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Archangel

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CCCC. Worms: der Dom Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCCI. Archangel
CCCCII. Havre, von der Stromseite
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ARCHANGEL

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CCCCI. Archangel.




Ais ein offenes, ebenes, waldbedecktes Land hatte Rußland viele Jahrhunderte lang zum Durchzug der großen Völkermassen gedient, welche des Herrn Hand von Ost nach West wälzte, um die todte römische Welt mit neuen Lebenskeimen zu erfüllen. Als dieser Beruf vollendet war, stand die Völkerströmung und es suchten auch Rußlands schweifende Horden bleibende Ansiedelung. Zuerst lud der Süden ein, denn er war fruchtbar und mildern Klimas; lange nachher brach im rauheren Nord die Pflugschaar den Boden. So ist Rußlands Ansiedelung allmählig von Süden nach Norden gewachsen, und ein Volk entstanden, das kräftig, stark, derb, ausdauernd, robust von Körper, von Charakter gutmüthig, bildungsfähig, leidenschaftlich, regsam, dabei schlau und verschlagen, gastfrei, dienstfertig und gesellig, halb civilisirt, halb im Barbarenthum befangen ist, ein Volk, das wie ein Cyklope durch die Weltgeschichte schreitet. Aber der Gang dieses Riesen ist der des Sklaven, welcher der Peitsche des Gebieters folgt. Noch ist er in’s Joch geschirrt, und auch nur das Joch vermag es, seine rohe Kraft zu zügeln. Keine milde, menschliche Gesinnung in einem Herrscher über Rußland dürfte es wagen, dem Volke mit einem Male und schon jetzt die Fessel abzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, daß in den freien Händen die gelöste Kette zum Werkzeug eigenen Verderbens würde. Der Weg der Erziehung eines solchen Volks zur Gesittung und zur Würdigkeit eines freieren Staatslebens ist ein langer Weg, und nur das große Schicksal kann ihn vielleicht verkürzen.

Noch sind Rußlands nördliche Provinzen arm an Menschen, denn das Land hatte von jeher wenig Reiz für Ansiedelung suchende Völker, oder eroberungssüchtige Fürsten. Deshalb kann dort auch nicht die Bühne großartiger Kampfe, zertrümmerter und wieder aufstehender Reiche und Nationen seyn, und nur von friedlichen Seereisen, Entdeckungsexpeditionen und den unblutigen Bewegungen des Handels berichten die Annalen dieser Landschaft. Aber jene Reisen und dieser friedliche Verkehr waren die Träger der ersten Kulturkeime in die Landfeste des Barbaren; sie rüttelten ihn zuerst aus dem tiefen Schlaf der Rohheit auf, erweckten in ihm das erste Verlangen nach europäischer Gesittung und brachen dem Lichte der Wissenschaft die erste Bahn in die weiten, finstern Regionen des alten, scythischen Continents. In der That ist die Gegend von Archangel für Rußland gleichsam die Wiege der Kultur, der Ort, wo es den ersten Funken des himmlischen Feuers empfing. Das alte Rußland besaß nämlich keine Küsten, als jene des weißen und des Eismeers, und erst in ganz später Zeit, als Peter des Großen Arm das Reich an die Ostsee rückte, wurden der Civilisation kürzere und ebnere Wege bereitet.

[78] Die ersten Dämmerungsstrahlen der Gesittung brachen vor neun hundert Jahren über den russischen Horizont hervor, als das damals gebildetste Volk im nördlichen Europa, die Normänner, das Nordcap umsegelten und an der Mündung der Dwina im weißen Meere die erste Niederlassung gründeten. Es waren Colonien mehr um des Handels, als des Anbaus willen. Kola und Malnuß erhoben sich bis zum 14ten Jahrhundert zu bedeutenden Stapelorten, und das Christenthum hatte an dieser fernen Küste schon früh Verehrer. Das Uebergewicht der Dänen blieb ungestört, bis England unter der Königin Elisabeth durch eine nordöstliche Durchfahrt das zu gewinnen suchte, was sich die Portugiesen durch Umsegelung des Caps erworben hatten: nämlich einen Seeweg nach Ostindien. Es sendete drei Schiffe dazu aus; doch nur eins gelangte bis zum weißen Meere an die Bucht Sankt Nicolas, wo einige Faktoreien der Normänner gelegen waren. Die Dwina aufwärts reisend, erreichte die englische Mission Moskau, und im Namen ihrer Königin schloß sie mit dem Czaar ein Handelsbündniß ab. Letzterer räumte große Vortheile ein. Er bewilligte den Briten zollfreie Ein- und Ausfuhr auf ewige Zeiten, eine Faktorei in Moskau und das Recht, eine Niederlassung am weißen Meere zu gründen. So ward Rußland dem britischen Handel geöffnet und hierauf entstand die noch jetzt bestehende russische Handels-Compagnie in London. Schon 1557 wurde von derselben unter der Führung Jenkinsons die erste Handels-Expedition ausgerüstet, der sich viele britische Handwerker, auch Bergleute, Aerzte, Apotheker, Kaufleute, Gelehrte u. s. w. zur bleibenden Ansiedelung in Rußland anschlossen. Sie waren die ersten, welche die Keime englischer Gewerbe, Künste und Wissenschaft auf russischen Boden pflanzten. 1584 erwarb die Londoner Compagnie die Bucht Sankt Nicolas als freies Lehn vom Czaar, und am Tage des Erzengels Michael wurde von den Briten der Grundstein zu einer Stadt daselbst gelegt, dem heutigen Archangel. Die eifersüchtigen Normänner und Dänen suchten den jungen Pflanzort zu zerstören; sie wurden aber vertrieben, Archangel mit Bollwerken umgeben und dieses so zugleich eine Festung. Aus dieser Zeit stammen, sämmtlich durch Engländer und Deutsche in’s Leben gerufen, die ersten Fabriken in Moskau und den übrigen russischen Großstädten; die ersten Apotheken, die Briefposten, Polizeianstalten, Buchdruckereien und viele andere, vorher nicht geübte Gewerbe und Künste. Archangel, welches nur für den britischen Handel zugänglich und für den Verkehr nach dem Innern, nach Moskau und nach Nowogorod noch besser als Kola gelegen war, (hier hatten die Dänen ihre Hauptfaktorei,) setzte sich allmählig in den Besitz des größten Theils des auswärtigen Handels Rußlands und blühete sichtbar auf. In der Nähe der Stadt wurden von britischen Unternehmern Kupfer- und Eisenbergwerke, Salzsiedereien etc. etc. angelegt; der Schiffbau wurde mit enormen Vortheil ganz großartig betrieben und bis in die fernsten Theile des Reichs, bis nach Kamtschatka hin, ja bis nach Persien und China öffnete sich der britische Handelsgeist von hier aus Verbindungen und Quellen für neuen Gewinn. Wallfischfang, Robbenschlag und andere Zweige der großen Fischerei beschäftigten an den Küsten des Polarmeers und des neuentdeckten Novaja Semlia viele Hundert Fahrzeuge. Es war Archangel [79] eine lange Zeit hindurch für die Briten eine Goldgrube, wie einst Nowogorod für die Hansa eine gewesen war. England setzte es endlich bei dem moskowitischen Hofe durch, daß Archangel zu dem einzigen Hafen erklärt wurde, in welchem seewärts kommende Güter ausgeschifft werden durften, wodurch der ganze russische Seehandel in seine Hände kam und die Dänen fast ganz entfernt wurden. Kein Wunder, daß sich die Stadt zu einem in diesen Regionen nie gesehenen Glanze erhob und man sie eine Zeitlang das Venedig des Nordens nannte. Im siebzehnten Jahrhundert erlangten zwar auch Holland und die deutschen Hansestädte das Recht, nach Archangel zu handeln; doch behielten die Briten stets das Uebergewicht, und sie haben es im Verkehr des Platzes bis auf den heutigen Tag behauptet, obschon ihnen die Vortheile ausschließlicher Privilegien längst entzogen sind und sich seit der Erhebung Petersburgs die Verhältnisse und die Wege des Handels so sehr verändert haben. Den ersten Stoß erhielt das große und blühende Archangel durch die Aufhebung der englischen Privilegien unter dem Czaar Alexius Michaelowitsch, in Folge der Hinrichtung König Karls I. (1649); denn er wollte das Volk züchtigen, das gewagt hatte, Hand an seinen Herrscher zu legen. Fünfzig Jahre später keimte für Archangel wieder eine große Hoffnung, als Peter der Große die Absicht aussprach, den Ort zum Haupt- und Freihafen des Reichs zu erklären und alle Haupthandelswege dorthin zu leiten; er war dreimal selbst da und untersuchte selbst alle Verhältnisse; endlich aber erkannte sein Adlerblick, daß Archangels geographische Lage nicht geeignet sey, eine Hauptrolle in seinem Plane, Rußland auf die Stufe einer europäischen, politischen und Handelsmacht vom ersten Range zu erheben, zu übernehmen; – er übertrug daher solchen an Petersburg, und damit war das Schicksal Archangels für immer besiegelt. Ausgestrichen war’s aus der Liste der Handelsstädte ersten Ranges – und um den Umzug des Verkehrs und seiner Diener, der Kaufleute und Fabrikanten, nach Petersburg zu beschleunigen, belud man Archangel mit drückenden Zöllen, während der Hafen seiner begünstigten Rivalin allen Nationen sich öffnete. Rasch sank nun Archangel von seiner Höhe herab. Intelligenz und Kapitale wanderten nach Petersburg aus. Erst als der Zweck des Autokraten vollständig erreicht war, stellte er Archangel in Bezug auf Handelsberechtigung mit Petersburg wieder gleich; doch der Umschwung der Verhältnisse war für immer geschehen. Der Verkehr hatte die ihm gewiesene neue Bahn gangbar gemacht; er war nicht wieder auf die frühere zurückzuleiten. Petersburg blieb im Vortheil und sein Handel hat den archangelschen seitdem um mehr als das Zwanzigfache überflügelt. Archangel hat nur Das gerettet, was ihm der petersburger nicht nehmen konnte: den Verkehr, der ihm in seiner Lage aus dem weiten Russenreiche naturgemäß zufällt. Noch ist Archangel der Mittelpunkt des Handels der nördlichsten Provinzen Rußlands, besonders aber Sibiriens, und namentlich sind es solche Produkte, welche hier Markt suchen, die vermöge ihres Umfangs und ihrer Schwere sich zum Kanal- und Landtransport nach dem fernen Petersburg weniger eignen. Dahin gehören Holzwaaren, Matten, Hanf und Flachs, Theer, Eisen, Pech etc. etc. Auch ungeheuere [80] Massen anderer zum Schiffbau, zur Rhederei und zum Fischfang dienenden Produkte nehmen den Weg hierher, denn jene Gewerbe sind hier stets blühend geblieben. Für Mehl zur Versorgung der lappischen und norwegischen Küsten ist Archangel ebenfalls ein Hauptstapelort. Die hiesige Einfuhr besteht meist in Colonialwaaren und englischen Fabrikaten. Sie ist fast ganz in den Händen einiger hier etablirten englischen Häuser, welche die Uralprovinzen und Sibirien, auch die Küsten Norwegens damit versorgen, ja selbst von hier aus nach den Sandwichsinseln und der Nordwestküste von Amerika Absatz suchen. Von 300 größern Seeschiffen, die jährlich hier expedirt werden, sind drei Viertheile englische. Man schätzt den Gesammtwerth der Ausfuhr zu mehr als 12 Millionen, den der Einfuhr auf drittehalb Millionen Rubel.

Archangel ist eine Stadt mittlerer Größe, von fast 2000 Häusern, mit etwa 22,000 Einwohnern. Sie ist hübsch und regelmäßig gebaut, obschon die meisten Häuser, wie auch das Straßenpflaster, nur von Holz sind. Ihre Lage, in flacher Gegend an der Dwina, einige Meilen vom Meere, gibt ihr keine imposante Ansicht. Sie wird in Neustadt und Altstadt geschieden. Jene enthält die zum Theil sehr schön und geschmackvoll aufgeführten Wohnungen der höchsten Provinzialbehörden, der reichsten Kaufleute und Fabrikanten. Gute höhere Lehranstalten (ein Seminar, Gymnasium, Schiffahrtsschule), ferner das kaiserliche Arsenal, das zahlreiche Offizier- und Beamtencorps, und die Menge der hier wohnenden Ausländer, Kaufleute und Fabrikherren bringen ein recht geselliges Leben hervor, und es herrscht ein gebildeterer Ton, als in irgend einer der größern Provinzialstädte des innern Rußlands. Luxus und Lebensverfeinerung haben ihre nördlichste Stätte in Archangel, denn der Ort liegt 4 bis 6 Grad nördlicher als Petersburg, Stockholm und Christiania. Im Sommer gibt eine wandernde Truppe zuweilen Theater-Vorstellungen, und Concerte sind gewöhnlich. Im harten Winter aber ist’s hier sehr still, denn viele Reiche wohnen dann in Petersburg oder Moskau, und das gesellige Leben zieht sich in enge Kreise zurück.