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Als ich mal renommieren wollte

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Textdaten
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Autor: E. v. Wang
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Titel: Als ich ’mal renommieren wollte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 700, 702–704, 706
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[700]

Als ich ’mal renommieren wollte.

Erinnerung aus der Schulzeit.
Von E. v. Wang.

Wenn Gustav in diesem Jahre nach Sekunda kommt, werde ich ihn zur Belohnung ganz allein zur Großmama nach Berlin schicken!“ So hatte ich meinen Vater zur Mutter sagen hören, als ich gerade an der offenen Stubenthür vorbeiging. Die Wirkung dieser Worte auf mich war wunderbar. Eben war ich im Begriff gewesen, das Haus zu verlassen, um meinen neuen Weihnachtspaletot, meinen neuen Schlips, den so überaus kleidsamen neuen Filzhut und den zu einem schlanken Stückchen zusammengedrehten Schirm auf der Langgasse spazieren zu führen. Jetzt wandte ich mich im Nu auf dem Absatz herum und flog die Treppe in meine Giebelstube wieder hinauf. Ohne mich zu besinnen, entledigte ich mich der schönen, zum erstenmal ohne Zuhilfenahme von Papas alten Röcken hergestellten Garderobe und fuhr wieder in den alten Knabenkittel, dessen Aermel so abscheulich viel von meinen Handgelenken freiließen. Ich sah es wohl im Spiegel und bemerkte auch, wie mir der schnelle Kleiderwechsel all den Nimbus raubte, in dem ich mich wenige Minuten vorher gesonnt hatte, als ich in dem stattlichen dickwattierten Ueberzieher mit dem Stolzgefühl eines angehenden Bonvivants an derselben Stelle gestanden. Aber was that’s! Der Gedanke, bald „ganz allein“ nach Berlin reisen zu können, ließ keinen andern neben sich aufkommen!

Dann machte ich mich an die Arbeit, und sie geriet ganz gewiß besser, als wenn vorher in der Langgasse die Augen einiger „höheren Töchter“ sinnverwirrend auf mir geruht hätten. Und als ich fertig war, da dachte ich nicht mehr an die Langgasse, ich dachte an die „Linden“ Berlins. Ich schwelgte in der Vorstellung, so ganz, ganz allein, frei wie ein Vogel und unabhängig wie ein Student, von niemand gegängelt und gehindert, erst in die Welt hineinzufahren und mich dann in das Gewühl der Großstadt zu stürzen. Das Absteigequartier bei Großmama – hm, das mußte sein, das war ja die Voraussetzung der ganzen Reise! Ich freute mich ja auch aufrichtig auf Großmama! Ader wenn ich sie dann in ihrem traulichen Stübchen begrüßt haben würde, dann wollte ich hinauswandern in die große Stadt, um teilzunehmen an ihrem heißpulsierenden Leben und alles kennenzulernen, was sie interessant macht, ihre Licht- und ihre – Nachtseiten! Ich war ja noch ein ganzes Kind, aber von diesen „Nachtseiten“ hatte ich doch schon vernommen – was trifft nicht alles das Ohr eines heranreifenden, in die Welt hineinlauschenden Knaben, was kommt ihm nicht alles unter die Augen, und sei es auf dem Stück Zeitungspapier, in welches die sorgende Hand der Mutter harmlos das Frühstücksbrot für den Schulweg einwickelt! Freilich zu der angelesenen Weltkenntnis fehlte die deutliche Vorstellung – es schwebte mir nur die Ahnung von etwas schauerlich Schönem, das man „pikant“ nannte, vor. Eine Welt, angethan mit dem Zauber unangetasteten Geheimnisses – und diese Welt sollte mir nun bald die Reise entschleiern!

Das gab mir auch in den folgenden Wochen viel zu denken, zu träumen. Aber es hielt mich nicht ab, meine Schularbeiten mit Fleiß und Eifer zu machen und während des Unterrichts besser aufzupassen als sonst wohl. Ich mußte ja versetzt werden, um die Erlaubnis zu der Reise nach Berlin zu erhalten! Das feuerte an. Dann kamen die Tage der Prüfung, des letzten Kampfes um das diesmal mir so schön vergoldete Ziel. Und ich rang mich durch, ich wurde versetzt – der Tag war da, wo ich freudestrahlend den Eltern verkünden konnte, daß ich Sekundaner geworden.

Man hatte einen Pudding gebacken, den man, im Falle ich nicht versetzt wurde, kalt stellen konnte – nun dampfte er auf dem Tisch und daneben stand die Kirschsauce, und Vater und Mutter lasen Wange an Wange das Zeugnis, während ich weder an die Versetzung, noch an die durch sie verbesserten Aussichten für meine Zukunft dachte, sondern nur an den Pudding und an Berlin. Ich bat, heute einmal nur Pudding essen zu dürfen, und als das Mahl fertig war, saß ich da wie eine Boa constrictor und nahm Papas längst erwartete Frage, ob ich am andern Tage Großmama besuchen wolle, deshalb mit so ruhiger Würde hin, weil ich fühlte, daß jede lebhafte Freudenäußerung meinem körperlichen Befinden im höchsten Grade unzuträglich werden müßte. Papa, der sich während seiner Frage zurückgelehnt hatte, um mich schlau lächelnd über die Brille anzusehen, hatte gewiß eine lebhaftere Freudenäußerung erwartet.

[702] Nun stand es unwiderruflich fest: am folgenden Tage sollte ich meine erste Reise, meine erste selbständige Reise anrreten!

Ich war zu Weihnachten so ausgestattet worden, daß Mama jetzt nur den Koffer zu packen brauchte, wobei mein jüngerer Bruder Toby mit rührend selbstloser Teilnahme half. Fast bei jedem Stück, das in den Koffer gelegt wurde, sagte er: „Das darf auch mit nach Berlin!“ oder: „Ihr glücklichen Hemden, Großmama wird euch gewiß selbst auspacken“ und so weiter. Er brachte bald dies und bald jenes von seinen Sachen und fragte, ob ich das nicht lieber auch mitnehmen möchte, ich könnte es vielleicht brauchen. Ich meine, das geschah nicht allein aus Teilnahme an meinem Glück, sondern ihm machte schon der Gedanke Spaß, daß wenigstens etwas von seinen Sachen die Reise mitmachen dürfte.

Als der Junge so eine Weile mit glänzenden Augen und heißen Backen seine Aufmerksamkeit zwischen mir und dem Koffer geteilt hatte, geschah etwas Unerwartetes. Toby hatte gerade, ganz gegen Gewohnheit respektvoll, zu mir, der ich vor dem Spiegel meine Reisetoilette anlegte, die anerkennenden Worte gesprochen: „Du siehst wirklich wie ein Sekundaner aus, beinahe wie ein Erwachsener,“ da sagte auf einmal Papa halb zu Mama gewandt, während ihre Blicke sich eigentümlich über mir kreuzten: „Na, Toby, pack deinen Kram mit hinein, du kannst mitreisen!“

Ich muß bemerken, daß ich meinen Bruder zärtlich liebte, daß ich ihm in Feuers- und Wassersgefahr unverzüglich nachgesprungen wäre – als er aber so dazu ausersehen ward, von meiner Reise die ganze Sahne abzuschöpfen, da hatte ich keinen Funken von Teilnahme für die Seligkeit, mit der er sich den Eltern an den Hals warf; ich hätte dem von nun an gemeinschaftlichen Koffer einen Stoß mit dem Fuße geben und ausrufen mögen: „Nun fahre ich gar nicht!“ Doch ich schämte mich meines Zornes und drehte Toby und den Eltern den Rücken. Zum Glück wurde ich gar nicht beachtet in seinem Freudenrausch. „Zur Großmama, zur Großmama!“ rief er und tanzte durch das Haus. Ich hatte fast nur an Berlin gedacht, an Großmama nur nebenbei, aber Toby – er dachte nur an Großmama, und wie es bei Großmama aussehen würde! Berlin war für ihn nur der Hintergrund für die liebe alte Frau.

Und nun schleppte er seine Sachen heran und packte sie in meinen Koffer. Ich war viel besser ausstaffiert als er, „trug“ er doch „auf“, was aus Vaters Kleidern für mich gemacht worden war. Die Knopflöcher seines Ueberziehers waren rund wie Mauslöcher, die ausgebeutelten Taschen voll gestopfter Risse, und mit diesem Paletot, mit diesen mehrfach geflickten schiefgetretenen Schuhen sollte er neben mir im Coupé sitzen, wenn ich den Mitreisenden das Rätsel aufgab, was für ein bedeutender junger Mann ich wohl sei! Nun, Toby ist auch nicht immer derselbe geblieben; nach und nach kam auch bei ihm die Selbstkritik zum Durchbruch und mit ihr das Verlangen, den Mangel an innerem Gleichgewicht durch eine zureichendere Toilette zu maskieren. Eine Eitelkeit, die nur bei hoffnungslosen Schmutzfinken ausbleibt.

Was Benzin, Bürste, Nadel und Faden an seinen Kleidern in Eile gutmachen konnten, das geschah. Ich machte den Vorschlag, ihn seine Sonntagssachen gleich zur Reise anziehen zu lassen, doch Mutter erklärte, da dieselben aus dem „billigen“ Laden wären, so vertrügen sie es wohl, von Toby bei einer Visite getragen zu werden, aber nicht, von Danzig bis Berlin die Bänke zu scheuern.

Ich gab mir redlich Mühe, mich mit der neuen Lage zu versöhnen. Doch fiel es mir recht schwer. Was den Besuch des „Zoologischen“, des Aquariums, des Panoptikums und der Urania anbetraf, so war mir die Begleitung von Toby ja nicht unwillkommen, da hatten wir so ziemlich die gleichen Interessen. Aber mit der erträumten freien Burschenherrlichkeit war es aus und vorbei! Ich hatte auf den Bruder aufzupassen, anstatt auf die mich umgebende neue Welt, ich hatte auf seine kindischen Interessen einzugehen, anstatt mich den Rätseln der Großstadt hinzugeben! So dachte ich – ahnungslos, daß der kleine Junge mir lediglich als Aufpasser beigegeben wurde, als Bleigewicht gegenüber den hinreißenden neuen Eindrücken.

Trotzdem wir, in einer Vorstadt wohnend, täglich die Lokalbahn benutzten, machte mir der Gedanke, an den Billetschalter treten und zwei Billets nach Berlin fordern zu können, genau denselben Spaß, als wenn ich ein kleinstädtischer Junge gewesen wäre.

Aber aus diesem Spaß wurde nichts, die gute Mutter konnte sich nicht entschließen, uns die letzte Stunde, die sich so schön mit Ermahnungen ausfüllen ließ, uns selbst zu überlassen. Sie begleitete uns, um, wie sie erklärte, unsere Billets zu besorgen. Ich bat, sich dieser Mühe doch nicht zu unterziehen, am Billetschalter wäre es so zugig. „Gieb mir nur das Geld,“ warf ich hin, wie wenn sich das von selbst verstünde, und streckte die Hand aus, als wäre diese Sache gar keiner Erörterung wert.

Aber nein! Mama erklärte, sie wolle am Schalter alles „noch einmal ordentlich befragen“. – Nur das nicht! knirschte es in mir, und jeder, der einmal selbst Sekundaner war, wird mir nachempfinden können, mit welchen Empfindungen ich diesem aus treuestem Herzen stammenden Vorhaben der Mutter entgegensah. So bescheiden wie möglich wies ich darauf hin, daß Papa ja die ganze Route klipp und klar aufgeschrieben und was es kostete abgezählt und eingewickelt habe. Aber Mama beachtete meinen Einwurf gar nicht, sondern fuhr fort, auf den guten treuherzig aufhorchenden Toby einzureden, der an ihrem Arm hing und zärtlich zu ihr emporblickte. „Wenn ihr euch zum Fenster hinauslehnt,“ wandte sie sich an mich, „kann plötzlich ein Tunnel kommen, und euch wird der Kopf eingeschlagen, oder ihr werdet blind von der Zugluft. Und bei Großmama müßt ihr euch gut die Füße rein machen. Und wenn Großmama nachmittags bei der Zeitung einschläft, dann stört sie nicht, sondern bleibt schön still sitzen. Sie schläft von 1 bis 4 Uhr, dann wird Kaffee getrunken, und dann wird Tante Tildchen mit euch ausgehen. Vormittags wird sie dazu keine Zeit haben; dann werdet ihr vom Fenster aus das Treiben auf der Straße betrachten, es ist dort sehr lebhaft; oder spielt Halma, lest und schreibt an uns, aber versucht nicht, allein auszugehen! Großmama würde sich tot ängstigen.“

Ich war ganz baff. Von morgens 7 bis zum Mittagsessen aus dem Fenster sehen, von 1 bis 4 Uhr neben einer schlafenden Großmama sitzen und dann um 4 Uhr mit Tante Tildchen ausgehen! O freie Burschenherrlichkeit, du lockender Traum, solltest du wirklich also zerrinnen?

Am Billetschalter herrschte lebhaftes Gedränge. Und was ich als das Schlimmste befürchtet hatte, traf ein: eine ganze Schar von Schülern der oberen Klassen des Gymnasiums bemühte sich gleichfalls um Billets. Nach Zoppot, wie ich hörte. Und sie alle sollten nun Zeuge werden, wie über meinen Kopf weg Mama unsere Reise erörtern würde, als sei ich noch ein Kind, das man an der Hand führen müsse.

„Hier meine beiden Knaben sollen nach Berlin fahren,“ begann sie – „zur Großmama“ – letztere Erläuterung galt dem uns durch langen Verkehr bekannten Billeteur, nicht dem Eisenbahnfiskus. „Geben Sie mir zwei Billets dritter Klasse nach Berlin! Das geht über Stettin, nicht wahr?“ „Aber Mama, selbstverständlich,“ raunte ich ihr im tiefsten Kehlton männlicher Ueberlegenheit zu, „oder wir müßten mit einem ganz andern Zug über Dirschau fahren,“ fuhr ich lauter fort, um vor den Umstehenden die Ehre der Familie zu retten.

Doch Mama ließ sich nicht beirren. – „Und in Stettin muß umgestiegen werden, nicht wahr? Da müssen die Kinder über ein Gleis gehen – ist das nicht gefährlich?“

Glücklicherweise reichten die Specialkenntnisse des Billeteurs über seinen Bezirk nicht hinaus. „Na, die jungen Herren werden sich schon zu helfen wissen,“ sagte er lächelnd, legte die Billets hin, strich das Geld ein und die Nachdrängenden schoben unsre Mutter weiter.

Sie reichte verschiedenen ihr bekannten Damen die Hand und klagte: „Es ist einem doch so eigen, die beiden Buben ganz allein fahren zu lassen. Sie fahren nur bis Zoppot – schade, wie gerne hätte ich sie Ihnen anvertraut.“

„Na, bis Zoppot will ich ihn beschützen, auch soll’s mir nicht darauf ankommen, bis Klein-Katz mitzufahren!“ sagte Konrad Telge, einer von deu Autoritäten der Obersekunda, und gratulierte mir händeschüttelnd zu der Reise. Und ohne den Hohn dieser Worte zu erfassen, nahm die besorgte Mutter vor [703] den uns spöttisch musternden Mitschülern ihre Ermahnungspredigt wieder auf: „Und vor den Bauernfängern nehmt euch in acht … trinkt nicht erhitzt, verderbt euch nicht den Magen …“ Dann verstummte sie plötzlich und horchte auf. Und schnell sich nach dem Schalter zurückwendend, wo eben von einer Dame ein Billet nach Berlin gefordert worden war, schoß sie auf diese los: „Sie fahren nach Berlin?“ jauchzte sie, „ach, da hätte ich eine große Bitte! Hier meine beiden Knaben fahren auch nach Berlin, zur Großmama – möchten Sie sich nicht derselben annehmen? Sie sind noch nie allein gereist!“

Jetzt war nur noch durch schnelles Handeln der letzte Rest der erwarteten Reiseromantik zu retten. Gerade fuhr der Zug ein. Der Augenblick war günstig. „Mama, der Zug ist da,“ rief ich ängstlich und faßte sie unterm Arm, während ich mit der andern Hand unbarmherzigen Griffes Tobys fleischlosen Oberarm packte und beide so auf dem Bahnsteig vorwärts schob. Aber meine Mutter ließ ihrerseits auch die nach Berlin reisende Dame nicht locker. Rückwärts gewandt, sprach sie weiter in sie hinein, so daß ich nur Bruchstücke der Unterhaltung auffangen konnte: – „können verunglücken – bösen Menschen in die Hände fallen – nicht hinfinden“. – „Können ganz ruhig sein, werde schon aufpassen – sie nicht aus den Augen lassen, bis ich sie dem Onkel übergebe.“

Ich knirschte mit den Zähnen. O freie Burschenherrlichkeit: ich sollte auf einen kleinen Jungen, und eine fremde Dame sollte auf mich aufpassen. Das war meine Reise „ganz allein nach Berlin “!

Noch einen Kuß tauschte ich mit der Mutter, während ich ihr mit von Thränen erstickter Stimme zuraunte: „Nun hast du mir die ganze Reise verdorben!“ Dann schubste ich Toby und den Koffer in ein leeres Rauchcoupé und schlug die Thür hinter uns zu, die aber im selben Augenblick wieder aufgerissen wurde. Die Dame, deren Aufsicht ich anvertraut war, stieg uns nach.

Toby war ihr bei dem Verstauen ihres zahlreichen Gepäcks behilflich; sentimentales altjüngferliches Reisegepäck: Plaidrollen, auf denen „Glückliche Reise“ gestickt war, ein Schlummerkissen, mit der Widmung „Nur ein Viertelstündchen“, eine Schirmtasche, mit „Gut Wetter“ und ein Kofferbezug, der ebenfalls mit einem wohlmeinenden Spruch verziert war. Ich lehnte mich zum Fenster hinaus, las in den Augen meiner Mutter aufdämmerndes Verständnis und Reue, die Lokomotive zog an, und ich sank in eine Ecke, steckte die Hände in die Taschen, schob den Hut in die Stirn und gab mir ein so unleidliches Ansehen, wie es Jungen in meinem damaligen Alter an und für sich schon nicht unnatürlich ist. Wenn ich nur Cigarren gehabt hätte, ich hätte ihr eine nach der anderen bei geschlossenen Fenstern unter der Nase vorgepafft, unbekümmert darum, was aus mir danach wurde. Gewöhnlich wurde mir schlecht davon.

Ja, hätte sie ehrlich alt ausgesehen, aber sie hatte sich so als Backfisch zurecht gemacht, und davon ließ sich der gute Toby bestechen. „Sei doch nicht so eklig,“ raunte er mir zu, „sie ist wirklich ganz nett und weiß so schön auf allen Bahnhöfen Bescheid. Und laß dir nur ja nicht einfallen, in Zoppot in ein anderes Coupé zu steigen; sie sagt, dann müsse sie nachsteigen; sie sähe wohl, daß dir ihre Aufsicht nicht gefiele, aber ihr Wort müsse sie halten.“

Im selben Augenblick hielten wir in Zoppot und das Erscheinen von Konrad Telges Gesicht am Fenster hinderte mich an der Flucht. „Na, Gustav! Ist dir noch nichts passiert? Steck’ nur nicht deinen Kopf zum Fenster heraus, ein Tunnel könnte kommen und ihn dir wegnehmen,“ höhnte er. Da wurde er rechtzeitig beiseite gedrängt. Sechs Matrosen mit sechs brennenden Cigarren platzten lachend und ulkend in unser Coupé. Der Dame wurde angst, sie sprang auf und setzte sich zwischen Toby und mich.

„Haben Sie keine Bange nicht, wir duhn Ihnen nischt!“ sagte der eine.

„Wenn Ihnen das Rauchen unangenehm ist, müssen Sie nicht ins Rauchcoupé steigen,“ sagte der zweite.

„Ja, so ’ne scheene junge Dame, die muß immer Damencoupé fahren!“ sagte der dritte.

Sie sah mich an, flehend, Schutz heischend, und ich war so unritterlich, keine Notiz davon zu nehmen.

Die Matrosen raunten sich unverständliche Worte zu, sie lächelten, grinsten und stießen sich mit den Ellbogen in die Seite; die Dame sah wie verraten und verkauft drein. Toby war ganz hingenommen, die Unterhaltung zu erlauschen, und starrte von einem zum anderen, wie so ein selbstvergessener amüsierter Junge starrt: den Rücken krumm, die Hände in den Hosentaschen, den Mund offen, die einwärts gedrehten Füße baumelnd, dann und wann ein blitzähnliches Aufleuchten auf dem breiten Gesicht.

Als sich eine Station mit längerem Aufenthalt näherte, dachte ich: Nun wird sie aussteigen; auf die dahinzielende Bemerkung eines Matrosen sagte sie aber: „Ja, wenn die beiden Knaben mir folgen; sonst bin ich gezwungen, in diesem Qualm auszuhalten.“ Aber nun streikte auch Toby. „Ich bleibe hier,“ erklärte er bestimmt. Er hatte doch gar zu interessante Worte aufgefangen: Rio, Calcutta, Honolulu, Singapore! Es dauerte nicht lange, so waren wir beide im besten Zuge, die Leute über ihre Reisen auszufragen und uns erzählen zu lassen. Vergessen war die Dame! Ich dachte nicht mehr an Umsteigen. Als ich mit den Leuten in einer Station Bier getrunken, stieg ich ruhig ins selbe Coupé, und in Stettin gaben mir die Matrosen mit Händeschütteln und dem Wunsche „Viel Vergnügen in Berlin“ meine ganze Manneswürde zurück. Mochte die Dame auf mich aufpassen, es war mir so gleichgültig, als wenn mich eine Katze ansähe.

Ein paar Stationen vor Berlin erklärte sie aber plötzlich, daß sie auf der letzten Station einen Onkel Meier wohnen hätte, dem sie etwas zu übergeben hätte, sie habe es vorhin ganz vergessen. Da müsse sie nun aussteigen und könne deshalb ihr Versprechen nicht vollständig halten. Aber sollten wir unseren Onkel auf dem Bahnhof nicht treffen, so möchten wir nur warten; sie würde bestimmt den nächsten Zug benutzen und uns vom Bahnhof dann bis ans Haus der Großmutter bringen.

Ich erwiderte ihr, sie möge sich gar keine Sorge machen; es wäre „selbstverständlich“, daß wir uns nicht ohne jede Führung in den Berliner Straßenwirbel stürzen würden; sie könne ruhig aussteigen. Die letzte Station kam in Sicht, ich öffnete das Fenster, um unserer Duenna beim Aussteigen behilflich zu sein.

Auf dem Perron stand unter anderen Passagieren ein Gendarm, stramm wie eine Säule, sauber vom Helm bis zur Stiefelspitze. Toby schüttelte unserer Dame die Hand, ich riß meinen Hut mit übertriebener Höflichkeit vom Kopfe, sie bestellte noch Grüße an meine Mutter; die schön bestickten Handgepäckstücke wurden ihr nachgereicht, und ich schlug seelenvergnügt die Thür zu. Willkommen, freie Burschenherrlichkeit! Jetzt werden wir in Berlin einziehen wie ein paar Studenten! Juchhe!

Der Gendarm war unterdessen den Zug abgelaufen, ohne einen Platz zu finden; da stieß er auf unsere Dame, sie stutzte, sie eilte auf ihn zu, sie redete auf ihn ein. Wollte diese hilfsbereite Seele dem Gendarm zu einem Platz verhelfen, war es ein Bekannter von ihr, vielleicht Onkel Meier selbst? Sie zeigte auf unser Coupé, der Gendarm nickte und stürzte auf uns zu. Mit Blitzesschnelle drängte sich mir der Zusammenhang auf: wir waren abermals einer Schutzmacht übergeben! Diesmal einer bewaffneten! Entsetzlich! Toby, der Koffer und ich flogen hinaus, aber ebenso schnell waren wir drei von des Gendarmen geschäftskundiger Hand zurückexpediert, er sprang nach und schlug die Thür zu.

„Sakermentsche Buben! ’s hat gepfiffen und kein Platz ist im ganzen Zuge mehr! Aber ich weiß schon Bescheid, die Bub’n wollen wohl erst ’n bißel allein nach Berlin ’nein, sich nicht gleich vom Onkel finden lassen. Daraus wird nichts! Hab’s dem Fräulein Böhm versprochen und laß nicht locker, bis der Onkel zur Stelle ist!“

Aus dem Nebencoupé starrten Augen voll Neugier auf die beiden Knaben, die wie Ausreißer in das Coupé zurückgeworfen worden waren, und nun wie Inkulpaten dasaßen. Doch die Gaffer hatten nicht viel Zeit. Berlin näherte sich mit größter Beschleunigung. Man griff nach dem Handgepäck. Da dehnte sich schon das Häusermeer vor den Fenstern. Der Zug hielt. Höflich ließ der Gendarm die übrigen Insassen unseres Coupés aussteigen, dann folgte er, setzte eines seiner wohlbestiefelten Beine auf das Trittbrett und befahl uns, oben zu bleiben, weil [704] wir von da am besten von dem Onkel aufzufinden sein würden. Dann stützte er sein Körpergewicht auf den Säbel und stand wie ein Fels im Meer, wie eine preußische Schildwache dasteht, unbekümmert, was um sie vorgeht.

Da sein Vorschlag praktisch war, denn die Ferienflut, die dem Zug entquoll, hätte das Erkennen des Onkels sonst fast unmöglich gemacht, fanden wir uns leidlich in unser Schicksal und schauten sehnsüchtig nach dem Erwarteten aus. Dabei fiel es uns aber doch auf, daß sich die Menge vor unserem Coupé im Vorbeiziehen immer etwas staute und auch, als es sich lichtete, ein Trupp Menschen vor uns stehen blieb und uns mit wachsender Neugierde betrachtete. Ein paar schadenfrohe und ein paar mitleidige Physiognomien fielen mir dermaßen auf, daß ich den Gendarm fragte, was die Leute denn eigentlich wollten.

Der Gendarm warf einen Blick um sich: „Ach so,“ sagte er, „die denken bloß, daß ich euch arretiert habe.“ Bloß – arretiert! Und das mir, der ich so viel auf das Dekorum gab. Ich sprang gewaltsam aus dem Wagen, und im selben Augenblick zerteilte auch Onkel Eugen die Menschenflut mit ausgestreckten Armen, wie ein Schwimmer. Der Hut saß ihm im Nacken und in seinen Augen malten sich Entrüstung und Entsetzen. „Kinder, Kinder!“ keuchte er, „was bedeutet das?“ Schwankend zwischen kindischer Wut, dem Verlangen, das ganze Elend dieser Fahrt mit thränenerstickter Stimme zu erzählen, und dem Drange einer Mannesseele, welche alles begreift und verzeiht, gelang es mir schließlich, mich mit Humor aus der Affaire zu ziehen. Ich reichte dem Gendarm mit verbindlichem Lächeln die Hand und sagte so laut, daß die Umstehenden es hören mußten: „Haben Sie Dank für Ihre freundliche Unterstützung!“ Und dann meinen Arm in den des Onkels schiebend, machte ich ihm so obenhin eine Erklärung, wie wir zu dem Schutze durch diesen Bewaffneten gekommen waren.

Der Onkel atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank!“ rief er und erzählte, wie er in der Menge folgende Ausrufe gehört hatte: Arretiert! Solche Bengels! Was mögen die angestellt haben, so jung und schon so verderbt! Die armen Eltern! „Und,“ fuhr er fort, „als ich schließlich nach den in Rede stehenden Jungen blicke, da sind es meine eigenen Neffen. Verleugnen hätte ich euch mögen!“

Das war unser Einzug in Berlin. Den Empfang bei Großmama will ich übergehen, auch wie wir nach und nach die Sehenswürdigkeiten Berlins besuchten. Onkel verstand das „Bärenführen“ aus dem Grunde und hatte für uns Zeit. Wir waren nicht bloß aufs zum Fensterhinausschauen, auf Tante und Großmama angewiesen; aber wenn wir mit dem Onkel zu den beiden Frauen heimkehrten, ganz erfüllt und überströmend von allem Erlebten, dann empfingen sie uns mit ihrer Liebe und einer gedeckten Tafel und machten wahre Götzenbilder aus uns, was wir uns wohlig gefallen ließen. Und selbst wenn wir des Abends kein besonderes Vergnügen, wie Besuche im Theater und Cirkus, vorhatten, gelüstete es mich nicht nach den „Nachtseiten“ der Großstadt. Ich hätte die Nase nicht mehr aus der Thüre stecken mögen, wenn die anderen drinnen um den Theetisch und die strickende Großmama saßen und Toby mit des Onkels kleinen Kindern „Post- und Reisespiel“ spielte.

Bei allem, was ich sah, war ich innig froh, daß Toby neben mir hertrabte, trotz seines schlechten Paletots und seiner schiefen Absätze; ich vergaß, mich mit meiner eigenen werten Person zu beschäftigen. Ueber all den Eindrücken, die ich empfing, dachte ich nicht mehr daran, selbst Eindruck machen zu wollen. Das große Berlin hatte mich sehr klein gemacht, in seiner gesunden Kraft wirkte das Leben, das ich wahrnahm, erhebend und reinigend auf meinen Geist, so daß all meine über Berlins interessante Nachtseiten zusammengetragene Wissenschaft davonstiebte wie Nebel vor der Sonne. Im übrigen sahen die Menschen auf den Straßen genau so aus wie daheim. Und die fragwürdigen Männergestalten, die man hier und da herumlungern sah: wenn sie die Typen der großstädtischen Kriminalromane waren, so unterschieden sich diese durch nichts von unserem Danziger Lumpengesindel! Sie fielen mir gar nicht auf, und wie hätte mein Auge nach den Verbrecherkellern suchen mögen, nachdem es sich in den Schönheiten der antiken Welt im Museum gebadet, nachdem es die abgegrabenen Schätze vergangener Völker geschaut? Ich verlebte die Ferien wie ein glücklicher Schüler, seelenvergnügt, abends mit Toby unter Großmamas Flügeln zu sitzen und alte Geschichten aus der Kindheit der Eltern zu hören.

Aber als ich am Abend vor der Abreise alles übersinnend im Bette lag, da kam auf einmal die Frage über mich: „Hast du den Berliner Aufenthalt auch recht ausgenutzt? Ist es einigermaßen so gekommen, wie du erwartet hast?“

Und trotzdem alles tausendmal schöner gekommen war, als ich erwartet hatte, regte sich die Unzufriedenheit und fing an zu nörgeln. Wie war erstens die Reise, die Ankunft so ganz, ganz anders gewesen, die Aufsichtsdame und der Gendarm hatten mich nach ihrem Willen gegängelt, während ich die Selbständigkeit hatte genießen wollen. Und in Berlin selbst, räsonnierte ich weiter, hast du irgend was erlebt, was für deine Person an sich wichtig war? Nein! Bist du einmal allein ausgegangen, so wie du es dir hundertmal ausgemalt? Nein! Hast du irgend etwas deinen Kameraden zu erzählen? Nein, denn von Schlössern und Museen und Zoologischen Gärten etc. erzählt man seinen Mitschülern heutzutage ebensowenig wie davon, daß man in Berlin zu Mittag gegessen hat! Es war doch schade, daß du es nicht ausgeführt hast, was du dir vorgenommen. Du hättest irgend etwas erleben können, was doch nach einem Abenteuer schmeckte! Und nun tauchten all die leeren Renommistereien meiner Klassengefährten auf, denen ich nie etwas hatte entgegensetzen können und denen ich nun abermals nichts zu bieten hatte, trotzdem ich mir gerade diesen Erfolg von meiner Reise hatte versprechen dürfen. Doch nun war es zu spät – zu spät! Ich war wieder, wie immer, ein artiger kleiner Junge gewesen, und das beklagte ich jetzt beinahe so sehr, wie diejenigen es später zeitlebens beklagen, denen es beizeiten geglückt ist, die Nachtseiten der Großstadt gründlich kennenzulernen. Nichts weiter als ein artiger kleiner Junge, der mit dem Onkel herumläuft, sich dankbarlichst von ihm eine Tasse Chokolade bei Kranzler bestellen läßt und abends mit kleinen Kindern um Pfeffernüsse spielt!

Doch halt – vor mir lag ja noch die lange Rückreise, konnte sich da nicht noch etwas ereignen? Die großstädtischen Verwandten dachten nicht im geringsten daran, uns einen Schutz aufzuhalsen. Mit diesem tröstenden Gedanken schlief ich ein. Doch als wir nach schmerzlichem Abschied von Großmutter in der nüchternen Morgenfrühe abfuhren, da waren zunächst alle Gedanken an Abenteuer verflogen.

Einige Stationen lagen schon hinter uns, da stürzte im letzten Augenblick eine junge Dame in unser Coupé, atemlos, mit tanzenden Löckchen. Ich half ihr beim Verstauen ihres Gepäckes, ich sah sie an, und ich fragte mich: „Sollte dies dein Abenteuer sein?“

Sie war reizend; nicht größer als ich, leicht wie ein Vogel, mit rosigen Wangen, roten Lippen, Perlenzähnen, und der keck aufsitzende Hut, der auffallend große spanische Kragen an dem grünen Tuchkostüm, paßte das nicht alles zu einem Abenteuer? Und zu dieser, nur im Interesse der Renommage den andern Jungen gegenüber, gestellten Frage kam mit der Zeit ein reines Wohlgefallen an ihr selbst, als sie sich mit ihrer angenehmen Stimme in eine Unterhaltung mit mir einließ. Es interessierte sie sehr, daß wir das gleiche Ziel hatten. Dann brachte sie das Gespräch auf die Danziger Schulen, ein Gespräch, das ich gern vermieden hätte, denn es wäre mir lieb gewesen, wenn sie mich für einen Erwachsenen gehalten hätte. Sie hatte es aber gleich weg, daß ich noch ein Junge war und auch in welches Gymnasium ich ging, in welcher Klasse ich saß. Und dann brachte sie mich in das richtige Fahrwasser: ich zog über unsre Lehrer her; ich schilderte ihr das Gymnasium mit Mann und Maus. Am längsten verweilten wir bei meinem künftigen Klassenlehrer, bei dem auch ich schon in ein paar Fächern Stunden gehabt hatte. Den mußte ich ihr besonders interessant geschildert haben, denn sie kam immer wieder auf ihn zurück, und ich häufte auf ihn all die schiefen Urteile, welche die Spottlust der flüggen Jugend sich bildet, und erzählte ihr von seinem Spitznamen, von all dem Ulk, den wir mit ihm anstellten, und all die überreizten, aus der Langweile geborenen, pointenlosen Schulanekdoten, die gerade diesen Lehrer wie eine Gloriole umgaben.

[706] Und dabei sah sie mich an mit ihren glänzenden braunen Augen, mit ihrem lachenden Munde, so amüsiert, so gut unterhalten, daß ich mir wirklich etwas auf meine geistreiche Plauderei einzubilden begann und immer kühner ins Zeug ging. Ich machte aus dem Lehrer schließlich einen wahren Popanz, nur um immer wieder dieses Lachen um Augen und Mund hervorzuzaubern, was kein anderer Gesprächsgegenstand vermochte. Wohl traf mich bisweilen warnend ein staunender Blick aus Tobys runden ehrlichen Augen; in mir aber jubelte es: „Dies ist das Abenteuer, dies ist das Abenteuer!“

Wir saßen zusammen im Stettiner Wartesaal und aßen zu Mittag, d. h. Toby und ich ein Paar warme Würstchen; ich half ihr beim Ein- und Aussteigen; ich holte ihr eine Tasse Kaffee, ja ich wagte es, ihr eine Tafel Chokolade zu überreichen, die ich mit meinem letzten Zehnpfennigstück einem Automaten entlockt hatte. Ich trug ihr Handgepäck beim Umsteigen, ich legte ihr das Plaid um die Schultern, und als ich den Dr. X. vollständig parzelliert hatte, tauschten wir Gedanken über Litteratur und Kunst aus, und da ich gerade, dank diesem Dr. X., darin wirklich ein paar Gedanken entwickeln konnte, so nahm die Unterhaltung einen immer höheren Schwung.

Die Stationen glitten an mir vorüber wie Perlen an einer Schnur; die Stunden flohen dahin wie Minuten; mir bangte, mir graute vor dem Ende der Reise, vor dem Erwachen aus diesem Glücks- und Eitelkeitsrausch.

Und als wir uns Danzig näherten, da reichte mein Ideal mir die Hand und sagte: „Hoffentlich begegnen wir uns wieder einmal. Sie haben mich wirklich sehr gut unterhalten.“ Und ich neigte mich über ihren Handschuh und – Tobys Augen wurden immer runder, denn das Handküssen gehörte nicht zu den Gepflogenheiten in unserm Kreise – preßte einen glühenden Kuß darauf! Dann sah ich ihr tief in die schimmernden braunen Augen, durchbebt von dem Gefühl der ersten Jugendliebe. Da hielt der Zug; die Thür wurde aufgerissen und des von mir so viel geschmähten Oberlehrers bärtiges Gesicht erschien im Rahmen derselben – meine Jugendliebe warf sich ihm in seine Arme – sie war seine Braut.

Was ich nach diesem Abenteuer für eine Nacht verbrachte, mit was für Gefühlen ich am folgenden Morgen dem Dr. X. unter die Augen trat, das fragt den Toby! Wenn ich den kleinen dummen Bruder in der Nacht nicht bei mir gehabt hätte, ich hätte weglaufen oder mir das Leben nehmen können.

Wir gingen all den Unsinn durch, den ich gesprochen, Toby hatte ja voll Staunen jedem Worte gelauscht. „I wo wird sie ihm alles wiedererzählen!“ tröstete er; „sie wird ihm nur das erzählen, was ihm Spaß machen könnte. Dazu war sie zu nett zu dir, das thut sie dir nicht an!“ Und als wir bis zum Morgen in Aufregung hin und her geredet, da wendete er sich schlaftrunken nach der Wand mit dem Wort, das mir Fassung und Mut wiedergab: „Ueberdies weiß sie ja gar nicht, wie wir heißen, und er kann uns gar nicht erkannt haben in dem Augenblick.“

Aber noch monatelang quälte mich in seinen Stunden der Zweifel: weiß er es, oder weiß er es nicht! Ich habe mich seitdem nie mehr nach Abenteuern gesehnt. Ich eignete mich nicht dazu. Und zum Renommieren hatte ich auch kein Talent.