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Auch Eisbären haben ihre Schicksale

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Textdaten
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Titel: Auch Eisbären haben ihre Schicksale
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 843–844
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[833]

Auf der Eisbärenjagd.
Originalzeichnung von Ludwig Beckmann.

[843] Auch Eisbären haben ihre Schicksale. (Vergleiche das Bild auf Seite 833.) Mr. James Lamont von Keddon in Schottland ist ein englischer Polarreisenden, ein Mann, welcher sich das Vergnügen gönnen kann, auf eigene Faust eine Segeljacht auszurüsten, in den Regionen des ewigen Eises Forschungen anzustellen und nebenher Walrosse, Eisbären, Seehunde, Rennthiere und dergleichen zu jagen. Auf einer Expedition im Jahre 1859, auf welcher er das Eis der Nordküste von Spitzbergen bis zum achtzigsten Grad nördlicher Breite durchdrang, erbeutete er sogar einen weißen Walfisch. Seine Forschungen hat er in einem illustrirten Werke „Seefahrten im Eismeere oder fünf Jagd- und Entdeckungsreisen von J. Lamont“ (London, 1871) niedergelegt.

Es war am 23. Juli 1859. Lamont und sein Gefährte, Lord D. Kennedy, befanden sich in der Nähe von Whales Point, in der auf der Südküste Spitzbergens gelegenen Deeva-Bay. Sie schliefen nach einem ermüdenden Tagesausfluge bereits den Schlaf der Gerechten, als plötzlich die Schiffswache mit der Meldung erschien, daß drei Eisbären, wahrscheinlich eine Alte mit zwei Jungen, am westlichen Ufer des Fjords entlang wanderten. Rasch ging es in die Schaluppe; die Ruderer setzten ein, und das Fahrzeug bewegte sich, bei einem bitter kalten Nordwinde, uferentlang. Die Vermuthung Lamont’s, daß die Bären der Witterung eines erst vor Stunden geschossenen Individuums ihrer Gattung nachgingen, schien sich zu bestätigen: sie bekamen die Thiere, welche rasch aus dem Gesichtskreise verschwunden waren, in der vorausgesetzten Richtung bald wieder vor die Augen; dieselben saßen auf einem Streifen Landes, und nachdem Lord Kennedy ausgestiegen, um durch rasches Vorlaufen den Bären den Weg zu der nahen Bergkette abzuschneiden, fuhr Mr. Lamont mit dem Boote weiter in deren Nähe.

Als das Boot bis auf 500 Yards (1500 Fuß) herangekommen war, richtete sich die Alte auf den Hinterläufen in die Höhe, betrachtete das Boot einen Augenblick und flüchtete dann rasch, die Jungen hart auf der Ferse, am Ufer hin. Lord Kennedy gab die Verfolgung bald auf und stieg wieder in das Boot. Trotz äußerster Anstrengung schien es, daß man die Jagd werde aufgeben müssen – da kamen die Thiere an ein morastiges, von zahlreichen Wasserrinnen durchschnittenes Terrain. Mit rührender Geduld half die Alte den unbehülflichen Jungen bei dem mühseligen Marsche, aber die kleinen Dinger fingen bald jämmerlich zu [844] klagen an, und, was die Hauptsache: es ging Zeit, viel Zeit verloren. Das Boot holte sie wieder ein und bog in einen der schmalen Wasserläufe – da fuhr es plötzlich auf und war nicht von der Stelle zu bringen.

Noch betrug die Entfernung 200 Yards; bei einer Verfolgung zu Fuß wären die Bären noch immer weitaus im Vortheil gewesen. Es blieb nur die Aussicht auf den günstigen Erfolg eines Schusses. Die Büchse Lord Kennedy’s donnerte und – in das Rückgrat getroffen und völlig gelähmt, sank die alte Bärin nieder. So rasch wie möglich sprang Alles durch Schlamm und Eisstücke bis zu der Stelle; ein zweiter Schuß tödtete die Bärin, und da kauerten nun die Jungen, ganz schwarz von Schlamm und zitternd vor Kälte, auf dem riesigen Körper der Mutter, grimmig knurrend und jeden Versuch, sie zu ergreifen, hartnäckig abwehrend.

Endlich wurden ein paar Walroßleinen geholt, den beiden kleinen Teufeln Schlingen um den Hals geworfen und sie hart an einander gekoppelt, worauf sie alsbald über einander herfielen und in wüthendem Kampfe, mit Beißen, Strampeln und Gebrüll, sich rundum im Schlamme wälzten, bis zur Erschöpfung. Inzwischen war die Bärin geöffnet worden, und man hatte begonnen, ihr das Fell abzuziehen – und was geschah? Diese kleinen Musterbilder kindlicher Undankbarkeit krochen, sobald ihre Differenz ausgeglichen war, unbekümmert um die Menschen in ihrer Nähe, heran und begannen, sich an den sterblichen Ueberresten der Mutter eine Güte zu thun. Alsdann setzten sie sich auf die abgezogene Haut und weigerten sich so entschieden, dieselbe zu verlassen, daß nichts übrig blieb, als sie auf derselben zum Boote hin theils zu tragen, theils zu schleifen. Es gab noch einen harten Kampf, bei dem mehrere Bootsleute arg zerbissen und zerkratzt wurden, ehe es gelang, die beiden Unholde unter einer Sitzbank des Bootes festzubinden und zur Schaluppe zu befördern. Hier witterten sie schnell die Haut des Tags zuvor erlegten Bären – vielleicht war es ihr Papa – heraus, legten sich darauf nieder und schliefen beruhigt ein, um bald nachher in einem schnell hergestellten starken Holzkäfig untergebracht zu werden.

Einige Wochen später lag das Schiff nahe beim Ufer vor Anker; die Mannschaft war Eier suchen gegangen und nur der Koch zurückgeblieben, um das Mittagessen zu bereiten. Da hört er plötzlich den schlürfenden Schritt der Bären auf dem Decke. Er nimmt eine Hundepeitsche und eilt hinauf; aber die ziemlich herangewachsenen Thiere fallen ihn mit solcher Wuth an, daß er Hals über Kopf auf den Hauptmast flüchten und nun unthätig zusehen muß, wie die Beiden einen für das Diner bestimmten Rennthierbraten vom Haken zerren und zerreißen. Endlich klettert der eine auf den Schiffsbord; der andere folgt, und bald darauf plumpsen Beide in das Wasser und schwimmen dem Lande zu.

Durch einen seltsamen Zufall traf indessen die auf der Heimfahrt begriffene Mannschaft mit ihnen zusammen; schon schickte man sich an, auf sie zu schießen, da man sie für wilde Bären hielt, als ein Matrose wegen ihres furchtlosen Benehmens auf den Einfall kam, daß man wohl die Gefangenen vor sich habe. Die Bären machten auch keinen Versuch zur Flucht, aber sie widersetzten sich dem Einfangen mit solcher Wuth, als ahnten sie, daß mit dem Ausgang dieses Kampfes ihr Schicksal für immer besiegelt sei. Endlich waren sie gefesselt, und bald darauf saßen sie wiederum in ihrem Holzkäfige.

Mr. Lamont, welcher auf der Heimfahrt nach England sich Mühe gab, die Wildlinge zu civilisiren, sandte sie später an den Director des Zoologischen Gartens in Paris und hatte später noch die Genugthuung, sie völlig erwachsen, aber genau so unliebenswürdig wie früher wiederzusehen. Und nun kommt der tragische Abschluß der Geschichte: Als die deutsche Belagerungsarmee den eisernen Gürtel um Paris geschlossen hatte, fiel der gesammte Bestand des Zoologischen Gartens dem hungerigen Magen der Pariser zum Opfer, und wenngleich wir trotz unserer Bemühungen nicht mit Gewißheit erfahren konnten, ob auch unsere Eisbären dieses Schicksal erfahren haben, so sind doch bei jener Gelegenheit wahrscheinlich noch undelicatere Bissen verspeist worden als Eisbärcoteletten, und es bleibt kaum eine andere Annahme, als daß die Aermsten, welche unsere Abbildung im Flügelkleide zeigt, in der That mit zu den vielen Opfern jener großen weltgeschichtlichen Katastrophe zählen.