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Altamerikanische Kulturbilder

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Autor: Paul Schellhas
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Titel: Altamerikanische Kulturbilder
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, 24, S. 696, 698–699, 749–752
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[696]

Altamerikanische Kulturbilder.

Von Paul Schellhas.
I.

Wenn sich gegenwärtig, eben in den Tagen, da der kühne Genuese zum ersten Male seinen Fuß auf den Boden der Insel Guanahani setzte, die Gedanken des alten Europa mehr als sonst mit der Neuen Welt beschäftigen, so hat das seinen guten Grund. Denn ein solcher Augenblick bietet einen ganz besonderen Anlaß, der eigenartigen Entwicklung zu gedenken, welche die amerikanischen Verhältnisse seit der Einwanderung der Europäer genommen haben, und unzweifelhaft gewährt es ein hohes kulturgeschichtliches Interesse, dem Gange dieser Entwicklung zu folgen. Merkwürdiger aber und reizvoller noch ist für den Forscher diejenige Entwicklung, welche die einheimische Kultur Amerikas vor seiner Entdeckung durch Kolumbus genommen hat, diejenige geistige und materielle Arbeit, die der amerikanische Mensch in seiner Absonderung aus eigenen Mitteln und mit seinen eigenen Kräften geleistet hat. Und auch die Leser der „Gartenlaube“ werden gerne einmal einen Blick werfen in jene fernen Zeiten vor der Ankunft des weißen Mannes, als noch untergegangene und verschollene Völker, deren Namen vielleicht nicht einmal erhalten sind, sich mühten, in friedlicher Arbeit „den Menschen zum Menschen zu gesellen“.

Von den neueren Forschungen auf diesem Gebiet ist in weiteren Kreisen wenig bekannt. Sie sind zu entlegen und fremdartig. Man meint, so fernliegende Dinge wie die Vorzeit Amerikas könnten für die Allgemeinheit nichts Anziehendes haben, weil zwischen ihnen und unserer Gegenwart gar keine Verbindungen bestehen und gar keine gemeinsamen Gesichtspunkte erkennbar seien. Und doch liegt eben gerade darin das allgemein und menschlich Bedeutsame der altamerikanischen Zustände! Denn sämmtliche Kulturgebiete der alten Erdtheile (Australien besitzt Spuren alter Kultur von einiger Bedeutung überhaupt nicht) stehen in näherer oder fernerer Beziehung zu einander, entweder unmittelbar oder durch Zwischenglieder; nur Amerika stand allein. Die ganze Alte Welt umschlingt ein gemeinsames Band, die wechselseitigen Einflüsse sind zum größten Theile geschichtlich bekannt; ganz anders ist es mit dem alten Amerika. Zur Zeit der Entdeckung der Neuen Welt hat in Centralamerika, in Mexiko[,] Yucatan, Guatemala etc., eine hohe Civilisation bestanden, die eine viele Jahrhunderte lange Entwicklung voraussetzt. Und diese Kultur ist entsprossen, diese Entwicklung ist vor sich gegangen auf einem Gebiet, das, so viel wir wissen, von allen uns bekannten Einflüssen abgeschlossen war. Wenn wir uns denken, es würde heute am Nordpol ein Erdtheil mit gemäßigtem Klima entdeckt und man fände dort Völker mit einer hohen Gesittung, so wäre das gewiß ein Gegenstand von größter allgemein menschlicher Bedeutung. Und eine ähnliche Bedeutung besitzt das alte Amerika. Es gestattet uns, Beobachtungen zu machen zu der hochwichtigen Frage: welche Errungenschaften der Gesittung sind ein gemeinsames Erbtheil der Menschheit? Kommt der Menschengeist auch unabhängig von den uns bekannten Einflüssen und unter ganz eigenartigen Bedingungen zu denselben oder ähnlichen Ergebnissen wie anderswo? –

Als die Spanier nach Mittelamerika kamen, fanden sie dort Völker, die wohlgeordnete Staaten bildeten, von Königen regiert wurden, in großen Städten mit gewaltigen Tempel- und Palastgebäuden wohnten, eine kunstvolle Zeitrechnung, eine gute Kenntniß der Astronomie, eine hoch entwickelte Technik und eine einheimische, nationale Kunst besaßen. Einer der mächtigsten dieser Staaten, das Reich des Aztekenkaisers Montezuma, ist aus der Geschichte der Eroberung durch Cortez bekannt. Aber noch weiter nach dem schmalen Centralamerika zu, südlich und östlich von Mexiko, hat die amerikanische Kultur ihre höchste Blüthe entwickelt, und von dort scheint sie auch ihren Ausgang genommen zu haben. Es sind dies die Halbinsel Yucatan und die Gegenden, die südlich und südwestlich daran angrenzen, Theile des heutigen Mexiko und von Guatemala. In diesen Ländern sitzen Völker des Mayastammes, der, obgleich heute wie alle eingeborenen Völker Amerikas durch die jahrhundertelange Unterdrückung und Mißhandlung verkommen und entartet, einstmals geistig besonders begabt und der Träger der alten Gesittung gewesen ist, ein amerikanisches Seitenstück zu den entarteten Nachkommen der Urbevölkerung des heutigen Aegypten.

Aus dem Leben dieser Völker sei hier einiges geschildert, was die neueste Forschung enthüllt hat. Denn die Kenntniß des alten Amerika hat fast vierhundert Jahre geschlafen, alles, was damit zusammenhing, galt höchstens als eine Kuriosität. Erst seit wenigen Jahrzehnten, seitdem wir eine wissenschaftliche Völkerkunde haben und seitdem die Kulturgeschichte ihren Gesichtskreis erweitert hat, fängt man an, auch diesen fernen Gebieten die verdiente Aufmerksamkeit zu widmen, und wo es hier gelungen ist, den dunklen Schleier ein wenig zu lüften, da sind das alles die Ergebnisse neuerer und neuester Forschungen und Entdeckungen.

Francisco Hernandez de Cordova war es, der zuerst, im Jahre 1517, die Küste von Yucatan besuchte. Eine zweite Expedition unter Juan de Grijalva ging ein Jahr später dorthin, und seitdem kamen auch die ersten Nachrichten über die hohe Kultur in jenen Gegenden nach Europa. Aber damit war auch zugleich das Schicksal dieser Kultur entschieden: sie mußte zu Grunde gehen unter den Tritten der spanischen Eroberer, ein vielleicht Jahrtausende altes Stück menschlicher Entwicklungsgeschichte war abgeschlossen. Man erfuhr, daß dort wie in Mexiko keine „Wilden“ wohnten, sondern gesittete Völker in zahlreichen großen Städten, daß dort Staatswesen bestanden, in denen Handel und Industrie, Technik und Kunst gepflegt wurden. Die Tempel- und Palastbauten in Yucatan waren nach der Ansicht der Spanier das Großartigste, was die Neue Welt aufzuweisen hatte. Ja, [698] Yucatan stand noch um eine Stufe höher als das Reich der Azteken. Denn die Mayas, die Bewohner Yucatans, besaßen eine eigentliche Schrift, die nicht bloß wie die Malereien, welche bei den Azteken die Stelle einer solchen vertraten, aus bildlichen Darstellungen der Gegenstände bestand, sondern buchstabenförmige Hieroglyphenzeichen aufwies, also mit der ägyptischen Hieroglyphenschrift Aehnlichkeit hatte. Die Mayavölker waren die einzigen in ganz Amerika, die es bis zu einer Schrift im eigentlichen Sinne gebracht hatten; weder die Azteken noch die alten Peruaner des Inkareiches hatten diese Höhe erreicht, sie waren entweder bei bloßen Hilfsmitteln für das Gedächtniß – wie den Quippos, der Knotenschrift der Peruaner – oder bei symbolischen Darstellungen und einfachen Abbildungen der zu beschreibenden Dinge stehen geblieben. Einen Schritt näher zu dem Endziele hatten die Azteken in Mexiko allerdings schon insofern gethan, als sie Eigennamen ganz in der Weise unserer Bilderräthsel durch Abbildungen von Dingen darstellten, die zusammengesetzt den Namen ergaben, so wie wir etwa den Namen der Stadt „Hirschberg“ im Rebus durch einen Hirsch und einen Berg wiedergeben können.

Wenn nun auch die Kenntniß der Schrift bei den Mayas nicht so allgemein verbreitet gewesen zu sein scheint wie im alten Aegypten, wo jedermann lesen und schreiben konnte, so besaßen sie doch eine vollständige Litteratur, und die Anzahl der Bücher in ihrer Hieroglyphenschrift war zu der Zeit, als die Spanier ins Land kamen, erstaunlich groß. Es wurde offenbar im alten Yucatan viel geschrieben. Man verfertigte ein Papier aus Agavefasern, das mit den chinesischen und japanischen Papiersorten einige Aehnlichkeit hat, und glättete die Oberfläche durch einen Ueberzug mit einer kal[k]artigen Masse, auf der sich mit Hilfe eines feinen Pinsels sehr gut schreiben ließ. Die wenigen erhaltenen Schriftreste, von denen noch die Rede sein wird, weisen manchmal so feine Linien auf, daß man mit einer guten Stahlfeder nicht zierlicher schreiben kann. Die Bücher wurden fächerartig zusammengelegt in der Weise wie bei uns Albums mit Ansichten von Städten, Badeorten u. dergl., oben und unten bildete ein fester Deckel den Abschluß. Ferner wurden auch Inschriften auf Stein gemeißelt, und namentlich die mit Reliefdarstellungen verzierten Wände der Tempel wurden mit Hieroglyphenschrift bedeckt. Hier verwendete man allem Anschein nach andere, ornamentalere Formen der Schriftzeichen als in den Büchern, ganz wie wir dies thun. Die Geschichte des Volkes, die mythologischen Ueberlieferungen, die religiösen Vorschriften des Kultus, der Kalender und andere Dinge wurden so aufgezeichnet und in Buchform verbreitet, denkwürdige Ereignisse in Steininschriften verewigt.

Eine Seite aus der Dresdener Mayahandschrift.

Obgleich nun schon zur Zeit der Entdeckung in Europa vereinzelt gelehrte Männer mit etwas weiterem Gesichtskreis diesen Dingen ihre Aufmerksamkeit zuwandten und die Beobachtungen über jene alte Civilisation in Yucatan in wissenschaftlichen Werken sammelten und verarbeiteten, so hatte leider die große Menge der Abenteurer, die beutegierig nach Amerika kamen, nicht das mindeste Verständniß für die Erzeugnisse der einheimischen Kultur. Ja, man glaubte eine gottgefällige That zu vollbringen und die Bekehrung der „Heiden“ zu befördern, wenn man alle diese „Werke des Teufels“ gründlich vernichtete. Ganz besonders waren es rohe und unwissende Mönche, die sich aus religiösem Fanatismus mit Eifer diesem Zerstörungswerk unterzogen, da ihnen die Schriften der Eingeborenen natürlich als die gefährlichste Waffe des Heidenthums erscheinen mußten. Die Bücher in Hieroglyphenschrift wurden zu großen Scheiterhaufen aufgeschichtet und verbrannt. Lehrreich ist, was der Bischof Diego de Landa, der von 1549 bis 1579 in Yucatan lebte und sogar selbst ein Buch über die alten Mayas geschrieben hat, in eben diesem Buche „Relacion de las cosas de Yucatan“ („Bericht über die Angelegenheiten Yucatans“), das man erst im Jahre 1864 in Madrid neu aufgefunden und veröffentlicht hat, über die Schriften der Eingeborenen sagt:

„Dieses Volk benutzte auch gewisse Charaktere oder Buchstaben, mit denen sie in ihren Büchern ihre Angelegenheiten und ihre Wissenschaften von alters her aufzeichneten und mit Hilfe deren sie dieselben erläutern und lehren konnten. Wir fanden eine große Menge dieser Schriften, aber da sie nichts enthielten als Aberglauben und Lügen des Teufels, so verbrannten wir sie alle, was die Eingeborenen sehr betrübte und ihnen sehr schmerzlich war.“

Der fromme Bischof hat gewiß keine Ahnung gehabt, daß er sich durch diese That für die Nachwelt aller Zeiten an den Pranger stellte!

Bei all ihrem Abscheu vor dergleichen Teufelszeug sahen sich aber die Mönche doch eine Zeitlang gezwungen, selbst die Hieroglyphenschrift der Heiden zu benutzen! Wie uns der päpstliche Generalkommissar von Neuspanien, Pater Fray Alonso Ponce, gegen Ende des 16. Jahrhunderts berichtet, wandten die christlichen Missionare in Yucatan die einheimische Schrift an, um die Eingeborenen in den christlichen Glaubenslehren zu unterrichten[.] Aber das konnte die alte Bildung nicht retten, das Zerstörungswerk nicht aufhalten; die Hieroglyphenschrift gerieth immer mehr in Vergessenheit, und bald war ihre Kenntniß auch unter den Eingeborenen gänzlich verschollen.

Seit der Zeit ging nun überhaupt die Kunde von der untergegangenen einheimischen Civilisation Yucatans fast gänzlich verloren. Schon aus spanische[r] Zeit sind die Berichte darüber spärlicher als die über Mexiko, weil in Yucatan keine mächtigen kriegerischen Staaten bestanden, die den europäischen Eindringlingen heftigen Widerstand entgegensetzten. Die Völker, die hier lebten, waren weniger kriegerisch als die Mexikaner, sie fielen leicht in die Hände der Spanier. Und zudem scheint es, als ob ihre Kultur sich damals schon im Niedergang befunden habe, ähnlich wie die der Griechen, als sie eine Beute der Römer wurden. Erst in unserem Jahrhundert hat man das Alterthum Yucatans neu aufgefunden. Man entdeckte, daß dort und in den angrenzenden Gegenden große Trümmerstädte im Urwald begraben lagen, großartige Tempel und Paläste, Spuren einer zahlreichen hochentwickelten Bevölkerung. Erst im Jahre 1840 unternahm der amerikanische Reisende Stephens eine gründliche Forschungsreise durch diese Gegenden, und es wurden bald die Ruinen von über fünfzig Städten aufgefunden! Auf den Gebäuden fand man zahlreiche Inschriften in der alten Hieroglyphenschrift, die längst niemand mehr verstand. Jetzt entdeckte man auch, daß sich in europäischen Bibliotheken einige Handschriften befanden, die in derselben Hieroglyphenschrift verfaßt waren. Man hatte sie früher kaum beachtet und für aztekische gehalten. Es waren [699] in der That die letzten Bücher des Mayavolkes, die dem spanischen Autodafé entgangen waren; nur drei sind im ganzen erhalten, davon eines in Deutschland, auf der königlichen Bibliothek zu Dresden, die sogenannte Dresdener Mayahandschrift.

Seitdem hat die Erforschung dieser Alterthümer bedeutende Fortschritte gemacht. Das Land ist nach allen Richtungen hin durchsucht, die großen Gebäude sind photographisch aufgenommen, die Bildsäulen, Reliefs und Inschriften in Gipsabgüssen vervielfältigt. Daß sich die architektonischen Reste den antiken Baudenkmälern der Alten Welt wohl an die Seite stellen können, mögen einige Maßangaben zeigen. Der große Palast in der Trümmerstadt Uxmal ist 98 m lang, der zu Palenque steht auf einer künstlichen Terrasse von 12 m Höhe, 95 m Länge und 79 m Breite, seine Front selbst mißt 70 m. Die mächtigen Gebäude sind leider dem sicheren Untergang geweiht. Während Aegyptens trockenes Klima der Erhaltung der dortigen Baudenkmäler außerordentlich günstig ist, wirken in Centralamerika die heiße feuchte Luft, die gewaltigen Regengüsse und die üppige Vegetation als unwiderstehliche Zerstörungsmittel.

Ueber das Alter dieser Reste läßt sich nichts Bestimmtes sagen. Daß zu den Zeiten der Eroberung, also am Anfang des 16. Jahrhunderts, schon manche der Städte verschollen im Urwald gelegen haben, scheint sicher, andere waren aber auch damals noch bewohnt. Ebenso unbekannt ist der Ursprung und die frühere Geschichte dieser Kultur. Ueber dem allem liegt ein undurchdringliches Dunkel.

Ganz besondere Aufschlüsse hat nun die Wissenschaft in neuester Zeit dadurch gewonnen, daß man angefangen hat, die Hieroglyphenschrift, in der die oben erwähnten drei Handschriften und die Steininschriften verfaßt sind, zu entziffern. Es ist erklärlich, daß man hier die wichtigsten Enthüllungen erwartet. Betheiligt haben sich an diesen Forschungen, die in den letzten Jahren gerade in Deutschland besonders gefördert worden sind, Professor Förstemann in Dresden, der berühmte Germanist und Verfasser des „Altdeutschen Namenbuches“, der als Leiter der Dresdener Bibliothek die dortige Mayahandschrift zum ersten Male in zuverlässiger Wiedergabe veröffentlichte, ein Werk, das trotz seiner Kostbarkeit kürzlich sogar die zweite Auflage erlebt hat – ferner Dr. Seler und der Verfasser dieser Zeilen in Berlin. Freilich rückt die Arbeit nur langsam vor, sie ist bei dem geringen Material unendlich schwieriger, als es seiner Zeit die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen war, bei der eine doppelsprachige Inschrift und überreiches Material zu Gebote stand. Die „Mayaforschung“ hat keine solchen Hilfsmittel, und dennoch hat sie auf ihrem mühsamen und fast hoffnungslos schwierigen Wege schon manches erreicht.

Die Zahlen von 1 bis 15 nach dem Zahlensystem der Mayas.

Es ist ein Blick in eine fremde, ferne Geisteswelt, der sich damit eröffnet, eine Geisteswelt, so wunderbar wie keine zweite auf der Erde. Nur ihre letzten kärglichen Reste werden jetzt dem jahrhundertelangen Schlummer durch die Wissenschaft entrissen, und dennoch erstaunen wir über manches Bekannte und uns ganz Geläufige, wir sehen, daß dem Menschengeist auf der ganzen Erde etwas Gemeinsames innewohnt; Dinge und Vorstellungen kehren hier wieder, die wir bei fernen, durch große Meere getrennten Völkern kennen, gemeinsame „Völkergedanken“, wie der große Ethnologe Bastian sie genannt hat, und mehr als das: Menschheitsgedanken. Früher galten solche Uebereinstimmungen als Beweise für phantastische Theorien über die Beziehungen weit voneinander entfernter Völker der Erde, und noch heute scheint es fast ein wissenschaftliches Dogma zu sein, daß eine Kultur im Lande selbst nicht entstehen kann, sie muß stets von irgendwo anders hergekommen sein. Wenn solche Vorstellungen früher ihren Grund hauptsächlich in dem Bestreben hatten, den Ursprung der Menschheit der biblischen Ueberlieferung entsprechend möglichst auf eine Stätte zurückzuführen, so wird man jetzt, nachdem dieser Grund nicht mehr maßgebend ist, allmählich auch wohl die Uebertreibungen jener Vorstellung aufgeben müssen. Es liegt gar keine Veranlassung vor, anzunehmen, daß die alte Kultur Amerikas von anderswoher eingewandert sei, und alle Versuche, sie von den Chinesen, Japanern, Indiern, Chaldäern etc. herzuleiten, sind nichts als phantastische Hypothesen.

Die Mayas, die Träger jener alten Kultur der Halbinsel Yucatan, waren nun – und das haben besonders die Entzifferungen des Professors Förstemann erwiesen – ein Volk von außerordentlicher mathematischer Begabung. Sie besaßen ein kunstvolles Zahlensystem, das in ihrer sehr verwickelten und scharfsinnigen Zeitrechnung eine große Rolle spielte. Während unser Zahlensystem sich auf der 10 aufbaut, als der Anzahl der Finger, gingen die Mayas wie viele andere Völker von der Anzahl der Finger und der Zehen aus und legten die Zahl 20 ihrem System zu Grunde. Spuren solcher Zählung sind im Französischen noch zu finden: quatre-vingt ist 4 mal 20 = 80. Bis 5 drückten die Mayas die Zahlen durch Punkte aus, Vielfache von 5 durch Striche, so bedeutet z. B. ... die Zahl 13. Zahlen über 20 wurden durch mehrstellige Zahlzeichen gebildet, ganz wie wir dies thun, aber nicht durch Nebeneinander-, sondern durch senkrechte Uebereinanderstellung der Zeichen. Wie in unserem Zahlensystem die Zahlen von links nach rechts Vielfache von 10 darstellen, so bedeuteten bei den Mayas (von einer mit der Zeitrechnung zusammenhängenden Ausnahme in der 3. Stelle abgesehen) übereinandergestellte Zahlen Vielfache von 20; es wurde z. B. 149 geschrieben durch eine 9 und darüber eine 7, d. h. 7 Zwanziger = 140 und 9 Einer = 9. Dieses System, das mit unserem viel Aehnlichkeit hat, erforderte natürlich auch ein Zeichen für die Null. Und in der That besaßen die Mayas, wie Professor Förstemann vor einigen Jahren entdeckte, ein solches! Man vergleiche damit die ungeschickten und zum Rechnen ganz unbrauchbaren Zahlzeichen der alten Römer! Zudem fehlte den Römern ein Zeichen für die Null gänzlich, ein Beweis, daß ihnen die alten Mayas an mathematischer Begabung entschieden überlegen waren. Ja selbst die von uns angenommenen arabischen Zahlzeichen stehen in Bezug auf Anschaulichkeit und praktische Brauchbarkeit hinter denen der Mayas zurück.

So konnten die alten Bewohner Yucatans ganz leicht hohe Zahlen ausdrücken, und in den drei Mayahandschriften, die sich sämmtlich auf die Zeitrechnung und auf den Kalender beziehen, spielen solche hohe Zahlen eine große Rolle. Auf manchen Seiten stehen nur Zahlen von mehreren Millionen! Man kann sie alle lesen und, da sie nach bestimmten, erkennbaren Gesetzen aufeinander folgen, sogar nachweisen, wo sich der Schreiber bei seinen schwierigen Berechnungen geirrt hat! An vielen Stellen sind solche Fehler mit rother Farbe korrigiert; offenbar hat ein Vorgesetzter des Schreibers, vielleicht ein Oberpriester, die Arbeit desselben geprüft.

Was bedeuten nun aber diese räthselhaften Reihen von hohen Zahlen? Welches Geheimniß birgt sich hinter ihnen? Man hat astronomische Angaben und Berechnungen darin vermuthet, und in der That zeigen einige derselben eine auffallende Uebereinstimmung mit gewissen Zahlenwerthen, die sich auf den scheinbaren Umlauf der Venus, das Venusjahr in seinem Verhältniß zum Erdjahr, beziehen. Sind das nicht im höchsten Grade wunderbare Ueberbleibsel jener alten fremdartigen Kultur einer fernen Welt, jener verschollenen Geistesarbeit eines merkwürdigen Volkes, dessen Geschichte sich in Dunkel hüllt und dessen Entdeckung durch die Europäer zugleich sein Untergang für immer wurde?!

So bemüht sich jetzt, nach vierhundert Jahren, die wissenschaftliche Forschung, den Schleier zu heben von der uralten Entwicklungsgeschichte des amerikanischen Menschen, und während seine entarteten Nachkommen im heutigen Yucatan mit abergläubischer Scheu, aber ohne jede Spur einer Erinnerung, an den Baudenkmälern ihrer Vorfahren vorübergehen, sammeln die Nachkommen des weißen Mannes, der einst diese Denkmäler zerstörte, sorgfältig die letzten spärlichen Reste, um aus ihnen mühsam das amerikanische Alterthum wieder aufzubauen.


[749]
II.

An einem Novembertage des Jahres 1839 stand der schon in unserem ersten Artikel erwähnte amerikanische Reisende Stephens am Ufer eines kleinen Flusses in der Nähe des Dorfes Copan an der Grenze zwischen Honduras und Guatemala, inmitten des tropischen Urwaldes, und erblickte auf der anderen Seite des Flusses eine etwa 100 Fuß hohe, zum Theil verfallene steinerne Mauer. Er setzte über den Fluß, erstieg die Mauer auf einer breiten Treppe, die hinaufführte, und befand sich plötzlich auf einer Terrasse, umgeben von den Resten einer untergegangenen Kulturwelt, von deren Vorhandensein außer den Bewohnern der nächsten Umgebung niemand etwas wußte und deren Spuren der Reisende Stephens zum ersten Male vor sich sah. Die amerikanische Alterthumskunde befand sich damals noch in den Anfängen, und Centralamerika war ein unerforschtes Gebiet. Zwar war schon im Jahre 1750 die große Ruinenstadt Palenque in der mexikanischen Provinz Chiapas von spanischen Reisenden im Urwald zufällig entdeckt worden, aber eine gedruckte Schilderung dieser Alterthümer war erst im Jahre 1822 nach Europa gelangt, und zu der Zeit, als Stephens die Ruinen von Copan auffand, gab es noch Gelehrte, die der Ansicht waren, daß eine höhere Gesittung in Amerika niemals bestanden habe, daß die Einwohner der Neuen Welt durchweg Wilde gewesen seien, und daß die Spanier daher in ihren Berichten über den Kulturzustand im alten Mexiko arg übertrieben hätten.

Das „Castillo“ zu Chichen-Itza.
Nach einer Photographie von Désiré Charnay.

Was nun der Reisende Stephens damals in Copan vor sich sah, war überraschend großartig. Unter dem Urwald begraben und von der überwuchernden tropischen Vegetation vollständig verschlungen, standen da hohe, pyramidenförmige Tempelbauten mit breiten Treppen, gewaltige steinerne Altäre und zahlreiche Bildsäulen, mit reichen Skulpturen bedeckt, und manche in kunstvoller Arbeit den schönsten Denkmälern der alten Aegypter gleich. Stephens selbst schildert in den lebhaftesten Farben den Eindruck, den die Entdeckung dieser ersten Ruinenstadt auf ihn machte, und den wunderbaren Anblick, den die Alterthümer in der tropischen Urwaldsumgebung gewährten. „Eine der Bildsäulen,“ sagt er, „war durch riesengroße Wurzeln von ihrem Postament verschoben, eine andere von den Aesten der Bäume fest umschlungen und von der Erde emporgehoben, eine andere auf den Boden geworfen und von ungeheuren Schlingpflanzen festgehalten, eine endlich stand mit ihrem Altar vor sich in einem Hain von Bäumen, der sie rings umgab, als wollte er sie beschatten und wie ein Heiligthum beschützen, und in der feierlichen Stille des Waldes erschien sie wie eine Gottheit, die über ein hingesunkenes Volk trauert. Die einzigen Laute, welche das tiefe Schweigen dieser vergrabenen Stadt störten, war der Lärm der Affen, die zwischen den Wipfeln der Bäume sich bewegten, und umgeben von den wunderbaren Denkmälern kamen sie uns vor wie die wandernden Geister des verschwundenen Volksstammes, welche die Trümmer ihrer einstigen Wohnungen behüteten … Keine Ideenverbindungen verknüpften sich mit diesem Ort, keine jener begeisternden Erinnerungen, welche Rom und Athen uns so heilig machen; und doch hatten einst in diesem überschwenglich üppigen Walde Baukunst, Skulptur, Malerei, kurz alle die Künste geblüht, die das Leben verschönen, hatten Redner, Krieger und Staatsmänner, hatten Schönheit, Ehrgeiz und Ruhm gelebt und waren dahingeschwunden … In Aegypten stehen die gigantischen Tempelskelette in dem wasserlosen Sandmeer, in der ganzen nackten Wüstenöde; hier dagegen hüllte die Ruinen eine ungeheure Waldung ein und verbarg sie vor der Menschen Blicken, wodurch der Eindruck und die moralische Wirkung erhöht und ihnen ein mächtiges und fast wildromantisches Interesse gegeben wurde … Wir fragten die Indianer, wer diese Denkmäler gebaut, und ihre dumme Antwort war: ‚Quien sabe?‘ – ‚Wer weiß?‘ …“

Nach Stephens sind viele andere Reisende in diesen Gegenden Centralamerikas gewesen, so besonders in neuester Zeit der Franzose Désiré Charnay, und die meisten der noch vorhandenen [750] Baudenkmäler sind wohl entdeckt und erforscht. Wenn anfangs die meterhohen Ablagerungen von Schutt und Erde in den Höfen der Gebäude, der wuchernde PFlanzenwuchs in und auf denselben und der gänzliche Mangel einer geschichtlichen Ueberlieferung dazu verleitet hatten, den Ruinenstädten ein ungeheures, selbst vorsintfluthliches Alter beizulegen, so wichen diese phantastischen Vermuthungen bald einer nüchterneren Anschauung, als man fand, daß einige der alten Städte zur Zeit der spanischen Eroberung noch bewohnt gewesen sein mußten, da ihre Namen in den Berichten aus jener Zeit erschienen. Andere haben aber unzweifelhaft schon damals so wie heute in Trümmern gelegen, so z. B. die große Stadt Palenque in Chiapas, denn die Spanier unter Cortez sind in einigen Meilen Entfernung an ihr vorübergezogen, ohne daß sie von dem Vorhandensein eines so bedeutenden Ortes in jener Gegend etwas erwähnen. Allerdings läßt sich aus dem Umstande, daß manche der alten Städte am Anfange des 16. Jahrhunderts noch bewohnt waren, ein sicherer Schluß auf das Alter der Gebäude nicht ziehen, denn diese können trotzdem einer viel früheren Zeit angehören, und auch der Zustand der Ruinen selbst gestattet kein Urtheil, denn das feuchte und heiße Klima der Tropen und die ungeheure Vegetation zerstört die Alterthümer unglaublich schnell, so daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo die letzte Mauer gefallen sein wird. Dennoch steht jetzt jedenfalls soviel fest, daß die Kultur, welche die Spanier bei ihrer Ankunft in Yucatan vorfanden, in unmittelbarem Zusammenhang stand mit der jener alten Ruinenstädte, und daß die heutigen Eingebornen Yucatans Nachkommen der Erbauer jener Städte sind. Ja, Stephens ererzählt in seiner Reiseschilderung die Wundermär, es liege nach Berichten der Eingebornen noch heutigen Tages tief im Innern des Landes, wohin niemals ein Europäer gekommen sei, eine jener alten Städte vollständig wohl erhalten und bewohnt von Eingebornen, die noch im Besitze der alten Bildung seien; man habe von den Gipfeln der Sierra bei klarem Wetter diese Wunderstadt in der fernen Ebene gesehen!

Die Gesammtzahl der Ruinenstädte ist sehr groß, und namentlich in der eigentlichen Heimath der Mayas, auf der Halbinsel Yucatan liegt eine Fülle solcher Baudenkmäler unter dem Urwald begraben. Die bedeutendsten sind, außer den schon erwähnten Copan in Honduras und Palenque in Chiapas, die Ruinenstädte von Uxmal, Chichen-Itza, Kabah und Tutoom in Yucatan, sämmtlich im Gebiete der Völker des Mayastammes gelegen. Der Baustil der Mayas ist im großen und ganzen dem mexikanischen, wie wir ihn aus den dortigen Teocallis (Tempeln) kennen, verwandt. Auf gewaltigen, viereckigen Terrassen, die nach den Himmelsgegenden orientiert und auf allen Seiten mit Stufen versehen sind, erheben sich die langen und niedrigen Gebäude, mit flachen Dächern und zahlreichen Eingängen, die Fronten mit Skulpturen überladen, die meist phantastisches Schnörkelwerk, mitunter aber auch sehr geschmackvolle Ornamente zeigen. Der Gesammteindruck der altamerikanischen Bauwerke ist dem der indischen Baukunst am ähnlichsten. Die überreiche üppige Tropennatur mag den künstlerischen Sinn dieser Volker auf das Barocke und Phantastische hingewiesen haben, und es läßt sich nicht leugnen, daß in der Fülle der centralamerikanischen Vegetation dieser eigenthümliche Baustil einen harmonischer Eindruck hervorbringt. Daneben finden sich aber auch vereinzelt Gebäude von ganz einfachem und edlem Stil, so z. B. zu Zayi in Yucatan ein sehr merkwürdiger, auf S. 751 abgebildeter Tempel, der mit seinen glatten Säulen und seiner strengen Architektur fast an griechische-klassische Tempelbauten erinnert.

Steinernes Götterbild von Copan.

Die Pyramidenform der altamerikanischen Gebäude hat zu mancherlei Vergleichen mit dem Baustil der alten Aegypter Veranlassung gegeben. Indessen die Unterschiede sind sehr bedeutend. Die ägyptischen Pyramiden sind selbständige Gebäude, von beträchtlicher Höhe und in der Regel mit glatten Seitenflächen, während in Centralamerika die terrassenförmig übereinandergebauten, wenig hohen aber sehr breiten pyramidenförmigen Anlagen nur den Unterbau bilden, auf dem sich der eigentliche Tempel erhebt. Unsere Abbildung des „Castillo“ zu Chichen-Itza liefert den Beleg für das Gesagte.

Eine gleich hohe Entwicklungsstufe wie die Architektur hatte die Bildhauerkunst bei den Mayas erreicht. Die vorzüglichsten Beispiele sind zu Copan gefundene Götterfiguren, etwa 4 Meter hohe, massive Steingötzen in der Form breiter Säulen, die ebenso wie die dazugehörigen Altäre mit bewunderungswürdiger Kunst gemeißelt sind und von denen unsere nebenstehende Abbildung eine Probe (nach Meye und Schmidt, „Steinbildwerke von Copan und Quirigua“) giebt. Sie bleiben hinter den ägyptischen oder indischen Bildhauerwerken in keiner Weise zurück. Nicht minder kunstvoll sind die Ornamente und Skulpturen, mit denen die Tempelwände bedeckt sind und die ehemals in bunter Uebermalung prangten. Die Figuren sind entweder alterthümlich steif, mitunter phantastisch entstellt, nicht selten aber auch von überraschender Naturtreue und Lebenswahrheit. Reich an gut ausgeführten Bildwerken sind namentlich die Gebäude zu Palenque. Da sehen wir die Gestalten der vergessenen Könige und Großen, Darsteltungen aus ihrer Geschichte und die Figuren der Gottheiten, und in langen Zeilen melden uns die Inschriften, was damals jene Welt bewegt hat. Aber die allmächtige Zeit ist darüber hingeschritten, die Namen, die einst in Mittelamerika widerhallten, sind verschollen und verklungen, die Völker verschwunden, und der Forscher aus einer fernen Welt steht vor den Hieroglyphentafeln und entziffert mit Mühe die Kalenderdaten und die sonstigen Zeitangaben, das Einzige, was bis jetzt von diesen Inschriften mit einiger Sicherheit gedeutet werden kann. –

Die Leistungen der Mayas in der Bau- und Bildhauerkunst sind um so bewunderungswürdiger, als den Mayavölkern ebenso wie den Azteken das Eisen gänzlich unbekannt war, eine höchst auffallende Thatsache, wenn man bedenkt, daß nach neueren Forschungen die alten Aegypter bereits 3000 Jahre v. Chr. im Besitz des Eisens waren. Die herkömmliche Anschauung von der Aufeinanderfolge der verschiedenen Kulturstufen: Steinzeit, Bronze- und Eisenzeit wird durch solche Thatsachen arg erschüttert. Die Mayas bedienten sich lediglich steinerner oder kupferner Werkzeuge, und derjenige Stein, der bei ihnen die Stelle des Eisens vertrat, war der Obsidian, eine vulkanische glasharte Masse, dem Feuerstein ähnlich, die allerdings den Stahl ersetzen kann und zu haarscharfen Messern, Meißeln, Beilen, Pfeil- und Lanzenspitzen verarbeitet wurde.

Was wir außer durch die Alterthümer über den Zustand des Mayavolkes erfahren, beruht meist auf den Schilderungen der spanischen Schriftsteller zur Zeit der Eroberung Mittelamerikas, und diese Berichte sind leider recht spärlich. Yucatan blieb unbeachtet, weil es keine Schätze barg; Mexiko und Peru mit ihren ungeheuren Goldreichthümern nahmen damals das öffentliche Interesse ausschließlich in Anspruch. Der größte Theil der mittelamerikanischen Kulturgeschichte wird wohl für immer in tiefem Dunkel bleiben. Manche alten Ueberlieferungen, die über das Räthsel jener großartigen Ueberbleibsel wichtige Aufschlüsse geben könnten, mögen wohl, ängstlich behütet und verborgen vor den Augen der spanischen Eindringlinge, mit dem letzten Priester der einheimischen Völker Zentralamerikas ins Grab gesunken sein.

Der Mayastamm, dem jene alten Kulturvölker höchst wahrscheinlich sämmtlich angehört haben, ist von den Azteken Mexikos ganz verschieden, spricht eine eigene Sprache und seine Abkömmlinge bewohnen noch heute Yucatan und die angrenzenden Länder. Alle diese Völker zeigen noch jetzt eine starke Widerstandsfähigkeit trotz ihrer Entartung infolge der jahrhundertelangen spanischen [751] Mißwirtschaft. Während der Indianer der Vereinigten Staaten unaufhaltsam vor der europäischen Civilisation dahinstirbt, ist davon in Yucatan keine Rede.

Tempel zu Zayi.
Nach Stephens.

Der Eingeborene ist noch immer der eigentliche Herr des Landes. Ein Blick auf eine Karte Yucatans zeigt, daß fast alle Ortsnamen der Mayasprache angehören, und der Europäer, der sich im Lande niederläßt, sieht sich gezwungen, die Sprache der Eingeborenen zu lernen; der Plantagenbesitzer, der Farmer muß mit seinen Leuten „Maya“ reden. Ob die heutige Sprache dieselbe ist, in der die Tempel-Inschriften und die Handschriften abgefaßt sind, ist natürlich sehr zweifelhaft.

Viele Aufschlüsse über das merkwürdige Leben in Yucatan giebt uns aus der Zeit der Spanier besonders der schon erwähnte Bericht des Bischofs von Merida, Diego de Lauda. Das Mayareich war einst eine mächtige Monarchie, von dem alten Königsgeschlechte der Tutul Xin regiert, die ihre Residenz in Mayapan, einige Stunden südöstlich von der heutigen Hauptstadt Merida, hatten. Aber die Vasallenfürsten in den Provinzen wurden mit der Zeit immer unabhängiger, und etwa hundert Jahre vor der Ankunft der Spanier empörten sie sich gegen den König und zerstörten Mayapan. Noch heute findet man in der Gegend, wo die alte Hauptstadt des Landes gelegen hat, die Spuren von Gebäuden im Umkreise von drei Meilen. Seitdem wurde das Land von Bürgerkriegen verwüstet, und als die Spanier kamen, gelang es ihnen leicht, die kleinen, sich untereinander befehdenden Herrscher zu überwältigen.

Die Staatseinrichtungen der Mayas waren ähnlich denen der Azteken. Der Monarch war mit der Machtfülle und dem Pomp orientalischer Fürsten bekleidet, und neben ihm bestand eine mächtige Priesterschaft, der die Pflege der geistigen Kultur, die höhere Erziehung der Jugend, die Wissenschaften, die Zeitrechnung und das Kalenderwesen besonders oblagen.

Die Religion der Mayavölker weist manche höchst wunderbare Züge auf, die zu den abenteuerlichsten Vermuthungen Anlaß gegeben haben, nämlich Anklänge an christliche Ideen, wie sie übrigens auch bei anderen Kulturvölkern Amerikas vorkommen. Die Mayas verehrten das Kreuz als religiöses Symbol; in einem der großen Tempel zu Palenque sieht man es dargestellt, und als Cortez im Jahre 1519 die Insel Cozumel an der Ostküste Yucatans besuchte, fand er dort ein steinernes Kreuz, das die Eingeborenen anbeteten. Aber kein uraltes Christenthum liegt hier vor, auch kein „Spott des Teufels“, wie die Mönche glaubten, sondern das Kreuz war den Mayas das Sinnbild der vier Weltgegenden, die Windrose, in ihren Beziehungen zum Wetter, zum Regen und zur Fruchtbarkeit des Landes. Auch die Azteken verehrten eine kreuzähnliche Figur, die sie den „Baum des Lebens“ nannten.

Ebenso wunderbar ist die Thatsache, daß die Mayas die – Kindertaufe übten! Sie verbanden damit eine völlig christliche Vorstellung, denn sie hielten die Taufe für eine Befreiung von der angeborenen Sünde, eine symbolische Reinigung, und machten sie deshalb zur religiösen Pflicht; niemand durfte über sein zwölftes Jahr hinaus ungetauft bleiben. Dazu kommt noch, daß sie den Akt mit einem Namen bezeichneten, der wörtlich bedeutet: „Von neuem geboren worden!“ Die Gebräuche bei dieser Taufe waren bei den Völkern Mittelamerikas sehr verschieden, und sie weisen mitunter recht ansprechende Züge auf; so wurde bei einem Stamm dem Kinde Staub aufs Haupt gestreut mit den Worten: „O du kleines Wesen, du bist auf diese Welt gekommen, um zu leiden – leide und schweig’! Du lebst, aber du mußt sterben; viel Schmerz und Angst wird über dich kommen, bis du wieder Staub geworden bist wie dieser Staub!“ Die Tauffeierlichkeiten der Mayas werden uns von dem Bischof Landa ziemlich eingehend beschrieben. Der Taufe ging eine Beichte der Kinder voraus, und unter Gebeten wurden die Täuflinge von dem Priester mit Wasser benetzt. Sogar Taufpathen gab es, und sie spielten bei der Handlung eine ähnliche Rolle wie bei uns. Ein Schmaus schloß die Feierlichkeit. In einer der Mayahandschriften finden wir eine Scene dargestellt, die offenbar nichts anderes ist als ein Taufakt; unsere Abbildung giebt diese höchst merkwürdige Darstellung aus der Madrider Mayahandschrift wieder, ein seltsames Bild altamerikanischen Kulturlebens, dem gegenüber man es wohl begreift, wenn die spanischen Mönche hinter dergleichen Dingen den Hohn des Teufels witterten, dem sie am wirksamsten durch gründliche Vernichtung der alten Handschriften zu begegnen glaubten.

Wenn man das heutige Yucatan mit dem alten Mayareich vergleicht, so fällt der Vergleich keineswegs zu Gunsten des modernen Landes aus. Yucatan war in der alten Zeit mehr bevölkert als heutzutage – wie auch die Hauptstadt des Aztekenreiches größer und volkreicher war als das heutige Mexiko und wo heute ärmliche Dörfer stehen, erhoben sich damals große und reiche Städte. Handel und Verkehr standen dementsprechend in hoher Blüthe. Es klingt wie ein Märchen, wenn man hört, daß im alten Yucatan breite, gepflasterte Kunststraßen das Land durchzogen, wo heute die „camino real“ („Königlicher Weg“) genannten Straßen sich trotz ihres stolzen Namens meist nur als erbärmliche Maulthierpfade darstellen – wenn überhaupt ein Weg vorhanden ist.

Kaufleute, die im alten Amerika besonderes Ansehen genossen, durchzogen in internationalem Handelsverkehr Mittelamerika von Mexiko bis Honduras, und als Zahlmittel dienten an Stelle des Geldes Kakaobohnen, Kupfer und Edelsteine. Die Volksnahrungsmittel, wie z. B. der Mais, wurden zu amtlich festgesetzten Preisen verkauft, und die spanischen Schriftsteller berichten uns ausdrücklich, daß jede Verpflichtung streng eingehalten und die Erfüllung von Verträgen sorgfältig überwacht wurde. Die Justizpflege war wohlgeordnet und lag besonderen Beamten ob; in jedem Orte befand sich ein Richter, der unter Zuziehung von Beisitzern Recht sprach, und ein königlicher Kommissar reiste im Lande umher und prüfte die Thätigkeit der Gerichte.

Das Jahr theilten die Mayas in achtzehn Monate zu je zwanzig Tagen und fünf Schalttage, nebenher ging eine Zählung von Wochen zu je dreizehn Tagen. Jeder Tag erhielt daher eine Doppelbezeichnung, einen der zwanzig Tagesnamen und eine der Zahlen bis dreizehn, wodurch sich ein sehr geschicktes Kombinationssystem ergab, bei dem erst nach langen Zeiträumen wieder ein Tag denselben Namen und dieselbe Zahl bekam. Gerade auf dem Gebiete der Zeitrechnung zeigten die Mayas eine besondere Begabung. Die Zeitrechnung und der Kalender spielten denn auch im Leben des Volkes eine große Rolle, es giebt fast kein einziges Ueberbleibsel in Mayahieroglyphen, wo sich nicht unter den Schriftzeichen Zahlen und Tages- oder Monatshieroglyphen vorfänden.

Der Charakter der alten Mayas wird uns von den spanischen Schriftstellern sehr günstig geschildert, namentlich die Frauen werden als Gattinnen und Mütter außerordentlich gelobt. [752] Ein Spanier Namens Alonso Lopez de Avila, der im Kampfe eine Eingeborene von auffallender Schönheit gefangen genommen hatte, ließ dieselbe, wie uns der Bischof Landa erzählt – den Bluthunden vorwerfen, weil sie sich weigerte, ihrem Gatten untreu zu werden. Eine Schattenseite der Mayas war ihre Neigung zu Vergnügungen und berauschenden Getränken. Auch die abscheulichen Menschenopfer kamen in Yucatan vor; aber sie waren sehr viel seltener als in Mexiko, wo nach jedem Kriege Tausende von Gefangenen den Göttern geopfert wurden. Das häusliche Leben war ziemlich einfach, die Erziehung der Kinder sorgfältig und streng. Die Wohnhäuser, natürlich nicht entfernt so großartig wie die öffentlichen Gebäude, die Tempel und Paläste, waren, dem Klima angemessen, leicht und luftig, ebenso wie die Kleidung. Eine besondere Kunst der alten Centralamerikaner war die Verfertigung von kostbaren Geweben aus zahllosen bunten Vogelfedern, die sie zu einer Art von Mosaik verarbeiteten, eine Knust, die wie so manches andere mit der alten Kultur verloren gegangen ist. –

Eine Taufe bei den Mayas.
Aus der Madrider Mayahandschrift.

Diese kurzen Rückblicke auf die untergegangene Kulturwelt des alten Amerika, zu denen uns die 400jahrige Jubelfeier der Entdeckung der Neuen Welt die Veranlassung bot, liefern uns in gewissem Sinne die Schattenseiten der großen Ereignisse, deren Feier wir begangen haben, sie zeigen uns, daß die europäische Kultur für den amerikanischen Menschen ein Danaergeschenk gewesen ist. Wir feiern die Entdeckung Amerikas als die Träger der siegreichen Kultur, als die Nachkommen der Eroberer der Neuen Welt, als die Erben, denen die Vortheile der Kämpfe zugefallen sind. Es ziemt sich bei dieser Gelegenheit, daran zu erinnern, was auf seiten der Besiegten verloren gegangen ist, und dem Andenken der untergegangenen Welt sind diese Zeilen gewidmet. Wer die heutigen Zustände in Mittelamerika mit denen der vorkolumbischen Zeit, wie sie hier skizziert sind, vergleicht, der muß mit Beschämung eingestehen, daß die europäische Kultur die einheimischen Völker Centralamerikas nicht beglückt, nicht gefördert, sondern zurückgeworfen hat.

Beinahe 400 Jahre hat die christlich-europäische Civilisation Zeit gehabt, den Schaden zu ersetzen, den die Eroberer dem Lande zugefügt haben, und noch heute steht Mittelnmerika auf einer in vielen Beziehungen niedrigeren Stufe als vor der Entdeckung. Die nationale Kunst, die lebendige Entwicklung der Technik, des Verkehrs, des Handels, der Wissenschaften, das alles ist erstorben und bis heute nicht wieder erwacht; statt dessen herrscht die Jahrhunderte alte Mißwirthschaft, die Vernachlässigung und die Halbkultur, unter welcher der Eingeborene verkommt: oberflächlich mit europäischer Civilisation übertünchte Barbarei. Wird ein einheimisches Kulturleben, wie es das untergegangene war, auf dem Boden Centralamerikas jemals wieder erblühen?