Altdeutsches Tanzlied
Erscheinungsbild
[313]
Altdeutsches Tanzlied.
Nach Neidhard von Reuental (um 1220).
Wohlauf! Der kühle Winter ist vergangen;
Die Nacht wird kurz, der Tag beginnt zu langen.
Es naht die wonnigliche Zeit,
Die Freuden aller Welt verleiht.
5
Die Vöglein singen helle; neu grünt des Waldes Kleid.
Die Mägdlein rufen sich zur lichten Heide:
Gespielin, komm zu holder Augenweide!
Der Liebste wartet auf der Au,
Der Anger blitzt von Morgenthau;
10
Da bricht er uns zum Kranze die Blümlein roth und blau –
Die Mutter schilt auf Tänzer und Genossen:
Du bleibst zu Haus! Dein Kleid halt’ ich verschlossen. –
Ach laß mir’s, liebe Mutter mein!
Spann ich nicht selbst den weißen Lein? –
15
Da zieht sie Rock und Gürtel mit Lachen aus dem Schrein.
Im Lindenschatten tanzt die Schaar der Jungen;
Die stolze Maid kommt lustig angesprungen.
Bei Lachen, Lärm und Liederschall
Wirft mit dem Liebsten sie den Ball
20
In ferne Blüthenthale klingt hell der Widerhall.