Am Grabe eines braven Mannes
Es ist Pfingstmorgen. Mild strahlt die schönste Maiensonne vom blauen Himmel hernieder und gießt ihr flüssiges Gold über das sprossende, schwellende Grün, in welchem Millionen Thautropfen funkeln. Ich habe alle Fenster weit geöffnet und herein dringt der Duft von tausend und abertausend Blüthen und Blumen, den ein lindes Lüftchen aus den Parks und Gärten jenseit der Genfer Vorstadt Eaux-Vives herüberträgt. Vor mir liegt die herrlichste Landschaft der Welt: links der blaue Spiegel des Leman, darüber sich erhebend die Rebenhügel von Cologny, weiter die waldigen Höhen des Voirons, rechts die schroffen Felsenwände des Salève, wie eine von Riesenhänden aufgeführte Mauer zum Himmel emporsteigend. Dort in gerader Richtung breitet sich die erhabene Alpenwelt Savoyens aus bis zu den Eisfeldern und Zacken der Montblanckette hin. Auch manche der näheren Berge, der Môle und die Höhen am Eingang des Sixterthals, sind noch in die winterliche Schneedecke gehüllt; aber es muß auch dort Frühling werden, und bald werden duftende Kräuter und Blumen jene Berghalden in üppige Weideplätze verwandeln, von denen das melodische Glockengeläute grasender Heerden dem Wanderer entgegentönt. Tiefer Frieden liegt über der erhabenen Landschaft, nur wie das Murmeln ferner Meereswellen dringt bis in diese großartige Natur das wilde Waffengeräusch, welches in diesem Augenblick die Welt drohend durchtobt. Von St. Peter und allen Kirchen der Stadt tönen die Festglocken, die fromme Menge eilt zu den Gotteshäusern – wer kann sich der feierlichen Stimmung entziehen?
Auch wir folgen ihr und wollen sie der Gedächtnißfeier eines Mannes weihen, den sie vor wenigen Tagen zu Grabe trugen an den blühenden Ufern des Genfer Sees, fern von feiner Heimath, aber im geheiligten Boden der Freiheit, eines Mannes, in dessen Herzen die Gottesidee der Freiheit und Humanität ihren geweihten Altar aufgeschlagen hatte. Eines Mannes wollen wir gedenken, dessen Bild von dem wirren, wüsten Treiben der Gegenwart sich abhebt wie eine erhabene Heldengestalt des Alterthums, eines Mannes, an dessen Namen sich einst die Flüchtlingshoffnungen einer Nation knüpften und dessen sich eine bessere Zukunft erinnern wird, erinnern muß, wenn sie gerecht sein will gegen ihre uneigennützigsten, lautersten, edelsten Verkündiger. Zu einer solchen Gedächtnißfeier aber ist des Domes „ehrwürdige Nacht“ zu eng: diese weite, blühende, verheißende Natur ist der rechte Tempel.
Es ist Ferdinand Flocon, von dem ich spreche, einer der edelsten Söhne Frankreichs, welchen das Vaterland in der Verbannung hinsterben ließ.
Als ich am 5. Mai Jules Barni, den berühmten Uebersetzer und Erläuterer unsers großen Gedankenrevolutionärs Kant, in seiner Wohnung am Quai du Montblanc zu Genf besuchte, um ihn um einige biographische Notizen und Mittheilungen über seinen persönlichen Verkehr mit seinem verstorbenen Freunde Charras zu bitten, fand ich den gemüthvollen Philosophen in schmerzlichster Bewegung und mit Thränen in den Augen. „Sie kommen, um mit mir über den Obersten Charras zu sprechen,“ sagte er, „und in diesem Augenblicke haben wir noch einen zweiten edeln Todten zu beweinen; da lesen Sie!“ Und damit reichte er mir ein eben angelangtes Telegramm, welches das an diesem Morgen in Lausanne erfolgte Hinscheiden seines Freundes Flocon meldete.
Zwei Tage später sammelte sich vor einem bescheidenen Landhaus dicht bei der waadtländischen Hauptstadt, welches den bezeichnenden Namen Persévérance führt, eine stille Schaar ernster Männer; mehr als fünfzehnhundert waren hier, welche die sterbliche Hülle des berühmten Verbannten, der dort gewohnt hatte, zu ihrer letzten, ewigen Ruhestätte auf dem Friedhofe de la Pontaise [362] geleiteten. Der Zug bestand aus Einheimischen aller Parteien, aus Schicksals- und Gesinnungsgenossen des Hingeschiedenen und aus Freunden, welche selbst aus fernen Gegenden Frankreichs herbeigeeilt waren. Eine Liedertafel, aus Deutschen in Lausanne gebildet, sang Goethe’s „Abendlied“ am Grabe, dann sprachen Victor Chauffour-Kestner, Charras’ Schwager und Mitstrebender, der Pariser Journalist Chassin, Professor Barni aus Genf, Etienne Arago und der Schweizer Robodey Worte der Anerkennung, der Liebe und des Schmerzes um den Todten. Et. Arago nannte sich den ältesten Freund Flocon’s und gab eine gedrängte, ergreifende Lebensskizze des ausgezeichneten Mannes, welcher wir einige Mittheilungen entnehmen, die das Wesen und Wirken des Verstorbenen besser charakterisiren, als eine pomphafte Lobrede. Ferd. Flocon, 1800 von wenig bemittelten Eltern in Paris geboren, war einer von den Franzosen, welche mit der größten Beharrlichkeit eine rein demokratische Entwickelung ihres Vaterlandes erstrebten. Noch sehr jung, nahm er den lebhaftesten Antheil an allen offenen und geheimen Kämpfen gegen die Restauration. Er bekleidete die bescheidene Stelle eines Stenographen in den Kammersitzungen, und dort hatte er Gelegenheit, praktische politische Vorstudien zu machen und das Wesen des parlamentarischen Lebens gründlich kennen zu lernen. Auch betheiligte er sich an der kleinen demokratischen Presse, welche, wenn auch mit der durch die Verhältnisse gebotenen größten Vorsicht, wesentlich zur politischen Aufklärung der Massen beitrug. Mit Begeisterung begrüßte der junge Mann die Julirevolution, allein seine Hoffnung, schon damals die Republik entstehen zu sehen, ging nicht in Erfüllung. 1844 begründete er, von drei Deputirten, welche sich offen zum Republikanismus bekannten, unterstützt, die unter dem Titel „Réforme“ so berühmt gewordene Zeitung. „Keinem französischen Demokraten,“ sagte Et. Arago, „sind die Opfer jeder Art unbekannt, welche die ‚Réforme‘, dieses von einem Tag zum andern lebende Blatt, von ihrem Hauptredacteur in Anspruch nahm. Ich habe ihn vier Jahre an der Arbeit gesehen, unaufhörlich, wie einen Taglöhner, und sich die schwersten Entbehrungen auferlegend, aber auch beständig voll Hoffnung für den entscheidenden Sieg der großen Grundsätze und dazu beitragend mit einem unbestreitbaren Talent, einer Lauterkeit der Ideen, der selbst Godefroy Cavaignac auf seinem Todbette feierlich Gerechtigkeit widerfahren ließ und welche Charras zu schätzen wußte.“
Der Sieg dieser großen Grundsätze blieb in der That nicht aus, wenn er auch nur ein vorübergehender sein sollte. Der 24. Februar 1848 brachte Frankreich die Republik und Flocon wurde mit in die provisorische Regierung berufen. Ein Zug, den Etienne Arago mittheilt, charakterisirt die großartige, wahrhaft antike Uneigennützigkeit des jetzt so hoch gestellten Mannes. Wenige Tage nach der Revolution wurde Flocon von einem heftigen Gichtanfall ergriffen, jener Krankheit, die ihn nie wieder ganz verlassen hat. Damals schrieb er mit fast gelähmter Hand an einen Freund: „Ich habe nicht Geld genug im Hause, ein Pfund Senf für Umschläge zu kaufen; wenn ich wieder gesund bin, werde ich die Redaction der ‚Réforme‘ wieder übernehmen müssen, um meiner Familie Brod zu verschaffen.“ Nach seiner Wiederherstellung wurde Flocon zum Minister des Ackerbaus ernannt; es giebt in jenem Ministerium noch heute Beamte, welche, wenn auch nur im vertrauten Kreise, um sich nicht die Folgen solcher Kühnheit zuzuziehen, Flocon’s Fähigkeit und Arbeitskraft rühmend anerkennen. Höher noch aber als diese steht seine Redlichkeit. „Ich weiß nicht,“ sagt Arago, „ob dieses Wort noch einen Sinn in französischer Sprache hat; damals aber besaß es einen solchen, und zwar einen sehr bestimmten und geachteten: Flocon wurde mit 121,866 Stimmen zum Abgeordneten von Paris erwählt.“ Es kamen die Juniereignisse und dann die immer entschiedener ihr Haupt erhebende Reaction; unter den Einflüssen dieser wurde er später nicht wieder gewählt. Der Mann, der die höchste Stellung im Staate bekleidet hatte, trat wieder zurück in die Reihen der journalistischen Freiheitskämpfer mit jenem einfachen Pflichtgefühl, welches ihn stets auszeichnete. Er war Redacteur eines Blattes im Elsaß, als ihn der Staatsstreich von 1851 in die Verbannung trieb. Zuerst lebte er in Genf, dann internirt in Zürich und während der letzten Jahre, nachdem ihm der Bundesrath seine rührende Bitte, wieder an den Genfer See, in die Nähe Frankreichs, zurückkehren zu dürfen, gewährt hatte, in Lausanne.
Arm und mittellos war er in die Schweiz gekommen. In Genf mußte er, welcher Frankreich während einer Revolution mit regiert hatte, seine Uhr verkaufen, um nicht geradezu Hunger zu leiden. Wie alle seine Collegen war er ärmer von seinem Amte abgetreten, als er es angetreten hatte. In Zürich fristeten ihm schlecht bezahlte Uebersetzungen das Leben. Damals schrieb ihm Lamartine: „Die Hälfte von dem, was ich noch besitze, gehört Ihnen.“ Flocon’s Antwort darauf lautete bezeichnend: „Alle meine Ueberzeugungen und den frischen Glauben meiner Jugend habe ich mir bewahrt; ich wollte, ich könnte das mit Ihnen theilen.“ Später sah er seine Lage noch durch fortwährende Kränklichkeit, und namentlich ein wachsendes Augenleiden, verschlimmert. Dennoch kam keine Klage über seine Lippen; mit stoischer Ruhe ertrug er seine Leiden, den Geist auf die großen Interessen der Menschheit gerichtet, das Herz voll Hoffnung für sie. Arago’s Worte über diese letzte Periode aus Flocon’s Leben mögen hier noch eine Stelle finden: „Denen, welche in Frankreich während harter Zeiten diesen rechtschaffenen Mann, diesen pflichtgetreuen Bürger, diesen ausharrenden Kämpfer zur Zielscheibe der jämmerlichsten, niedrigsten Angriffe auserwählten, wollen wir noch zurufen: ‚Ihr Verleumder der Bürgertugend, ihr Verspotter einfacher Sitten, geht nach Genf, Luzern, Zürich, Lausanne und fragt, wer dieser französische Verbannte war! Und man wird euch antworten: wenn dieser Franzose an uns vorüberging, ruhig, wie ein reines Gewissen, bescheiden, wie das wahre Verdienst, so grüßten wir ihn mit Hochachtung und lehrten dieses Gefühl unseren Kindern; denn Männer wie dieser da sind die Ehre der Menschheit und man muß sie als Beispiele hinstellen!‘“ Ja, als ein Beispiel verdient ein Charakter wie Flocon genannt zu werden in einer Zeit des Eigennutzes, der Heuchelei, der sich selbst aufgebenden Feigheit, für welche freilich die Geißel nicht mehr fern zu sein scheint.
Unsere deutschen Landsleute in Lausanne haben es, wie gesagt, sich nicht nehmen lassen, mitzuwirken bei der letzten Ehre, welche Flocon erwiesen wurde. Unter deutschem Gesang wurde seine sterbliche Hülle der Mutter Erde zurückgegeben. Die rein menschliche Theilnahme, die ja die deutsche Brust zumeist bewegt, trieb unsere Landsleute zu dieser Betheiligung an der einfachen Leichenfeier des edeln Verbannten. Aber sie hatten auch einen nationalen Grund dazu. Flocon gehörte zu jenen Franzosen, welche sich mit ernstem Streben dem deutschen Geistesleben, unserer Literatur und Wissenschaft zuwenden und deren Zahl fortwährend zunimmt. Welches Culturmoment für Frankreich in dieser Vermittlung mit der deutschen Ideenwelt, welche Gewähr für eine endliche wahrhafte Völkerverbrüderung darin liegt: das auseinander zu setzen, wäre ganz überflüssig. Schon in den zwanziger Jahren hatte Flocon eine kleine Sammlung von Gedichten Bürger’s, Körner’s und Kosegartens übersetzt und veröffentlicht, und während seiner Verbannung in der Schweiz beschäftigte er sich, soweit es seine Kränklichkeit zuließ, vorzugsweise mit Uebertragungen aus dem Deutschen.
Aus der Zeit meines ersten Aufenthalts in Genf, in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, erinnere ich mich noch eines ernsten, äußerst einfach, fast dürftig gekleideten Mannes, der oft Abends in einem Wirthschaftslocal der Vorstadt Plainpalais, wo damals eine Anzahl deutscher Literaten, Künstler und Flüchtlinge verkehrte, erschien und sich zu diesem Kreise gesellte. Aus einer kleinen Thonpfeife rauchend, lauschte er eifrig dem Gespräch, welches sich gewöhnlich um vaterländische, wissenschaftliche und literarische Stoffe und Zustände bewegte. Bisweilen gab auch er, in französischer Sprache, seine eigene Meinung ab, welche dann stets von seiner regen Theilnahme, seiner geistreichen Auffassung und seiner zunehmenden Bekanntschaft mit den behandelten Fragen glänzendes Zeugniß ablegte. Dieser Mann war Ferdinand Flocon, das ehemalige Mitglied der Pariser Februarregierung. Die Nachricht von seinem Tode hat mir die kleine gedrungene Gestalt mit dem einfachen, bescheidenen Aeußeren, mit den ernsten, energischen und dabei so wohlwollenden Zügen wieder lebhaft in’s Gedächtniß zurückgerufen. Mögen diese wenigen Zeilen dazu dienen, auch in weitern deutschen Kreisen einem edeln, reinen Charakter, einem warmen Freunde deutscher Bildung, einem aufrichtigen Demokraten, einem wahren, echten und darum seltenen Menschen ein wohlverdientes Andenken zu sichern.