichten Binsengebüsch den Morgen zu erwarten und dann ihren Weg weiter fortzusetzen.
Unterdeß war die Flucht des Unglücklichen mir gemeldet worden, und getreu meiner Pflicht mußte ich seine Verfolgung mit widerstrebendem Herzen anordnen. Da ich selbst gerade leidend war, gab ich einem erprobten Gefängnißwärter, der sich drei Mann von der Wache zu Hülfe nahm, den Auftrag zur Habhaftmachung des Gefangenen. Die Verfolger wurden bald durch die hinterlassenen Spuren auf den richtigen Weg geleitet und näherten sich in dem mitgenommenen Kahne dem, wie es ihnen schien, unzugänglichen Versteck des Flüchtlings. Die wiederholte Aufforderung, aus den Binsen hervorzutreten und sich zu ergeben, blieb ohne Erfolg. Der sumpfige Boden konnte nicht ohne Gefahr betreten werden und diente den Verfolgten zum Schutz. Unter diesen Umständen hielt sich der Gefangenwärter nicht nur für berechtigt, sondern sogar für verpflichtet, Feuer geben zu lassen. Die Soldaten schossen ihre Gewehre in das Binsendickicht ab und bald darauf stürzte der arme Sohn hervor, in seinen Armen hielt er den zu Tode getroffenen Koch, ein Bild des Jammers und Entsetzens, mit Blut bedeckt, zusammenbrechend und verröchelnd.
So endete der Unglückliche, den sein Ehrgefühl und Gerechtigkeitssinn zum Mörder gemacht. Ich sorgte wenigstens für ein angemessenes Begräbniß. Seine Hinterbliebenen sind, wie ich nachträglich erfahren habe, nach Amerika ausgewandert. Das Geld zur Ueberfahrt und zum Ankauf einer kleinen Farm hat ihnen ein unbekannter Wohlthäter heimlich zukommen lassen. Ich glaube wohl, es wird der Major gewesen sein.