Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Erster Teil/Zehntes Kapitel
Wir sagen zunächst: Was ist daraus geworden? Eine Verwüstung von acht großen Provinzen und ein Massenraubmord, dem 100 000 Menschen zum Opfer fallen, kann nicht ohne unmittelbare Folgen sein.
Die erste Folge ergiebt sich von selbst: Der vollständige wirtschaftliche Ruin des ganzen östlichen Kleinasiens und des nördlichen Mesopotamiens, durch den naturgemäß auch das vordere Kleinasien und Syrien in Mitleidenschaft gezogen werden.
Mindestens einige Jahrzehnte sind notwendig, bis sich diese weiten Landesteile, die die eigentliche Substanz des türkischen Reiches ausmachen, wieder erholen werden. In den Städten aller betroffenen Provinzen sind fast überall noch 9/10 der Bazare geschlossen. Der Export- und Importhandel, der fast ganz in den Händen der Christen lag, was schon die den Türken abgehende Kenntnis fremder Sprachen mit sich bringt, ist vollkommen lahm gelegt. Die Bebauung des Landes war der allgemeinen Unsicherheit und der Wandlung der Besitzverhältnisse wegen, da die Türken überall den Versuch machen, sich den Landbesitz der Christen anzueignen, eine höchst ungenügende. Schon die Herbstsaat ist zum großen Teil nicht eingeerntet, sondern entweder schon auf den Feldern verwüstet, oder von den Kurden eingeheimst worden. Die Frühlingssaat ist großenteils, da niemand die Dörfer und Städte zu verlassen wagte, überhaupt nicht ausgesät worden. Der Wert des zerstörten und geraubten Gutes beziffert sich auf Milliarden. Aber auch auf dem geraubten Gut, das sich in den Händen der Türken und Kurden befindet, ruht kein Segen. Wer sollte die Fütterung der großen Schaf- und Ziegenheerden besorgen, die den wertvollsten Besitz des Landvolks ausmachen, und die im Winter fast ausschließlich den armenischen Bauern oblag, bei denen auch die kurdischen Aghas ihre ungeheuren Herden für den Winter einzustellen pflegten, um sie im Frühjahr ohne Entgelt für Mühe und Unkosten wieder abzuholen? Kein Wunder, daß der strenge Winter die Herden ungeheuer dezimiert hat. Mancher Kurde oder Türke, der vielleicht für seine 2000 Schafe Weide hatte, schätzte sich glücklich nach dem Raub dieselben auf 8000 oder 10 000 vermehrt zu haben. Seine 2000 hätte er durchbringen können, aber die 8000 oder 10 000 krepierten ihm alle miteinander. Die Läden und Magazine der Türken in den Städten sind mit den Waren der Armenier vollgestopft, aber wer wird für gestohlenes Gut den vollen Wert zahlen? Man bietet den fünften oder zehnten Teil, und der Türke ist noch froh, wenn er etwas los wird von dem Gut, an dem noch das Blut der Erschlagenen klebt. Aber wer kauft überhaupt etwas? Denn wer noch Geld hat, zieht es vor, es nicht zu zeigen. Der Christ, um es vor der Beutegier der Türken, der Türke, um es vor den Luchsaugen der Steuerbeamten zu verbergen. Die Verluste europäischer Firmen, die nach Armenien hinein gearbeitet haben, beziffern sich auf Millionen, und die Zahlungs-Rückstände vom letzten Jahr müssen einfach verloren gegeben werden, da die Christen nichts mehr haben, und die Türken an der allgemeinen Kalamität einen guten Vorwand haben, nichts zu geben. Auch die Verluste deutscher Firmen im nördlichen Kleinasien und in Syrien, die einen großen Teil des Waren-Importes in der Hand haben, sind, wie mir von allen Seiten versichert wird, enorm. Wenn aber die Geschädigten zu den Konsuln kommen, zuckt man die Achseln. Wer will jetzt bei der Pforte Schadenersatzklagen durchsetzen? Auch die deutsch-anatolische Bahn wird den wirtschaftlichen Ruin von Kleinasien auf Jahre hinaus aufs empfindlichste zu spüren haben.
Kein Wunder, daß jetzt die Pforte die verzweifeltsten Anstrengungen macht, neue Anleihen aufzunehmen. Die Steuerkraft des Landes ist trotz des rigorosen Erpressungssystemes der Steuerverwaltung aufs äußerste erschöpft. Wer wird ein solcher Narr sein, der Hohen Pforte, so lange der Bürgerkrieg in allen Teilen des Reiches tobt, aus der Geldklemme zu helfen? Der wirtschaftliche Bankrott allein genügt, um den Zusammenbruch der Türkei unvermeidlich zu machen.
Aber viele andere Faktoren wirken schon jetzt zu diesem Ziele mit. Zunächst leidet keineswegs nur die christliche Bevölkerung, sondern in hohem Maße auch die türkische unter dem allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang. Von verständigen Türken, die nicht einfach durch den Fanatismus und die Beutegier sich hinreißen ließen, wird dies ganz offen ausgesprochen und sie tadeln aufs schärfste das Vorgehen ihrer eigenen Regierung, indem sie den kommenden Bankrott vor Augen sehen. Die türkische und christliche Bevölkerung war auch in allen wirtschaftlichen Verhältnissen so sehr aus einander angewiesen, daß die Türken den Schaden der Christen am eigenen Fleische empfinden müssen. Die Stockung des Handels trifft die besseren Klassen und die Ruinierung des Landbesitzes der Christen das zahlreiche türkische Proletariat. In den Dörfern klagen überall die Landleute, daß sie die Waren, die sie früher billig von den armenischen Händlern, die das Land bereisten, kaufen konnten, jetzt sich mit Mühe beschaffen und überdies vier-, fünfmal so teuer als früher bezahlen müssen.
Es ist eine naturgemäße Folge der Mißwirtschaft und des allgemeinen Ruins, daß die jungtürkische Partei, welche sich bis jetzt hauptsächlich aus den jüngeren und schon europäisch gebildeten Elementen der oberen Schicht der türkischen Bevölkerung zusammensetzte, auch aus den alttürkischen Kreisen beständigen Zuwachs erhält. Diese jungtürkische Partei ist keineswegs, wie es offiziell dargestellt wird, eine im gewöhnlichen Sinne revolutionäre. Sie würde in einem verfassungsmäßigen Staate eine gesunde Reformpartei bilden und auf die Besserung der Verhältnisse einen mächtigen Einfluß haben können, da sie sich aus den besten Elementen der neueren türkischen Bildung zusammensetzt. Gleichwohl sind auch auf die Jungtürken keine Hoffnungen zu setzen, denn ihre Ideale sind so sehr europäischen Ursprungs, daß sie bei einem Versuch der Durchführung das ganze geschichtliche System des türkischen Staatswesens zerstören und von vornherein an dem muhammedanischen Fanatismus scheitern müßten. So sind sie nur ein neues Element der Zersetzung. Die Pforte weiß, welche Gefahr ihr von dieser Seite droht, und den Befürchtungen des Sultans in dieser Hinsicht ist es wohl zuzuschreiben, daß er erst kürzlich, obwohl sein Palast, rings von riesigen Kasernen blockiert, schon mehr einem Kasernenhof gleicht, sich aus dem wilden Kurdistan zwei seiner geliebten Hamidieh-(irreguläre Kurden-)Regimenter zu seinem persönlichen Schutze verschrieb, deren Ausschiffung in Konstantinopel unter der europäischen Bevölkerung der Hauptstadt nicht gelinde Beunruhigung hervorrief. Wenn von offizieller Seite geltend gemacht wurde, daß die Scheikhs dieser Regimenter als eine Art von Geiseln für das Wohlverhalten der Kurdenstämme im Inneren Kleinasiens dienen sollten, so ist das nur einer von den beliebten Späßen, mit denen die Hohe Pforte die europäische Diplomatie dann und wann zum besten hat. Im Gegenteil, die Kurden, die wohl wissen, wie ihnen das Herz des Beherrschers der Gläubigen gewogen ist, werden in dieser Auszeichnung ihrer Kameraden nur eine Belohnung ihrer in den letzten Monaten geleisteten Dienste und eine Ermunterung zur Fortsetzung ihrer Schandthaten erblicken.
Daß es aber in Armenien nicht zur Ruhe kommt, dafür werden die Kurden so wie so schon sorgen. Nur wird, da bei der christlichen Bevölkerung nichts mehr zu holen ist, die türkische an die Reihe kommen. Es giebt eine hübsche Aesop’sche Fabel: Ein Schafhirt fand einst das Junge eines Wolfes, zog es auf und lehrte es nach einer Weile Lämmer benachbarter Herden zu stehlen. Der Wolf bewies sich als ein gelehriger Schüler und sagte zu dem Hirten: Seit du mich stehlen gelehrt hast, mußt du ein scharfes Auge darauf haben, daß nicht von deiner eigenen Herde etwas fortkommt. Die türkische Regierung mag immerhin ein Auge haben auf die Kurden, die sie angestellt hat die Christen zu plündern. Da aber diese gelehrigen Wölfe noch obendrein so klug sind, sich mit den Schäferhunden, den türkischen Soldaten und Gendarmen unter eine Decke zu stecken, wird sie wohl das Nachsehen haben.
Das schlimmste Resultat der Vernichtungspolitik der Pforte ist aber die Aufstachelung des muhammedanischen Fanatismus, der aus den Ereignissen der letzten Monate gelernt hat, daß er sich straflos in Christenblut baden darf, und daß das christliche Europa von einer Christenverfolgung im Morgenland ungefähr soviel Notiz nimmt wie von einem Mondwechsel. Auch der Türke weiß nun, daß die Zeitalter der Kreuzzüge tempi passati sind, und daß die Herzen der Diplomaten von keinerlei romantischen Empfindungen mehr beseelt werden. „Wir Muhammedaner“, sagte ein Moslem, „sind Sand in die Augen der Welt. Der Sultan läßt alle Armenier abschlachten und Europa wagt nicht den Finger aufzuheben.“ Wer in den letzten Monaten den Orient bereist hat, wird sich, wenn anders er einen Einblick in die Stimmung der muhammedanischen Bevölkerung gewonnen hat, davon überzeugt haben, daß her Hochmut der Moslems keine Grenzen mehr kennt und davon träumt, sich nächstens aller Christen, die unter muhammedanischer Herrschaft sind, zu entledigen. „Wann wird der Sultan die Engländer aus Aegypten herauswerfen?“ ist eine Frage, die man oft von Muhammedanern zu hören bekommt. Spöttische Scherze, wie der daß die englische Flotte aus dem Mittelmeer geflohen sei und die Russen den Islam angenommen hätten, sind nur ein harmloser Auswuchs des Sicherheitsgefühles, in dem sich die Türken wiegen.
Um so ernster ist das Gefühl der Unsicherheit zu nehmen, das sich der christlichen Bevölkerung und der christlichen Missionen aller Konfessionen in allen Teilen des türkischen Reiches bemächtigt hat. Die beliebten muhammedanischen Schimpfworte gegen die Christenhunde, die schon in Abgang gekommen waren, werden wieder auf den Straßen gehört. Einzelne Ueberfälle und Mordanschläge gegen Christen vonseiten der Moslems gehören wieder zur Tagesordnung, und die Repressalien und Scherereien, mit denen schon seit Jahren unter dem fanatischen Regiment des gegenwärtigen Sultans die christlichen Missionen behelligt wurden, nehmen eine schärfere Tonart an. Man kann sich auch nicht darüber wundern, daß die christliche Bevölkerung den gegenwärtigen Zuständen mit der größten Besorgnis für die Zukunft entgegensieht. Ist doch der Beweis geliefert worden, daß binnen wenigen Wochen die systematische Abschlachtung der Christen großer Provinzen in Szene gesetzt werden konnte, ohne daß die christlichen Großmächte dem vorbeugen oder auch nur Einhalt gebieten konnten, ja, daß Dank der Fälschungen der öffentlichen Meinung durch die türkische Preßbeeinflußung die Thatsachen erst nach Monaten bekannt wurden. Wer steht dafür, daß nachdem das Experiment der Christenabschlachtung im östlichen Kleinasien gelungen, nicht auch das westliche Kleinasien, Syrien und Palästina an die Reihe kommt? Die Veranlassung dazu mag heute oder morgen nicht vorliegen, aber das Verhalten der Mächte gegenüber Armenien und Kreta steht dafür, daß wenn die Stunde geschlagen hat, das Einschreiten der Mächte unter allen Umständen zu spät kommen wird. Man kann aus dem Munde von Muhammedanern hören: „Wir wissen wohl, daß die Europäer unser Land haben wollen. Sie werden es bekommen, aber wir werden dafür sorgen, daß sie keinen Christen mehr darin vorfinden.“
Die Frage liegt freilich für diejenigen Landesteile der Türkei, wie Makedonien und Kreta, wo die Christen in starker Majorität sind, günstiger; aber steht nicht die Revolutionierung der christlichen Bevölkerung in diesen Gebieten, die auch schon seit Jahrzehnten auf die von den Mächten garantierten Reformen warten müssen, in einem inneren Kausalzusammenhang mit der Aufrollung der armenischen Frage? Werden, nach allem was vorgekommen ist und noch geschieht, die Großmächte ihre Vogel-Strauß-Diplomatie und England insbesondere seine dog-in-manger Politik aufrecht erhalten können? Harmlose Gemüter sind zwar der Meinung, daß wenn erst die klugen Paschas am goldenen Horn, die eben so ängstlich um die Aufrechterhaltung des Weltfriedens besorgt zu sein scheinen, als die europäische Diplomatie, es fertig gebracht haben, die christlichen Großmächte als Polizeimannschaft zur Herstellung der Ordnung auf Kreta anzustellen, binnen kurzem die orientalische Frage, um einige papierene Verträge bereichert, wieder ad acta gelegt werden wird, und die offiziöse Presse sorgt dafür, daß die Harmlosigkeit in der Beurteilung der Dinge, die im Orient geschehen, nicht ausstirbt.
Man hat nur eins vergessen, daß in Armenien, trotz der Blutabzapfung von reichlich 1/8 alles Christenblutes immer noch ein armenisches Volk von ca. 700 000 Seelen existiert. Was soll aus diesem Volk werden? Vielleicht empfindet es die europäische Diplomatie als eine Erleichterung, daß 500 000 von diesen am Hungertuche nagen und dadurch die Gefahr einer revolutionären Erhebung der Armenier und einer Bedrohung des Weltfriedens im Vergleich mit den Zuständen vor den Massacres bedeutend abgeschwächt ist. In der That, wenn nicht andere Eventualitäten eintreten, ist von dem ausgeplünderten Bettlervolk, dem ja auch Europa, wie es schon die Türken thun, eine Handvoll Kupfermünzen hinwerfen kann, nichts mehr für den Weltfrieden zu fürchten. Aber warum soll dieses Volk zu einem Akt der Verzweiflung, denn zum Tode ist es ja doch verurteilt, nicht mehr fähig sein? Wahrlich, an dem Willen, noch mit letzter Anstrengung an ihren grausamen Schlächtern Rache zu nehmen, würde es vielleicht nicht fehlen. Bevor die europäische Politik eine „armenische Frage“ schuf, gab es in Armenien selbst eine solche nicht, und selbst in den letzten Jahren bis zu dem Ausbruch der Massacres wußte die große Masse der Bevölkerung, wenn sie auch von den versprochenen Formen etwas hatte lauten hören, nichts von einem Streben nach Abschüttelung des türkischen Joches. Aber die türkische Regierung hat durch ihre letzten Maßregeln endlich selbst dafür gesorgt, daß man jetzt auch in Armenien, bis in das letzte Dorf weiß, was die armenische Frage ist. Sie hat es ihr ja durch Anschauungsunterricht beigebracht, daß für die Türkei und auch Europa „armenische Frage“ nichts anders als Ausrottung des armenischen Volkes bedeutet. Wir fragen noch einmal: Giebt es ein Recht der Notwehr? Und wenn das, will man die Armenier, wenn sie jetzt an eine nationale Erhebung denken könnten, immer noch als eine verworfene Bande von Briganten ansehen? Aber, Gott sei Dank! sagt der Diplomat, wir haben ja eben gehört, daß die Armenier dazu nicht mehr imstande sind; denn um einen Kampf zu führen, ist zweierlei nötig: Erstens muß man etwas zu essen haben, und zweitens muß man Waffen haben, und beides haben sie ja glücklicherweise nicht. Wie aber, wenn jemand, der beides, Geld und Waffen hat, auf den Gedanken käme, den Armeniern zu geben, was ihnen fehlt? Das Dritte, was noch nötig wäre: einen verzweifelten Mut, würden sie schon aufbringen. Denn ob sie mit der letzten Rinde Brot oder mit den Waffen in der Hand sterben, das wird ihnen schließlich gleichgültig sein.
Es scheint uns dringend notwendig, daß sich Europa mit dem Gedanken an einen baldigen Wiederausbruch der armenischen Unruhen ernstlich beschäftigt, denn diesmal wird es wahrscheinlich so sein, wie es die Türkei das erste Mal hat glauben machen wollen, daß es sich um eine armenische Revolution handele. Denn der „Jemand mit Geld und Waffen“ wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, ja wenn man den neuesten Nachrichten glauben darf, ist er schon auf dem Platze. Wir sind weit entfernt, es Rußland zu verargen, wenn es sich entschließt, den Schutz der armenischen Christen, den ihm England auf dem Berliner Kongreß abgejagt hat und zuguterletzt ebensowenig als die andern Garantiemächte hat leisten wollen, nun seinerseits in die Hand nimmt. Ein grausames Spiel ist es allerdings gewesen, daß Rußland trieb, als es in den letzten Monaten an der englischen Politik Vergeltung übte und sie ihre Ohnmacht fühlen ließ; grausam darum, weil nicht England, sondern Armenien den Preis für den diplomatischen Sieg bezahlen mußte.
Es ist ein regelrechtes Stiergefecht, welches von den diplomatischen Toreros ausgeführt wird. Mit dem roten Tuch der Reformen wurde zuerst der türkische Stier von dem Pikador England, der sich auf das armenische Roß geschwungen, gereizt. Die anderen Mächte spielten die Banderillos und Capeadores, die ihre diplomatischen Widerhaken nach dem Stiere zu werfen und ihn mit den Bändern und Schärpen der flatternden Verträge scheu zu machen hatten. Was Wunder, daß der Stier in Wut geriet, das Roß mit seinen Hörnern aufspießte und den englischen Reiter aus dem Sattel warf. Aber das alles rührt den russischen Matador nicht. Er wartet nur, bis der Pikador im Sande liegt, um den Stier unversehens mit dem Schwerte zu durchbohren. Während man den Leichnam des edlen Rosses, das bei dem Kampfe drauf ging, aus der Arena schleift, werden sich die Toreros, den Matador an der Spitze, vor dem beifallklatschenden Amphitheater Europas verneigen.
Es war freilich kein abgekartetes Spiel, das die Mächte so aufführten. Aber die Rollen verteilten sich von selbst, und das Ende wird ungefähr das beschriebene sein. Rußland hatte Gründe genug, eine zuwartende Haltung einzunehmen, bis es in Armenien freie Hand gegenüber der englischen Einmischung erhalten. Es ging in seiner diplomatischen Ruhe soweit, daß es zeitweise sogar die Rolle des türkischen Erbfeindes mit der eines Hausfreundes des Sultans zu vertauschen schien. Aber die entente cordiale hat bereits wieder ihr Ende erreicht, und es ist wirklich des grausamen Spieles genug. Je eher es zum Ende kommt, um so besser, damit nicht noch andere edle Rosse bei dem Stiergefecht draufgehen.
Wir thun gut, die Frage „Was soll daraus werden?“ in die andere „Was gedenken die Mächte zu thun?“ zu verwandeln. Wir glauben, daß das christliche Europa ein dringendes Recht hat, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Die Zahl derer ist in der Christenheit groß genug, die an barbarischen Kampfspielen keine Freude haben und glauben, daß solche rohe Sitten im 19. Jahrhundert abgeschafft werden sollten. Was gedenken die Mächte zu thun? Die Ehre der Christenheit ist bei dieser Frage beteiligt.
Zuerst: Soll die Pforte den Triumph behalten, sechs Großmächte in der Sache der armenischen Reformen düpiert zu haben? Denn darüber wenigstens sollte unter den Kabinetten Europas keine Meinungsverschiedenheit mehr sein, daß jeder diplomatische Schriftwechsel und jeder Federstrich in der Frage der armenischen Reformen, nachdem die Maßregeln der Pforte die Ausführung derselben de facto unmöglich gemacht haben, eine unwürdige Farce ist. Oder meint man wirklich noch, daß die Pforte, was sie auf dem Papier bewilligt, in Armenien durchzuführen gedenkt? Wie soll sie das machen? Sollen dieselben Beamten, unter deren Mitwirkung die Besten des armenischen Volkes totgeschlagen wurden, die überlebenden Bettler dazu einladen, neben ihnen in den Verwaltungsräten der Vilajets und Sandjaks und den Gemeinderäten der Nahies Platz zu nehmen? Sollen die Vorsitzenden der Gerichtshöfe, die in einem summarischen Verfahren Tausende von Armeniern in die Gefängnisse geworfen und zum Tode verurteilt haben, den „armenischen Briganten,“ wie sie die Pforte zu nennen liebt, in den Richterkollegien Sitz und Stimme geben? Sollen die Zaptiejs, die dazu angestellt wurden, die friedliche Bevölkerung armenischer Dörfer wie Diebsnester auszuheben und ihre Habe wie gestohlenes Gut an sich zu nehmen, nun dieselben Armenier als ihre Kollegen willkommen heißen und sie die Pflichten der Wächter der Ordnung lehren? Will man die kurdischen Wölfe, wie unlängst mit der Uniform der Hamidieh-Truppen, so jetzt mit Schafpelzen bekleiden und sie lehren, mit den armenischen Schafen in einem Stall zu wohnen? Da wird man besser thun, solange wenigstens die türkischen Paschas im kaiserlichen Serail und in den Provinzen regieren, die Zeit abzuwarten, wo die Löwen Stroh fressen werden wie die Ochsen, und Kühe und Bären miteinander auf die Weide gehen werden. Nein, solange das gegenwärtige Régime besteht, ist es mit den armenischen Reformen ein für allemal aus, und darum noch einmal die Frage: Soll die Pforte den Triumph behalten, sechs Großmächte auf einmal düpiert zu haben?
Zweitens: Was gedenken die Mächte zu thun, damit das Opfer ihrer Politik, das arme ausgeplünderte Armenien, wieder zu seinem Hab und Gut, und zu einem menschenwürdigen Dasein kommt? Sie könnten es ja so machen wie im vorigen Jahre nach dem Massacre von Sassum: Kommissionen einsetzen, Protokolle aufnehmen und diplomatische Noten schreiben. Es würde allerdings notwendig sein, für die Botschaften und auswärtigen Aemter neue Aktenschränke zu beschaffen. Es würde auch mit einer Kommission wie bei dem Massacre von Sassum nicht gethan sein, sondern mindestens zweihundert dazu nötig sein. Statt 108 Protokollen, wie bei dem genannten Präzedenzfall, würden 21.600 Protokolle erforderlich sein, und die diplomatische Korrespondenz, die in dem englischen Blaubuch über Sassum für eine Großmacht allein 267 Nummern aufwies, würde für sechs Großmächte, das Schreibwerk der Pforte noch garnicht gerechnet, auf 320.400 Schriftstücke anschwellen müssen. Warum soll die gewissenhafte Gründlichkeit, die man für die Untersuchung eines Massacres erforderlich erachtete, bei einigen hundert von Massacres nicht angebracht sein? Oder gedenken die Großmächte, nachdem sie die Mücke von Sassum geseiht haben, die Kameelkarawane der armenischen Massacres zu verschlucken? – Also, was gedenken die Mächte für die Opfer ihrer Politik zu thun?
Drittens: Was soll aus den sechshundert bis tausend Dörfern werden, die zwangsweise zum Islam bekehrt wurden? Was aus den Hunderten von christlichen Kirchen, die gegenwärtig als Moscheen dienen? Wollen die Mächte, wie sie einst die Pforte in das Konzert der europäischen Großmächte aufnahmen, nun auch den Islam als eine neue christliche Religionsgemeinschaft anerkennen? Dann brauchte von erzwungener Apostasie nicht mehr die Rede zu sein, und man könnte die Sache auf sich beruhen lassen. Es ist aber anzunehmen, daß die christliche Kirche dagegen protestieren würde. Was aber dann? Glaubt man wirklich, daß die muhammedanische Bevölkerung von Armenien etwa einem von den Diplomaten erwirkten Befehle Gehorsam leisten und den mit dem unaustilgbaren Zeichen der Beschneidung behafteten neuen Glaubensbrüdern wieder die öffentliche Ausübung des christlichen Kultus gestatten würde? Da sollten Diplomaten lieber erst bei einem Mollah in die Schule gehen und sich über die Vorschriften des Koran eine Vorlesung halten lassen. Es wäre der kürzeste Weg, noch weitere hunderttausend Armenier dem Tode auszuliefern, wenn man den Versuch machen wollte, ohne die Garantie einer europäischen Ueberwachung solcher Maßregeln die Rückkehr der zwangsweise konvertierten Bevölkerung zum christlichen Glauben und die Uebergabe der in Moscheen verwandelten Kirchen an den christlichen Kultus zu erzwingen. Also, was gedenken die Mächte in dieser Sache zu thun, um die Ehre der Christenheit gegenüber dem Triumph des Islam in retten?
Auf diese Frage eine Antwort zu geben, ist nicht unsere Sache, sondern wir appellieren an Herz und Gewissen christlicher Kaiser und Könige, die das ihnen von Gott anvertraute Schwert nicht umsonst tragen und als die Stellvertreter der göttlichen Gerechtigkeit auf Erden Rechenschaft dafür schuldig sind, ob sie die Ehre Gottes und das Reich Christi bei der schweren Ausübung ihres Amtes im Auge behalten haben. Wir wissen wohl, daß nicht die christlichen Großmächte, sondern ein Höherer die Geschicke der Welt regiert, aber es hat ihm gefallen, menschliche Werkzeuge zur Erfüllung seines Willens auf Erden zu erwählen. Mögen sie nicht als unbrauchbar erfunden werden!