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Alte Städte und altes Bürgerthum/1. Nürnberg im Norden

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Autor: Moritz Busch
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Titel: Alte Städte und altes Bürgerthum/1. Nürnberg im Norden
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, 7, S. 6–8, 107–109
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Alte Städte und altes Bürgerthum.
1. Nürnberg im Norden. Von Moritz Busch.
I.

Es war in der dunkeln Zeit kurz nach der Unterwerfung und Bekehrung der heidnischen Sachsen durch Karl den Großen, als sich in einem Walde nicht fern von dem Bischofssitz, den der Kaiser im heutigen Elze für Ostphalen gegründet, ein Wunder begab.

Karl’s Sohn, Ludwig der Fromme, hielt während eines Besuchs in Elze einige Stunden nordöstlich von da eine Jagd ab. Dabei wurde eine Messe gelesen, bei welcher der Priester eine Kapsel mit Reliquien der Jungfrau Maria an einem Baume aufhing, der ihm als Altar diente. Bei der Heimkehr geschah es, daß die Kapsel vergessen wurde, und als man sich ihrer erinnerte und zurückkehrte, um sie zu holen, siehe da hatte ein unterdeß mit der Schnelligkeit von Jonas’ Kürbis aufgesproßter Rosenstrauch das heilige Gefäß dermaßen mit seinen Ranken umsponnen, daß man durchaus nicht zu ihm gelangen konnte. Der Kaiser, davon benachrichtigt, verstand den Wink. Die Mutter Gottes wollte, daß ihre Reliquien hier blieben, und das geschah also. Man baute an die Stelle eine Capelle und verlegte dann sogar den Bischofssitz an die Wunderstätte in der Wildniß.

So ungefähr die Legende, deren volle Glaubwürdigkeit zu beweisen ich dem würdigen Küster überlasse, welcher sie mir im vorigen Sommer mit der solchen Hütern von Heiligthümern eigenen Salbung erzählte. Es wird ihm nicht leicht fallen. Eins aber kann er für sich anführen, den Rosenstock, der in wunderbarer Jugendlichkeit noch heute grünt und blüht und der dieses sein ewig junges Leben, diese unerschöpfliche und unzerstörbare Triebkraft seiner ganzen Umgebung mitgetheilt zu haben scheint. Wohl tausendjährig ist er das älteste lebende organische Gebilde Norddeutschlands. Die kleine Waldcapelle neben ihm ist zu einem stattlichen Dome emporgewachsen, und von dem Dome, gleichsam dem Stamme, haben sich im Laufe der Jahrhunderte langgestreckte Straßen und Gassen, gleichsam die Aeste und Zweige, nach einer Anzahl anderer Kirchen, gleichsam den Blättern und Blumen des Rosenstrauchs der Urzeit, ausgebreitet. Dieser Rosenstock, welchen die Gottesmutter der Legende, vielleicht aus dem Paradiese, in die Wildniß des neunten Jahrhunderts pflanzte, ist im neunzehnten noch grün und gesund, der Segen aber, der in ihn gelegt war, hat ihn zugleich zu einer unserer merkwürdigsten Städte aussprossen lassen.

Die Stadt, von welcher ich rede, ist Hildesheim, die älteste, die sehenswertheste, und in gewissen Beziehungen die lebensvollste Mittelstadt des deutschen Nordens, reich vor Allem an Blüthen, menschlichen Kunsttriebes, wie sein Rosenstock reich ist an natürlichen Blüthen, neben diesem Wunder für den Botaniker nicht weniger ein Gegenstand der Bewunderung für den Freund architektonischer Schönheit, wegen der Fülle privater und öffentlicher Bauwerke aus alter, zum Theil uralter Zeit, die es aufweist, mit ähnlichem Rechte wie Lübeck das Nürnberg des Norden’s genannt.

Im Folgenden ein paar von den Hauptmomenten aus der Geschichte der tausendjährigen Bischofsstadt, dann in einem zweiten Abschnitt eine Schilderung ihrer jetzigen Gestalt und ihres heutigen Lebens.

Die von der Mutter Maria oder, wie die weltliche Geschichtsforschung meint, von Kaiser Ludwig’s praktischem Blick für das Bisthum Ostphalen gewählte Centralstätte auf einem der Hügel, zwischen denen sich die harzentsprossene Innerste in die große norddeutsche Tiefebene hinauswindet, war ein glücklicher Gedanke. Infolge dessen wuchs der neugegründete Ort vermuthlich – wir schauen auf Dämmerungszeiten zurück, in denen wir nicht viel mehr als die Namen der zwölf ersten Bischöfe erkennen und das Uebrige zu errathen haben – ziemlich rasch. Erst eine Capelle, die wir uns sehr bescheiden vorzustellen haben, dann eine größere, doch ebenfalls noch sehr anspruchslose Kathedrale nebst den strohgedeckten Wohnungen für die zu ihr gehörige Geistlichkeit, das Ganze gleich einer Burg gegen die von Norden her streifenden Heiden mit starken Mauern umgeben, wurde diese Niederlassung von Priestern und Mönchen durch Ansiedelung von schutzsuchendem Laienvolk, Freien und Unfreien, die sich ihrerseits zuletzt gleichfalls mit Festungswerken umschirmten, zur Stadt. Von der Kathedrale aus wurden Klöster als Vorwerke der Burg gegründet, die Stadt setzte Vorstädte an und allmählich entwickelte sich ein reger Verkehr von Handwerk und Handel.

Erst mit dem zwölften Nachfolger Gunthar’s, des ersten Bischofs der Diöcese, mit Bernward, lichten sich für uns die Zeiten. Der Glanz des Genies dieses großen Mannes leuchtete weit hin über die dunkeln Lande und strahlte, verstärkt durch die Heiligenglorie, mit der die Kirche später sein Haupt umgab, auch in unsere Tage hinein, obwohl fast tausend Jahre ihn von uns trennen. Indem er ein Helfer der Armuth war, indem er Handwerk und Kunstfleiß der Bürger durch Rath und That förderte, indem er die ganze Stadt in die vorhandenen Festungswerke einschloß und indem er die bis Hildesheim vorgedrungenen Normannen mit gewaffneter Hand zurückschlug, indem er für Bildungsanstalten sorgte, war er in Wahrheit, was sein Biograph von ihm sagt, der Patron der Stadt. Die Wunder, die sein Leichnam that, wollen wir zu dem des Rosenstocks legen, die bewundernswerthen Werke, die der lebende Bernward als Künstler in einer rauhen und wenig schöpferischen Zeit geschaffen und die Hildesheim noch heute schmücken, sollen uns seine wahren Wunder sein. Die ehernen Thürme am Paradies des Domes, die metallene Säule mit Scenen aus dem Leben Christi auf dem Platze vor demselben, vor Allem aber die Michaeliskirche, das großartigste Werk der deutschen Baukunst jenes Jahrhunderts und noch jetzt, obwohl Vieles von der alten Anlage verschwunden ist, eine der schönsten romanischen Kirchen Deutschlands, sind solche Wunder.

Bernward’s Nachfolger zu Ehren, dem später gleichfalls heiliggesprochenen Godehard, gründete Bischof Bernhard der Erste im ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts ein Kloster und daneben die herrliche St. Godehardskirche im spätromanischen Stil, das zweite classische Denkmal der mittelalterlichen Baukunst in Hildesheim. Andere Bischöfe fügten Anderes hinzu, die meisten der hier herrschenden Kirchenfürsten der späteren Zeit sorgten mehr für weltliche Dinge, und sie hatten Ursache dazu, indem einerseits der raubsüchtige Adel und die auf Ländererwerb bedachten Fürsten der Nachbarschaft ihren Besitz bedrohten, andererseits das Bürgerthum den geistlichen Herren gegenüber sich fühlen lernte und immer energischer darnach strebte, sich von ihnen unabhängig zu machen.

So hatte namentlich Bischof Gerhard vor nunmehr fünfhundert Jahren viel mit Raubrittern und deren Gönnern an den nächstgelegenen Fürstenhöfen zu kämpfen, und einer dieser Kriegsstürme führte zu einer Schlacht, welche zu den Glanzpunkten in der Geschichte Hildesheims zählt und über die ich, da man im letzten Sommer ihr fünfhundertjähriges Gedenkfest feierte, ausführlicher berichte. Herzog Magnus von Braunschweig und Erzbischof Dietrich von Magdeburg mit vielen Grafen und Edlen sagten im August 1367 Bischof Gerhard Fehde an, und bald darauf erschienen sie mit einem zahlreichen Heer raubend und brennend auf dessen Gebiet. Ruchlos schonten sie selbst die Kirchen nicht. Ein Kundschafter meldete, der Bischof sei in Angst und suche vor dem Altar Hülfe. Gerhard aber war andern Schlags. Er verzagte nicht, sondern waffnete seine Bürger, Bauern und Mönche und rückte dem Feinde mannhaft entgegen. Sein Gebet zur heiligen Jungfrau hatte gelautet: „Verleih’ uns den Sieg, dann sollst Du unter einem goldenen Dache wohnen; wo nicht, so wirst Du fortan auch kein Strohdach mehr Dein nennen.“

Am 3. September, dem Tage des heiligen Remaclus, standen sich die Heere auf einem Felde zwischen den Dörfern Farmsee und Dinklar, das seitdem der Streitacker heißt, gegenüber. Gerhard hatte fast nur Fußvolk, und seine Leute verhielten sich zu den Gegnern, die in der Reiterei ihre Hauptstärke hatten, wie Eins zu Drei. Der streitbare Bischof aber ließ sich dadurch nicht stören. „Leve Keerel,“ rief er, auf die Reliquien hinweisend, die er bei sich trug, „truret nich, hie hebbe ik dusent Mann in miner Mawen!“ (Liebe Kerle, trauert nicht, hier habe ich tausend Mann in meinem Aermel.) Die übermüthige Ritterschaar, voll Verachtung vor dem bürgerlichen Häuflein, stürmte in wildem Rennen siegesgewiß gegen dieses heran. Aber die Bischöflichen hielten den Anprall aus und drangen muthig vor. Lange wehrten sich die [7] Ritter. Einen Augenblick zagten Gerhard’s Bauern. Aber er ermuthigte sie, indem er auf den Abt von St. Michael hinzeigte, der in blankem Harnisch den Mönchen und Bürgern voranschritt, während ihm ein Scapulier vom Helm bis zum Gürtel herabrollte. „Ji Menner met den Hunen,“ rief Gerhard den wankenden Bauern zu, „wat steit ji da sau, seit mal, wu de Mönnik fechtet!“ (Ihr Männer mit den Hüten, was steht ihr da so, seht mal, wie der Mönch ficht.) Und die Wankenden ermannten sich; die Gegner wandten ihre Rosse in Verwirrung, ritten ihr eigenes Fußvolk nieder und verwickelten ihr ganzes Heer in ihre Flucht. Die Bischöflichen hinter ihnen her. Was sich nicht gefangen gab, wurde erschlagen oder in die Fuse gejagt. Erst die Nacht und ein furchtbares Wetter mit Donner und Blitz machten der Verfolgung ein Ende. Die heilige Moritzfahne der Magdeburger wurde erbeutet, eine Menge vornehmer Leute, darunter ein Graf von Anhalt, ein Graf von Querfurt, ein Herr von Saldern, der Ritter Johann von Hadmersleben, mit dem sein Geschlecht erlosch, bedeckte den Boden als Leichen, Andere, unter ihnen die Führer der Feinde Gerhard’s, Herzog Magnus und der „ehrsame Vater in Gott“, Bischof Albert von Halberstadt, sowie einer der Ahnherren des jetzigen preußischen Ministerpräsidenten, Ritter Nicolaus von Bismarck, wurden gefangen nach Gerhard’s Burgen gebracht und mußten sich mit hohen Summen lösen. Der siegreiche Bischof aber hielt der Mutter Gottes sein Versprechen. Sie wohnte fortan unter einem goldnen Dache, dessen Gestalt ein Reliquienbehältniß uns aufbewahrt hat.

Das Ringen der Bürgerschaft nach Unabhängigkeit von den Bischöfen und freier Entwickelung ihrer Interessen begann frühzeitig und setzte sich, fast immer erfolgreich, durch das ganze Mittelalter und bis über dasselbe hinaus fort. Die Kaufleute hatten schon unter Bernward directen Handel mit England getrieben. Berühmt waren die Goldschmiede Hildesheims. Daneben blühte die Weberei. Die Stadt erweiterte sich mehr und mehr und nahm zugleich an Wohlstand zu. Die Bischöfe waren häufig in Geldverlegenheiten, und sie bedurften dann die Hülfe der Bürger, die sie mir Abtretung von Gerechtsamen erkaufen mußten. Was die Stadt nicht erkaufen konnte von Privilegien, wußte sie sich, zäh ihr Ziel verfolgend, bei passender Gelegenheit zu ertrotzen. Das Ergebniß dieses Kampfes zwischen der Bürgerschaft und ihren Fürsten war, daß Hildesheim schon zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo es Mitglied der Hansa wurde, eine thatsächlich freie Stadt im Stifte war. Im Jahre 1292 bestätigte der Bischof noch die Gilden der Leinweber und Knochenhauer, später entstehende Handwerkergenossenschaften bedurften solcher Genehmigung nicht mehr. Als das fünfzehnte Jahrhundert begann, war die Stadt im unbestrittenen Besitz der Gerichtsbarkeit und Polizei, sie erhob Zölle und Steuern, schlug Münzen und fühlte sich so stark, daß sie sich allerlei Eigenmächtigkeit gegen die Bischöfe erlaubte, die dagegen nur noch Klagen hatten. Blos noch Aeußerlichkeiten, wie die Huldigung, gestand man den Fürsten zu, die lediglich im ältesten Theile Hildesheims, der durch einen Mauernkranz von der Altstadt geschiedenen Domfreiheit, und nach einigen Beziehungen in der Neustadt noch als gebietende Herren schalteten.

Die Reformation fand in Hildesheim erst spät Eingang. Als deren Geist sich in den unteren Ständen, unter den Handwerksgesellen und Kleinbürgern regte, trat ihm der Rath, an seiner Spitze der energische Bürgermeister Christoph Wildesüer, in Gemeinschaft mit dem Bischofe mit scharfen Verboten entgegen. Aber die Zahl der Freunde Luther’s wuchs allmählich, und als sich 1542 das Heer des schmalkaldischen Bundes dem Stifte näherte, schloß man sich demselben an, und die Reformation wurde eingeführt.

Späteren Versuchen des Bischofs, dem alten Glauben wieder Geltung zu verschaffen, setzten die Bürger, jetzt eifrige Lutheraner, trotzigen Widerstand entgegen. Die katholisch Gebliebenen, namentlich die Mönche, waren schwerer Unbill ausgesetzt. Eingriffe in die fürstbischöfliche Jurisdiction, Benachteiligungen des geistlichen Besitzes waren an der Tagesordnung. Ein Amtmann des Bischofs, der einen Bürger geschlagen, weil er unbefugt in der Innerste gefischt, wurde ohne Proceß vom souveränen Volke verurtheilt und trotz seiner vornehmen Verwandtschaft auf der Steingrube vom Kohlenträger der Stadt enthauptet.

„Die Einwohner Hildesheims,“ so schrieb vor langer Zeit Lauenstein, einer der Historiker der Stadt, „sind eines hitzigen, heftigen, zu kühnen Thaten inclinirenden Naturells; will man ihr Temperament etwas genauer determiniren, so ist wohl gewiß, daß die meisten temperamenti cholerico-sanguinei, die wenigsten aber temperamenti cholerico-melancholici sind.“ Das war damals, und das ist noch heute so. Die Hildesheimer sind im Durchschnitt von ihren niedersächsischen Nachbarn durch Haltung und Gebahren vielfach verschieden, lebendiger, rascher, freiheitslustiger, mehr zu Parteiungen geneigt, vielleicht weil sie theilweise von anderm Blute sind, wahrscheinlicher, weil das alte republikanische Leben in ihnen nachwirkt.

Die erwähnte Gemüthsart der Hildesheimer gab sich nach ihrer edlen Seite auch im dreißigjährigen Kriege kund, in welchem sie auf das Entsetzlichste zu leiden hatten. Pappenheim erzwang von der Stadt Aufnahme einer kaiserlichen Garnison, welche sofort allerlei Gewaltthat zu verüben begann und namentlich den Rücktritt der Bürger zur katholischen Kirche zu erzwingen versuchte. Die Kirchen wurden den Lutherischen genommen, ihre Geistlichen, bis aus wenige vertrieben, die Katholiken auf jede Weise geschont, die Protestanten auf jede Weise gedrangsalt, die Convertiten erfuhren alle denkbare Bevorzugung. Aber dennoch traten von den zweitausend Bürgern damals nur zwei wieder in die alte Kirche ein!

Noch übler erging es der Stadt im folgenden Jahre, als braunschweigische Truppen vor ihren Mauern eintrafen. Die Bürger wurden jetzt von dem kaiserlichen Commandanten aufgefordert, für den Kaiser die Waffen zu ergreifen. Sie weigerten sich, und alle Mittel, sie zur Nachgiebigkeit zu bringen, Güte wie Gewalt, waren vergeblich. Der Rath schwankte, aber die von ihm berufene Bürgerschaft blieb bei ihrer Weigerung, und nun wurde hier von den Kaiserlichen so arg gehaust, wie in keinem größeren Orte des römischen Reiches. Daneben stieg durch die Belagerung der Mangel am Nothwendigsten auf kaum glaubliche Höhe. Zuletzt hatte die Noth einen solchen Grad erreicht, daß man von Seiten der Bürgerschaft den Commandanten bat, in Masse die Stadt verlassen zu dürfen, und daß, als dies abgeschlagen worden, der Rath allen Ernstes darüber berieth, ob man sich nicht das Leben nehmen sollte.

Endlich, als zwei kaiserliche Heere, die der Garnison Entsatz bringen sollten, geschlagen worden waren, übergab der Commandant Gryfort die Stadt. Dieselbe war gründlich verarmt und in den meisten Theilen verödet. Ein Viertel fast ihrer Häuser war ganz verschwunden, über dreihundert der übriggebliebenen standen allein in der Altstadt leer. Jahrhunderte vergingen, bevor die Gemeinde und die Einzelnen wieder zu einigem Wohlstande gelangten. In der Zwischenzeit bot die Stadt mehr als ihre größeren Nachbarstädte das Bild der Armuth und Kraftlosigkeit.

Aber wenn der alte Wohlstand geschwunden war, so nicht der alte Unabhängigkeitssinn und die alte Lebendigkeit und Ausdauer in Vertheidigung wirklicher oder vermeintlicher Rechte. Die Braunschweiger wollten durch Einnahme der Stadt ein Besitzrecht auf dieselbe erlangt haben. Die Bürgerschaft erkannte diesen Anspruch nicht an und setzte Wiederherstellung des alten Verhältnisses durch. Später versuchten einzelne Bischöfe, ihre Machtbefugniß über die Stadt wieder mehr auszudehnen. Die Hildesheimer aber vereitelten diese Angriffe jedesmal. Der Rath maßte sich bisweilen an, Dinge zu verfügen, die gegen das Interesse der Stadt waren, allein sofort war die Bürgerschaft gegen ihn auf den Beinen, und fast immer wußte sie ihren Willen durchzusetzen. Die Chronisten der Stadt haben noch im vorigen Jahrhundert eine ganze Reihe solcher Kämpfe zu verzeichnen. Auch die einzelnen Theile der Stadt befehdeten sich bisweilen in bitterem Ernste, und namentlich der den Neustädtern aus alten Privilegien erwachsene Zwang, nur altstädtisches Bier zu trinken, führte 1791 bis 1793 zu Excessen, die fast mit Blutvergießen endigten. Die verlorene alte Kraft wuchs langsam wieder, das alte Leben und die alte Parteisucht waren niemals ganz gewichen. Hildesheim trat in das neue Jahrhundert als ein Anachronismus ein. Viele Aeußerlichkeiten der Vergangenheit waren erhalten, allein sie waren meist Formen ohne Inhalt. Gleichgültig sahen daher die Meisten zu, als 1801 Preußen für die auf dem linken Rheinufer an Frankreich abgetretenen Landstriche unter Anderem mit der Stadt und dem Stift Hildesheim entschädigt wurde und das alte republikanische Wesen nun auch in der Form ein Ende hatte. Auch als fünf Jahre darauf die Stadt zum Königreich Westphalen geschlagen wurde und Hildesheim die Eigenschaft einer Unterpräfectur des [8] Oberdepartements erhielt, regten sich kaum irgendwelche Zeichen von Mißvergnügen gegen diese abermalige Umwandlung, und eben so gefügig nahm man die dritte Metamorphose innerhalb zweier Jahrzehnte hin, welche Hildesheim zu einer Stadt des mit allerlei anderen Annexionen vergrößerten Welfenreiches machte.

Es war damals anderwärts eben auch nicht anders, und überdies schlummerte der alte Freiheitssinn der Bürgerschaft nur. 1830 und 1831 merkte man das an ziemlich lebhaften Zuckungen, und an der Bewegung von 1848 nahm die Stadt eifrigen Antheil. Man hatte durch Ernst August erfahren, was die Welfenherrschaft zu bedeuten habe. Wieder wohlhabender geworden, fühlte sich das Bürgerthum wieder mehr. König Georg’s Willkürregiment ließ den ganzen Freiheitstrotz einer im Kampf mit den Bischöfen erzogenen Bevölkerung wieder erwachen. Die Stadt Hildesheim war fortan der Hauptsitz der Opposition im Süden Hannovers, und diese Opposition, die Anfangs mehr demokratischer Natur gewesen, nahm später eine stark nationale Färbung an, wenigstens bei der Mehrzahl der zu ihr Gehörigen. Der berüchtigte Wermuth erhielt Auftrag, die spröde Stadt für das Welfenthum zu gewinnen, und Meister in allen den kleinen Polizeikünsten, welche zu Erfolgen auf der Oberfläche führen, mit den Demokraten Weinhagens gegen die Nationalen, mit den großdeutschen Katholiken gegen die Protestanten operirend, selbst unsaubere Mittel nicht verschmähend, hatte er allerdings nach einiger Zeit mehrere Erfolge auszuweisen. Namentlich gelang es ihm, die unbemittelte Classe gegen den Magistrat aufzustacheln, der die Seele der Opposition, aber zugleich die Seele bei jeder Förderung der wahren städtischen Interessen war. Die Majorität und darunter den Kern den Bürgerschaft hat er nicht zu sich herüberzuziehen vermocht. Er konnte weiter kommen, und er wäre vielleicht weiter gekommen, als die preußische Occupation die Stadt vor dieser Verführung bewahrte. Wermuth schoß sich, als er sein letztes Spiel verloren sah, eine Kugel in den Kopf. Sein begabtester und thatkräftigster Gegner, Senator Römer, war Hildesheims erster Vertreter im norddeutschen Reichstag.

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aus: Die Gartenlaube 1868, Heft 7, S. 107–109
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II.

Hildesheim, die Stadt um den tausendjährigen Rosenstrauch, ist in architektonischer Beziehung einer der sehenswerthesten Orte des deutschen Nordens. Schon von ferne, etwa von den Anlagen des Moritzbergs, betrachtet, imponirt es durch die verhältnismäßig große Anzahl seiner Thürme. Im Innern aber kann man in den meisten seiner Straßen kaum hundert Schritt gehen, ohne auf ein mehr oder minder interessantes Denkmal alter Baukunst zu stoßen, und in einigen dieser hügeligen, engen und krummen Gassen häufen sich derartige Bauten so, daß man sich fast völlig in die Vergangenheit versetzt sieht.

Mindestens ein Fünftel der Häuser der Stadt stammt aus dem siebenzehnten Jahrhundert, viele weisen mit ihren reizenden Holzschnitzereien, ihren Arabesken oder Medaillons auf das sechszehnte zurück; einige, meist verräuchert und verbaut, gehören in ihren älteren Theilen sogar in das fünfzehnte. Durch diese kleine Spitzbogenthür schritten ehrsame Bürger einer Zeit, der Luther noch nicht das neue Licht angezündet. Unter jenem verzierten Giebel, in diesen Stockwerken, deren zierliche Balkenköpfe je höher desto weiter über die Wand des Erdgeschosses hinausragen, wohnten Hildesheimer, die sich noch als Bundesgenossen der Hansa fühlten. In den Sprüchen, welche die Front jenes Hauses schmücken, redet ein behaglicher Sinn zu uns, dem der dreißigjährige Krieg noch nicht die gute Laune verdorben. „Spero Invidiam“ (ich hoffe auf Neid) sagt eine jener Hausinschriften, „Deus dat, cui vult“ (Gott giebt, wem er will).

Besonders alt sind von solchen Privathäusern die jetzige Kattendik’sche Eisengießerei und das ehemalige Haus der Kramergilde, beide bei der Andreaskirche gelegen; besonders schön ein Haus an der Ecke der Wollenweberstraße, dessen Thür über sich eine Gruppe von Landsknechten in Holzschnitzerei zeigt; ein anderes nicht weit davon mit Brustbildern von solchen, und ein drittes auf dem Langenhagen, dessen Vorderseite Standbilder von römischen Kaisern und Feldherren, sowie eine Anzahl von Medaillons schmücken. Ferner nenne ich von neueren, aus dem siebenzehnten Jahrhundert stammenden Gebäuden das Brinkmann’sche Haus an der Ecke des Rosenhagens und der Osterstraße, das Tippenhauer’sche auf der Altpetristraße, das Scheiding’sche an der Oberngünen, das Borchers’sche an der Ecke der Markt- und Scheelenstraße, welches auf seiner Ostseite einen mit Bildwerk verzierten Erker zeigt, und das Rolandsspital mit seinen schönen, alttestamentarische Scenen darstellenden Sculpturen.

Merkwürdige Inschriften begegnen dem Suchenden in Menge. Eine eigenthümliche Klage über böse Zeiten ruft ihm ein Eckhaus am Lambertikirchhofe mit den Worten zu:

„De Waerheydt is tho Himel geflogen,
De Truwe is ubertz (über’s) wilde meer getogen,
De Gerechticheit is allenthalven verdrewen,
De untruwe“ … (hier fehlt vermuthlich „in Ehren geblewen“.)

Noch trüber lautet eine Inschrift aus der Reformationszeit, die sich an einem Hause in Kläperhagen befindet, in welchem der Decan Oldekopp wohnte, und die, aus dem Lateinischen übersetzt, folgendermaßen lautet: „Mit der Tugend ist’s zu Ende. Die Kirche wird erschüttert. Die Geistlichkeit irrt. Der Teufel herrscht. Die Simonie gilt allein. Das Wort Gottes bleibet in Ewigkeit. Nichts als der Herr ist beständig. Alles Menschliche ist vergänglich wie das Holz und der Stein dieser Bilder.“

Eine schöne und vielleicht nothwendig gewesene Ermahnung trägt ein Spruchband über der Thür des obengenannten Gildehauses der Kramer. Es giebt den Eintretenden die Lehre:

„Weget recht und gelike (gleich),
So werdet ir saligk und rike.“

Gipfelpunkt der baulichen Schönheiten Hildesheims ist der Altstädter Markt. Ihn an einem hellen Mondscheinabend zu betrachten, ist für den Freund alter Kunst ein Genuß, den er nicht leicht anderswo findet. Das Rathhaus, vor dem sich ein hübscher Brunnen mit einem kleinen Rolandsbilde befindet, mag in einigen seiner Theile bis über das vierzehnte Jahrhundert hinaufreichen, ist aber sehr verbaut. Außerordentlich schön dagegen ist ein links von demselben sich erhebender, wohl aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts stammender und fast ganz in seiner Ursprünglichkeit erhaltener Steinbau, den man (beiläufig ohne Grund) als Tempelherrenhaus bezeichnet und der einst die Wohnung der Hildesheimer Patricierfamilie v. Harlessem war. Ebenfalls sehr interessant ist das an seiner Front bis zum First hinauf mit zierlichen Holzbildern der Renaissance geschmückte Giebelhaus des Kaufmanns Wedekind und das Rolandsstift mit feinem Stufengiebel. Als die Krone des herrlichen Platzes aber ist das 1520 erbaute und 1852 durch die Bemühungen des ebenso kunstsinnigen wie rastlos für die Erhaltung der Denkmäler seiner Vaterstadt thätigen Senators Römer vor dem Verfall gerettete und mit seinem Geschmack restaurirte Knochenhauer-Amthaus, welches wohl der schönste alte Holzbau in Deutschland, vielleicht in ganz Europa ist. Ein mächtiger Giebelbau von mehreren Stockwerken, voll Geschmack in seinen Massen und in seiner ganzen Anlage erhebt es sich, bedeckt mit Holzschnitzwerk und bunter Malerei, an der rechten Ecke der der dem Rathhaus gegenüber gelegenen Marktseite. Geraume Zeit kann man vor ihm gestanden und die sinnige Weise seiner Verzierung, die ernsten und launigen Darstellungen auf seinen Füllbretern, die Sculpturen an seinen Balkenlagen bewundert haben, und immer wieder kehrt das Auge zu ihm zurück. Es ist nächst den Kirchen Hildesheims, zu denen wir nunmehr uns wenden, unzweifelhaft das werthvollste Juwel unter den Schätzen, die hier gehäuft sind.

Als Bischofsstadt besaß Hildesheim früher eine ungemein große Anzahl von Kirchen und Capellen, jetzt sind viele der letzteren ganz verschwunden, einige der ersteren in Gebäude zu profanen Zwecken verwandelt. Die Georgskirche ist Packhaus, die Paulinerkirche Getreidespeicher geworden, die Martinikirche hat ein Verein Hildesheimer Patrioten, an deren Spitze der Senator Römer und dessen Bruder stehen, zum städtischen Museum eingerichtet, welches hier vortrefflich geeignete Räume für seine Sammlungen fand und in einigen Zweigen der letzteren schwerlich von [108] dem Besitz eines ähnlichen Instituts in deutschen Mittelstädten erreicht wird. Man hat namentlich in Betreff des Fürstenthums Hildesheim fleißig gesammelt und eine gute Anzahl von Alterthümern aus diesem, ein schönes Cabinet dort vorkommender Petrefacten und beinahe alle auf die Stadt und das Stift bezüglichen Drucksachen sowie viele Urkunden und Handschriften zusammengebracht.

Der tausendjährige Rosenstock.

Von den noch gottesdienstlichen Zwecken geweihten Kirchen nenne ich die Seminarkirche, die früher zu einem Capuzinerkloster gehörte, die Kreuzkirche, ein Gemisch aus romanischen Resten des ursprünglichen Baues, gothischer Zuthat und Jesuitenstil, die Jacobikirche mit ihrem hohen Thurm und die sehr große Hauptkirche der Protestanten, die, nach dem Apostel Andreas benannt, in einigen ihrer Theile bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückreicht, sonst aber nichts Bemerkenswerthes hat, nur der Vollständigkeit wegen. Von größerem Interesse ist die Magdalenenkirche, in welcher man einen Sarg mit St. Bernward’s Gebeinen, zwei Leuchter, die der Heilige geschaffen, und ein prächtiges mit edlen Steinen, Gemmen und Perlen besetztes Kreuz mit Filigranarbeit zeigt, in welchem derselbe eine Reliquie von Christi Kreuze aufbewahrte. Das Kreuz that früher Wunder, indem es Krankheiten verscheuchte, bei großer Dürre Regen herbeiführte und jedem Betrübten, der sich vor ihm niederwarf, Trost verlieh.

Das Knochenhauer-Amthaus

Nicht fern von der Magdalenenkirche erhebt sich auf einem kleinen Hügel die von Bernward 995 gegründete, 1033 vollendete Michaeliskirche, einst der größte und schönste Bau Hildesheims, auch noch jetzt äußerlich stattlich und im Innern ein überraschend prachtvolles Muster romanischen Stils. Die Kirche, die vielfache Schicksale und Umwandlungen erfahren hat, sogar einmal zur Kegelbahn für die in die Gebäude des Michaelisklosters verlegte Irrenanstalt herabgesunken war, ist, ebenfalls durch Römer’s Bemühungen, mit Geschmack und Verständniß restaurirt und seit dieser Erneuerung ein wahres Kleinod romanischer Baukunst. Einige der Capitäle der alten Säulen, welche ihre Decke tragen, gehören zu den schönsten Erfindungen dieser Art, und das große Gemälde, das in brennenden Farben die flache Decke ziert, ist, die Heilsidee vom Paradiese bis auf Christus darstellend, das größte und vielleicht auch das kunstvollste Denkmal der Malerei des Jahrhunderts, dem es seine Entstehung verdankt. Höchst merkwürdig sind ferner die um dieselbe Zeit entstandenen Stuckarbeiten, die sich an der Wand einer Capelle neben dem Chor befinden, und die in den Gesichtern ihrer Figuren und namentlich im Faltenwurf der Gewänder eher an das griechische Alterthum, als an das Mittelalter erinnern, welches sie schuf. Endlich muß noch des Kreuzgangs gedacht werden, der das Michaeliskloster mit der Kirche im Norden verband und welcher, der spätromanischen Zeit angehörend, in seinen ebenso zierlichen wie mannigfaltigen Säulenknäufen, die leider zum Theil von der Witterung gelitten haben, die höchste Entwickelung dieser Bauweise zeigt.

Das Rathhaus und der Roland.

Wuchtig, massiv und doch nicht ohne Zierlichkeit, halb dunkel, aber erfüllt von farbigen Bildern, die wie ein Stück geöffneter Himmelsglorie von der Decke in die Dämmerung herabblicken, empfängt die herrliche Schöpfung Bernward’s den Eintretenden. Er selbst aber, der Erbauer dieser Andachtsstätte, hatte sich unter ihr sein letztes Bett bereitet. Noch steht sein steinerner Sarkophag dort. Daneben aber sprudelt eine Quelle lauteren Wassers, das Symbol des ewigen Lebens auf das die Inschrift des Sargdeckels hofft.

Einen großen Bau spätromanischer Zeit, der auch äußerlich [109] den Stil jener Tage zeigt, haben wir in der Godehardikirche vor uns, die, um die Mitte des zwölften Jahrhunderts vollendet, sich im südlichen Theile Hildesheims erhebt. In ihr finden wir schon in allen Dimensionen das Emporstreben ausgesprochen, welches die Gothik bezeichnet. Sie ist eine Basilika, deren Grundgestalt das Kreuz ist; ihr Schiff dreifach, indem von der Mitte durch je zwei Säulen und einen Pfeiler Seitenräume abgetrennt sind. Das Mittelschiff zeigt eine auffallende Höhe und erscheint infolge dessen etwas zu schmal. Ohne Strebepfeiler, nur mit einem einfachen, rundbogigen, unter dem Dache hinlaufenden Fries geschmückt, steigen Mittelschiff und Seitenräume in wirkungsvoller, edler Einfachheit empor. Ueber der Vierung, der Stelle, wo das Querschiff das Hauptschiff kreuzt, erhebt sich der polygonale Hauptthurm, zwei andere Thürme stehen am Westende des Gebäudes. Ein reich gesicherter Kranz von Absiden schließt die östliche Hälfte, wo sich der Chor befindet, dessen Wände und dessen Fußboden in Mosaiknachahmung bemalt sind und auf welchen Fenster mit Glasmalereien bunte Lichter fallen lassen.

Auch diese Kirche war lange Jahre vernachlässigt und drohte zuletzt den Einsturz. In den Jahren 1848 bis 1863 wurde sie von Baurath Hase auf Kosten der k. Klosterkammer restaurirt. Während die Michaeliskirche den Protestanten gehört, befindet sich die Godehardikirche im Besitz der Katholiken Hildesheims, die beiläufig etwa ein Drittel von dessen Einwohnerzahl ausmachen.

Ebenfalls in den Händen der katholischen Kirche ist der Dom, das älteste Bauwerk der Stadt und auf drei Seiten von einem hübschen, von Bäumen beschatteten Platze umgeben.

Ehe wir ihn besuchen, gestatten wir uns als Weltkinder einen kurzen Abstecher nach der hart neben ihm in einem kühlen Winkel gelegenen Domschenke, wo die alten Domherren, ein Geschlecht heiterer Weisen, nach dem Spruche, der den Deckbalken der Vorderstube ziert und nach welchem, wenn „das Alter sich zur Jugend trinkt, das Trinken zur Tugend wird", manch seine Flasche geleert haben sollen. Auch heute noch geht es in dessen Hinterzimmer bei dem guten Weine des Wirths noch bisweilen recht heiter zu. Mich selbst überkommt die Lust, an dem traulichen Orte im Geiste ein paar Stunden Hütten zu bauen und die Mutterfläschchen des wohlversehenen Kellers wieder zu versuchen, wie ich’s vorigen Sommer mit Hoffmann v. Fallersleben und anderen wackern Freunden gethan. Aber Alles zu seiner Zeit, und so mag’s bei dem Wink und bei Verzeichnung des Spruchs jener Domherrenweisheit bleiben, der vollständig lautet:

„Jugend ist Trunkenheit ohne Wein,
Doch trinkt sich das Alter zur Jugend,
So wird das Trinken zur Tugend."

Der Dom selbst ist als Gebäude nicht viel werth. Wiederholt abgebrannt und wieder aufgebaut, zeigt er von dem Münster, welches der erste Bischof Hildesheims hier oder etwas seitwärts von der Stelle errichtete, keine Spur, und auch der Neubau, den Bischof Hezilo vor nunmehr tausend und sechs Jahren ausführte, ist durch vielfache Um- und Anbauten und vorzüglich durch eine im vorigen Jahrhundert im Geschmack der Jesuiten vorgenommene Restauration, wobei Weiß und Gold nicht gespart wurde, dermaßen verunziert, daß man wenigstens im Innern bisweilen Mühe hat, das Mittelalter und seinen Stil herauszufinden. Auch der Vorbau im Westen mit seinen beiden Thürmen, der 1850 vollendet wurde, macht wenig Anspruch auf Schönheit.

Dennoch ist das alte Münster im hohen Grade sehenswerth und zwar namentlich als ein Museum von Alterthümern und Kunstwerken aus allen Jahrhunderten seiner Existenz. Aus dem sechszehnten stammt der sogenannte Lettner, eine prächtige Steinarbeit vor dem Sacrarium, welche im besten Stil der Renaissance ausgeführt ist. Das dreizehnte hat ein außerordentlich schönes, metallenes Taufbecken hierher gestiftet, welches in einer der Capellen des nördlichen Seitenschiffs steht. Es wird von vier knienden Figuren getragen, die, aus Urnen Wasser ausgießend, vermuthlich die vier Flüsse des biblischen Paradieses vorstellen, und zerfällt in vier Abtheilungen, von denen die erste die Donation, die zweite den Zug der Juden durch das rothe Meer, die dritte die Taufe Jesu und die vierte den Durchgang des Volkes Israel durch den Jordan enthält – Gruppen, die durch Figuren und Säulen geschieden sind. Ebenso hat der Deckel vier Felder, von denen eines Aaron mit der grünenden Ruthe, ein anderes den bethlehemitischen Kindermord, ein drittes die Waschung der Füße Jesu durch Magdalena und ein viertes die Werke der Barmherzigkeit darstellt.

Wahrscheinlich schon aus dem zwölften Jahrhundert ist der kleine vergoldete Silbersarg, in welchem die Gebeine St. Godehard’s ruhen. In dieselbe Zeit gehört der große Armleuchter vor dem Chore, den man die Irmensäule nennt. Der Schaft ist ein bräunlicher Kalksinter, wie er sich in alten Wasserleitungen ansetzte. Mit der altheidnischen Irminsul hat er nichts zu thun. Sicher dagegen ist, daß der große Kronleuchter, der das Mittelschiff des Domes ziert, vom heiligen Bernward wenigstens begonnen und von Hezilo, dessen viertem Nachfolger, vollendet worden ist. Der mächtige stark vergoldete Kupferreif von einundzwanzig Fuß Durchmesser stellt die Mauer des himmlischen Jerusalem vor. Die Mauer zeigt zwölf große und ebenso viele kleine Thürme, die Zwischenräume zwischen denselben sind aus weißem Blech gearbeitet, in den geöffneten Thoren der Thürme standen einst kleine Silberfiguren von Propheten und christlichen Tugenden, welche im dreißigjährigen Kriege von Soldaten geraubt wurden.

Verschiedene schöne und kostbare Kelche und Patenen, Kreuze und Leuchter, Bischofsstäbe und Meßbücher, die der Dom bewahrt, gehören nach der Sage ebenfalls Bernward an, können aber auch jünger sein. Mit Sicherheit dagegen will man dem heiligen Goldschmiede und Erzgießer die hohen gegossenen Metallthüren mit merkwürdigen Darstellungen aus der biblischen Geschichte, welche das Mittelschiff des Doms gegen das im Westen befindliche Paradies abschließen, und die jetzt auf dem Domhof stehende sogenannte Christussäule mit Hautreliefs aus dem Leben des Erlösers zuschreiben.

Wir befinden uns, vor diesen Resten der Kunstfertigkeit Bernward’s in sehr alter Zeit. Der Odem des ersten christlichen Jahrtausends weht uns an. Andere Schätze des Domes, ein Kreuz, welches Ludwig der Fromme hierher gestiftet haben soll, eine Gabel und ein Trinkhorn Karl’s des Großen, machen Anspruch darauf, noch älter zu sein. Ein Behältniß endlich von halbmondförmiger Gestalt, welches Reliquien von Jesus und Maria bewahrt, das „Heiligthum unserer lieben Frauen“ will die Kapsel sein, welche der Priester Ludwig’s des Frommen bei jener Jagd im Urwalde vergaß, die zu Hildesheims Gründung Veranlassung wurde. Ob sie damit Recht hat, wird bezweifelt.

Gewisser ist, daß ein anderer Zeuge jenes wunderbaren Ereignisses, den der Küster außen an der östlichen Wand der halbkreisförmigen Domabsis zeigt und mit dem unsere Schilderung zu ihrem Anfang zurückkehrt, daß der tausendjährige Rosenstock der wirkliche uralte Strauch ist, für den er sich ausgiebt. Auf den ersten Blick, sieht er nicht so aus. Ein halb Dutzend Stämmchen, etwas mehr als zolldick und ungefähr von dreifacher Mannshöhe breiten sich an der grauen Mauer dieses ältesten Theiles des Domes und treiben im Sommer Hunderte von Blüthen. Aber der Urstamm dieses Urgreises des Rosengeschlechts, der, über zehn Zoll stark, unten in der Krypte wurzelt, die unter der Chornische liegt, läßt einen guten Theil unserer Zweifel verstummen, und was übrig bleibt davon, schwindet vor dem historischen Nachweis, daß schon Bischof Hezilo den Strauch vorfand und durch seine jetzige Ueberdachung ehrte.