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An der Berliner Börse

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Titel: An der Berliner Börse
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 454–459
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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An der Berliner Börse.


Elf Uhr Vormittags.

Wir befinden uns Ecke der Burg- und Neuen Friedrichstraße, vor dem Tempel des Gottes Mercur oder der Göttin Fortuna – wie man will. Die Börsenleute selber nennen das mächtige, prächtige Haus etwas unehrerbietig den Palast der Prinzessin Mumpitz. Noch sind die dreizehn Thüren (eine ominöse Zahl!), welche in das Vestibül führen, geschlossen, aber schon kauern und lungern davor Zeitungsjungen, Apfelsinenmädchen, Dienstmänner etc. Die von dorischen Säulen getragene Vorhalle füllt sich alsbald mit Börsenleuten, welche sofort an’s Geschäft gehen.

Schon um 11 Uhr beginnt hier draußen die Vorbörse. Sie wird officiell nicht anerkannt; man legt ihr blos einen Privat-Charakter bei, aber sie kümmert sich nicht darum; sie hat trotzdem ihre volle Bedeutung. Schon hier wird eifrig gehandelt, schon hier Cours auf Cours gemacht; schon hier treffen telegraphische Depeschen von der Wiener Vorbörse ein; schon hier entscheidet sich häufig, ob die Börse „fest“ oder „matt“, „animirt“ oder „lustlos“ wird, ob eine „Hausse“ oder eine „Baisse“ heranzieht, oder gar der Teufel los ist, d. h. eine „Panique“ droht, welche die Course procentweise stürzen läßt.

Die Herren, welche so früh versammelt sind, gehören der Coulisse an. Es sind im engern Sinne die Speculanten der Börse. Sie handeln nicht per Comptant: Zug um Zug und Geld gegen Waare, sondern sie machen lauter Zeitgeschäfte, die erst später, nach Tagen oder Wochen, regulirt werden. Sie [455] kaufen und verkaufen ohne Geld, nur auf Credit; sie verkaufen Papiere, die sie gar nicht haben, und sie kaufen Effecten die sie nie abzunehmen gedenken.

Die Coulisse zerfällt in zwei Lager, in die Hausse- und in die Baisse-Partei. Jene speculirt auf das Steigen, diese, auch Contremine genannt, auf das Fallen der Papiere. Die Zeitgeschäfte sind von so mannigfacher Art wie die Thiere in der Arche Noah’s. Wir könnten Bogen darüber schreiben und der nicht eingeweihte Leser würde uns doch nicht verstehen. Die berühmten Mysterien zu Eleusis waren gar nichts dagegen.

Zehn Minuten vor Zwölf.

Die Thüren werden geöffnet. Die „Vorbörse“ löst sich auf. Von allen Seiten strömen die Jünger Mercur’s herbei. Sie kommen zu Fuß und zu Wagen, in Droschken zweiter und erster Classe, auch in eigenen, oft kostbaren Equipagen mit galonnirten Kutschern und Bedienten. Es kommen die „jungen Leute“ (Commis), die Boten und Ausläufer; es kommen die Makler, Agenten und Banquiers; es kommen die „Häuser“ und die „großen Häuser“.

Alles drängt und fluthet in das Vestibül, wo ein Portier und zwei Controleure Wache halten, drei stattliche Figuren in schmucker Uniform und, wie alle Bedienstete und Unterbeamten, christlich-germanischer Abkunft. Links geht es zur Fonds- oder Geldbörse, rechts zur Producten- oder Waarenbörse. Hier ist der Zuspruch verhältnißmäßig schwach, dort stark und massenhaft. Eine mächtige Thür, in Form eines mit grünem Tuche ausgeschlagenen Drehkreuzes, das man geschickt und behutsam benutzen muß, bildet den Zugang. Bei jeder Umdrehung werden wohl ein viertelhundert Personen befördert, und zwar im Geschwindschritte. Trotzdem schlüpft so leicht Keiner durch. Der Controleur kennt Jeden, und wen er nicht kennt, den hält er an, fragt nach der „Karte“ oder nach dem „Hause“ und führt den Unberechtigten höflich am Kragen wieder hinaus.

Wir sind nicht Mitglied der Kaufmannschaft, haben keine Eintrittskarte gelöst; also steigen wir auf die Galerie, wo der Zugang ohne Weiteres für Jedermann, auch für Damen, freisteht. Unten, im Börsensaale selber, werden, mit Ausnahme der Heben am Büffet, nur Männer gelitten.

Wir befinden uns in dem größten geschlossenen Raume Berlins. Der Börsensaal ist beispielsweise dreimal so groß, wie der früher viel bewunderte Königssaal bei Kroll. Er faßt über 5000 Personen. Er ist großartig und prächtig, vielleicht etwas zu reich geschmückt. Polirte, aus einem Stück bestehende Säulen von schlesischem Granit, 128 an der Zahl, tragen, in zwei Reihen über einandergestellt, eine umlaufende Galerie. Die 65 Fuß hohe gewölbte Decke ist ebenso wie der getäfelte Fußboden von kunstreicher Arbeit. Eine offene Arcade, über welche eine nach beiden Seiten hin sichtbare Uhr mit doppeltem Zifferblatte angebracht ist, theilt den Saal in zwei Hälften: die nördliche gehört der Geld-, die südliche der Getreide-Börse, und beide sind von den Sitzreihen der Handelsfirmen durchzogen.

Zwölf Uhr.

Der Saal ist gefüllt. Die officielle „Börse“ hat begonnen. Wir blicken auf ein Meer von Köpfen, theils voll von meist dunkeln, blanken oder wolligen Locken theils gelichtet und kahl und erglänzend wie silberner Mondschein. Unten sind Tausende von Lippen in Bewegung. Man spricht; man ruft; man schreit – aber wir verstehen kein Wort. Nur ein Murren, ein Murmeln klingt herauf und schlägt gegen die Wände und schlägt bis zur Decke. Was ist dagegen das Gemurmel, welches wir neulich beim Gastspiele der Meininger im „Fiesco“ hörten, das künstliche Gemurmel des aufgeregten Volks? Ein schwaches fragwürdiges Summen. Hier dagegen haben wir Natur und Kraft; hier redet Israel in begeisterten Zungen, in den unnachahmlichen eigenartigen Kehlhauchen und Gaumenlauten. Es rauscht wie der Wald vor dem ausbrechenden Gewitter; es braust wie die See nach dem Sturme.

Wir schauen hinab und suchen nach einem bekannten Gesicht. Plötzlich entdecken wir Herrn Cohn und der Zufall will’s, daß er auch uns bemerkt. Er grüßt und nickt; er lächelt und winkt, und wir eilen hinab. Es leben in Berlin circa 500 mehr oder weniger ausgewachsene Männer, die sich Cohn oder Kohn schreiben, aber fast alle mosaischen Glaubens sind und fast alle für den Handel schwärmen. Gut die Hälfte der Cohn’s geht täglich an die Börse, und zu diesen gehört auch unser Freund Cohn. Seinen Vornamen nennen wir nicht, denn wir wissen ihn nicht. Herr Cohn ist „corporirt“, das heißt Mitglied der Kaufmannschaft. Er hat das Recht, Fremde einzuführen; er erwartet uns am Drehkreuz, reicht uns seinen Arm, und wir spazieren durch die geräumige Garderobe, wo leider seit dem „Krach“ häufig Regenschirme, Hüte und Paletots verschwinden, in den Börsensaal.

Der Eintritt ist nur von den Seiten. Die beiden Längswände sind von je dreizehn Thüren durchbrochen, welche mit den Thüren des Vestibüls correspondiren. Die nach der Vorhalle hin werden nie geöffnet, weil sonst die ganze Börse vor Zug auffliegen würde, wohl aber die gegenüberliegenden, welche in einen Säulenhof führen, wo man im Sommer Luft schöpft.

Die Börse ist lange nicht mehr so besucht, wie in den Jahren 1871 bis 1873. Trotzdem herrscht noch immer Gedränge, staut und stopft sich zuweilen die Menge, und wir müssen uns dann mit Armen und Schultern Bahn brechen. Täglich melden die Zeitungen eine größere und größere „Geschäftsstille“, die „kaum noch überboten werden könnte“. Aber dem Fremden wird das Leben und Treiben heute noch imponiren. Mindestens neun Zehntel der Anwesenden stammen aus dem gelobten Lande. „An den hohen jüdischen Festtagen“, wie es in den Berichten heißt, ist die Börse leer und verödet.

Auf erhöhten Plätzen, umgeben von Schranken, sitzen die Makler, welche die Geschäfte zwischen Käufer und Verkäufer vermitteln. Sie erhalten ihre Aufträge vor und während der Börse von den Banquiers oder von den Speculanten, verkehren also nicht mit dem Publicum selber, und fertigen über die abgeschlossenen Geschäfte Schlußzettel, Schlußnoten oder bloße Notizen aus. Banquiers oder Speculanten handeln aber auch, ohne Makler, direct mit einander. Es giebt amtliche angestellte oder vereidete Makler und unvereidete oder Pfuschmakler. Zwischen Beiden besteht kein besonderer Unterschied, auch vermitteln die Pfuschmakler nicht selten mehr Geschäfte als die vereideten Makler. An der Fondsbörse bilden allein die Makler mit ihren Gehülfen ein Corps von mehreren Hundert Personen, während die Zahl der anderen Besucher: Banquiers mit ihren Commis, Speculanten, Private etc. durchschnittlich wohl über 2000 beträgt.

An einer Maklerbarre werden Staatspapiere, Pfand- und Rentenbriefe, Wechsel und Geldsorten, Hypotheken-Certificate und Lotterie-Anleihen gehandelt, an der andern Eisenbahnpapiere, an der dritten Bank-, an der vierten Industrie- und Versicherungs-Actien. Ist das Geschäft lebhaft, so sind die Maklerschranken wie vollgepfropft, und jede Barre ist von einem drei- bis zehnfachen Gürtel umlagert. Auf den Fußspitzen stehend und sich fast die Hälse ausrenkend, wirft man sich Fragen und Antworten zu, handelt man über die Köpfe von sechs Vordermännern hinweg: Köln-Mindner oder Rheinische Eisenbahn-Actien, Darmstädter Bank und Meininger Credit, Harpener Bergbau und Bochumer Gußstahl. Die Gesammtzahl der Papiere, welche an der Berliner Börse Cours haben, ist auch gegen 2000.

Die Banquiers erhalten von ihren Kunden eine Provision, welche 1/8 bis 1/4 Procent vom Nennwerthe der gekauften oder verkauften Effecten beträgt. Die Makler erhalten von den Banquiers und Speculanten eine Courtage, vom Käufer wie Verkäufer gewöhnlich 1/2, also zusammen 1 pro Mille. Erscheint namentlich die letztere Gebühr nur klein, so haben doch verschiedene Makler, als das Geschäft noch blühte, durchschnittlich mehrere Hundert Thaler Courtage an einem Tage eingestrichen, woraus man entnehmen kann, wie riesig der Umsatz gewesen ist. Selbst heute giebt es noch Makler, welche durch Vermittelung von Zeitgeschäften eine tägliche Einnahme von circa 50 Thalern erzielen. Viele ihrer Collegen dagegen, besonders die, welche in Industriesachen handeln, machen gegenwärtig sehr schlechte Geschäfte.

Trotz der „miserabeln Zeiten“, trotz der „drückenden Geschäftsstille“ herrscht in einem Theile des Saales, in der südwestlichen Ecke, stets arges Gedränge und wildes Getümmel. Es ist das Lombarden-Viertel; es ist das Reich der Coulisse und der Pfuschmakler. Hier werden nur Zeitgeschäfte gemacht;

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Ein Mittag auf der Berliner Börse. Nach der Natur aufgenommen von H. Lüders.

[458] hier werden nur Spielpapiere zu festen Coursen gehandelt. Im Vergleiche mit diesem Schauspiele ist das sonstige Treiben der Börse still und matt zu nennen. Hier wird eine Schlacht geschlagen; hier tobt ein Kampf wie einst vor Troja, mit lautem Rufen im Streite. Man stürzt hin und her; man springt auf die Sitze; man steht einander fast auf den Köpfen. „Wer kauft Credit?“ „Wer hat Credit?“ „Ich nehme Franzosen mit 61/4.“ „Ich gebe Lombarden mit 21/2.“ (Der Kürze wegen werden im Laufe des Geschäfts blos die Einer und Bruchtheile gerufen, während man die Zehner und Hunderte als bekannt voraussetzt.) „Wie steht Credit?“ „Was gelten Lombarden?“ „Ich brauche Credit bis 75/8 – So schallt es wild durch einander, wild und ununterbrochen. Die Rufer im Streite, welche, das Notizbuch und den Bleistift in der Hand, wie besessen hin- und herspringen, sind die Pfuschmakler, und ihr Dienst ist wirklich anstrengend. Die Meisten leiden an ewiger Heiserkeit; Einige sehen bedenklich schlagflüssig aus; Manche verlieren binnen ein paar Jahren völlig die Stimme und müssen dann nothgedrungen ihren Abschied nehmen.

„Rumänier (Rumänische Eisenbahn-Actien) zu 331/2,“ ruft ein dünnes Männchen mit schriller Stimme und plappert es in einemfort, ohne den Athem anzuhalten. Mit 331/2 bietet er Rumänier aus. Herr Cohn, der sich noch immer an unserer Seite befindet, macht plötzlich gegen das Männchen eine Wendung und spricht: „50,000 (Thaler) von Ihnen.“ Nun brauchte der Andere blos zu antworten: „An Sie!“ und das Geschäft wäre rechtsgültig abgeschlossen. Aber nein, er blickt Herrn Cohn nur grinsend in’s Gesicht und versetzt mit demselben breiten Grinsen: „Reden Sie doch keinen Stuß!“ Herr Cohn lächelt gleichfalls, murmelt mit offenbarem Wohlwollen: „Alter Spitzbube!“ und geht weiter. Das Männchen aber nimmt seinen Ruf wieder auf, und Herr Cohn erklärt uns dieses Räthsel, indem er bemerkt: „Der Alte braucht selber Rumänier, darum schreit er sie herunter.“ – „Credit! Ich kaufe Credit!! Ich nehme 50 (Stück) Credit mit 71/2!!!“ brüllt ein großer Mann, ebenso schön anzusehen wie Thersites, und mit einem ebenso melodischen Organ ausgerüstet. „Ich gebe sie franco (ohne) Courtage,“ bemerkt ein modischer Jüngling. „Mit! Sonst verdiene ich nichts,“ brummt Thersites. „Franco!“ wiederholt der Modische. Thersites besinnt sich noch einen Augenblick, dann kritzelt er in sein Taschenbuch, spricht „Gemacht!“ und stürzt sich wieder in die Schlacht.

Unter der Coulisse ist jedes Alter, vom Milchbart bis zum Greise, vertreten, und sie rekrutirt sich aus den verschiedensten Ständen. Hier ist Mancher, der „seinen Beruf verfehlt hat“, manche „catilinarische Existenz“. Viele sind noch Neulinge, Andere erfahrene bemooste Häupter. Die gewöhnlichen Coulissiers beschränken sich in ihren Abschlüssen auf mäßige Summen und spielen thatsächlich um das tägliche Brod. Die da selbstständig vorgehen und größere Operationen unternehmen, heißen Faiseurs, aber augenblicklich fehlt es an solchen sehr. Dort sitzt ein Kerlchen, gelb wie eine Quitte, mit klugen stechenden Augen. Der Mann sitzt wie ein bevorrechteter Stammgast unmittelbar vor dem Makler, dem er fortwährend Aufträge ertheilt und den er fast allein beschäftigt. Seine Glaubensgenossen, die Baissiers, sehen mit Bewunderung zu ihm nicht hinauf, dazu ist er zu klein – aber doch hinunter, und richten sich nach ihm, wie die Heerde nach dem Leithammel. Herr Levi – so heißt er, wenn wir nicht irren, – verkauft ein 50 Stück Credit und ein 100 Stück Lombarden nach dem andern. Aber er verkauft nicht blos; er kauft auch wieder; er kauft fast ebenso oft – „um sich zu decken“, wie es in der Börsensprache heißt. Der Cours steigt und fällt wie die Meereswogen. Herr Levi hat sich „gedeckt“ und „fixt“ von Neuem frisch darauf los. Er glaubt an die Baisse, und in diesem Glauben scheint sich auch der allergrößte Theil der Börse zu befinden.

Die Mehrzahl der Jobber, wie die bloßen Spieler genannt werden, hält nicht lange Stich, sondern verschwindet etwa binnen Jahres-, ja häufig schon nach Monatsfrist, und sie werden nur dann vermißt, wenn sie, was sich nicht zu selten trifft, die Differenzen schuldig geblieben sind. Wie man behauptet, sollen die Haussiers besser als die Baissiers oder Fixer gedeihen, aber – genauer besehen – spinnen die Jobber überhaupt keine Seide. Sie bereichern nur die Banquiers und die Makler, und die kleinen Speculanten werden fast regelmäßig von den großen aufgefressen.

Allerdings gelten die Zeit- oder Differenzgeschäfte nicht für ganz reinlich und zweifelsohne. Sie werden nicht im amtlichen Theile des Courszettels, sondern in einem Nachtrage notirt, und hauptsächlich durch Pfuschmakler vermittelt. Dessen ungeachtet beherrschen sie die ganze Börse, geben täglich Stimmung und Haltung derselben an, setzen Hausse oder Baisse auch für alle übrigen Papiere in Scene.

Ein Uhr.

Das Geschäft hat seine Höhe erreicht. Durch das Gewühl und Gedränge winden sich fortwährend die Boten des in einem Nebenzimmer befindlichen Telegraphenbureaus, und alsbald ist der Fußboden mit Couverts bedeckt. Der Empfänger wagt das Telegramm nur ein Viertel auseinanderzufalten und liest es dicht vor dem Gesicht, damit ein Nachbar rechts oder links nicht etwa hineingucke. Will Einer dem Anderen etwas allein sagen, so packt er ihn beim Kopfe und flüstert ihm in’s Ohr. In gleicher Weise verkehren auch die Ausläufer und die „jungen Leute“ mit ihren Chefs, denen sie Meldungen abstatten, oder von denen sie Befehle erhalten. Die „Häuser“ und die „großen Häuser“ sitzen in stolzer Zurückgezogenheit auf ihren Plätzen, tauschen dann und wann eine Bemerkung aus, beobachten ruhig und winken ihre Angestellten heran, denen sie zuweilen nur ein Wort sagen oder mit den Augen ein Zeichen machen, worauf gewöhnlich irgendwo eine Bewegung entsteht, gewisse Effecten in „Posten“ (großen Summen) gekauft oder verkauft werden, bald so heimlich wie möglich, bald mit absichtlichem Geräusch.

In der Ecke neben dem Büffet, am sogenannten Moritzplatz, werden die „Schundpapiere“, z. B. federleichte Eisenbahnen wie Rhein-Nahe, Lüttich-Limburg, Schweizer Union Tamines-Landen, auf Zeit, oder eigentlich „auf Stunde“ gehandelt. Hier hat eine armselige Sorte von Pfuschmaklern Posto gefaßt, die von Stunde zu Stunde um eine Kleinigkeit speculiren, die sich untereinander 1 bis 2 Thaler abnehmen, und bei einem Verluste von 5 Thalern „ausbleiben“.

Während die Beamten, denen „die Erhaltung und Handhabung der äußeren Ruhe, der Ordnung und des Anstandes obliegt“, fernab von dem lärmenden Treiben ein verstohlenes Mittagsschläfchen halten, belegen sich im „Lombardenviertel“ ein paar erhitzte Jobber mit den schwersten Ehrenkränkungen und gehen wohl auch zu Maulschellen über. Im „Lombardenviertel“ herrscht allgemeine Redefreiheit; Verbal- und Realinjurien werden als selbstverständlich gegeben und empfangen; sie kommen zu häufig vor, als daß man deswegen klagen, als daß man deshalb sich beleidigt fühlen sollte. – Von Zeit zu Zeit gehen die „Berichterstatter der Presse“ durch den Saal, um über den Stand der Geschäfte Erkundigungen einzuziehen.

Zwei Uhr.

Die Börse ist officiell zu Ende. Die „Häuser“ und die „großen Häuser“ haben sich schon vorher entfernt, jetzt leert sich allmählich der Saal. Die vereideten Makler ziehen sich zurück, um die Course festzustellen. Jeder Makler handelt nur in bestimmten Effecten, und jedes Papier wird von zwei, drei und mehr Maklern gehandelt, welche den Cours gemeinschaftlich machen, indem sie die erhaltenen Aufträge zu An- und Verkäufen gegen einander abwägen.

Unter Vergleichung der verschiedenen unlimitirten, limitirten und festen Aufträgen einerseits, des vorhandenen Materials und beziehentlich der vorhandenen Käufer andererseits, ermitteln die Makler gemeinschaftlich für jedes Papier den sogenannten Mittelcours, welcher nun für die limitirten wie für die unlimitirten (aber nicht für die festen) Ordres zur Ausführung kommt und der auch in den amtlichen Courszettel aufgenommen wird. Selbstverständlich fällt der Cours, je mehr Waare am Markte ist, und er steigt, wenn die Käufer überwiegen. Nach Rückkehr der Makler werden die festgestellten Mittelcourse an den verschiedenen Schranken ausgehängt und von den Reportern der Zeitungen abgeschrieben. Inzwischen geht der Handel im „Lombardenviertel“ mit ungeschwächten Kräften fort.

[459] Halb Drei.

Es werden die letzten Speculationscourse notirt. Der Portier läutet die Börse förmlich aus. Er treibt mit der Glocke die Jobber vor sich her, und hinter ihm dringen Weiber mit Besen und Schaufeln ein, um den Saal zu reinigen.

Während der Gründerzeit währte die Börse bis 3 Uhr, und die Mittelcourse wurden erst um 2½, ja um 2¾ veröffentlicht, was den Herren Berichterstattern der Presse häufig Anlaß zu Klagen gab, denn der Courszettel konnte nur mit Mühe und Noth noch in die Abendzeitung aufgenommen werden.