Als der Schwarze Tod in Budißin war
Das waren schlimme Zeiten für Deutschland um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Kaiser und Papst lagen in Hader und Streit; Adel und Bürgertum befehdeten sich; die Bauern lebten rechtlos voll Plage und Arbeit, die Juden wucherten und betrogen. Ueberschwemmungen brachten Teuerung und Hungersnot; und zu allem Uebel kam die Pest, der gefürchtete Schwarze Tod in’s Land. Die Menschen, zum Teil durch ausschweifendes Leben zerrüttet, ergriff ein furchtbarer Schrecken, und in ihrer Angst verfielen manche auf übertriebene Buße. Es bildete sich der Bund der Geißler, die durch ihr fanatisches Wesen das geängstete Volk nur noch mehr verwirrten und an manchen Orten zu Judenverfolgungen aufreizten. So geschah es auch im Mai des Jahres 1349 in der Stadt Budißin.
Von allen Türmen läuteten die Glocken und begrüßten einen Zug von Geißlern, der sich durch das Lauentor hereinbewegte. Prächtige Banner und Fahnen wehten voran, und die Männer folgten singend. Bleich war ihr Angesicht, von wirrem Haar umflattert, die Augen blickten in fieberhaftem Glanze aus den dunkeln Höhlen. Jeder trug in der Hand eine Geißel, die mit Bleistücken und Nägeln besetzt war. In der Petrikirche stellten sie unter ernsten Gesängen ihre Fahnen an den Altar und zogen darauf nach dem Markte vor das Rathaus. Hier entkleideten sie den Oberkörper, legten lange weiße Gewänder an und fielen auf die Erde. Zuerst erhob sich der Meister, berührte seinen Nachbar mit der Geißel und sprach: „Steh’ auf um des Herrn Marter Ehr’ und hüte Dich vor Sünden mehr!“ Der Angeredete erhob sich und folgte seinem Meister, der den anderen in derselben Weise aufzustehen befahl. Als nun alle in weitem Kreise standen, schlugen sich je zwei und zwei mit der Geißel, daß das Blut auf die Steine des Marktes tropfte. Dazu sangen sie eine düstere Weise, in der sie sich und dem Volke das Sündenleben vorwarfen, Meineid und alle Laster rügten, die Juden wegen Geiz und Wucher anklagten und jedem Sünder mit Tod und Höllenpein drohten. In atemloser Spannung sah das zusammengeströmte Volk dem ergreifenden Schauspiele zu, und tief erschüttert lauschten sie dem letzten Vers:
„Nun hebet alle auf die Hände,
Daß Gott das große Sterben wende;
Nun hebet alle auf die Arme,
Daß Gott sich über uns erbarme!
Jesus, um willen deiner Namen drei,
O mach’ uns, Herr, von Sünden frei,
Jesus, durch deine Wunden rot,
Behüte uns vor jähem Tod!“
Das Volk sank ebenfalls auf die Kniee und wiederholte schaudernd: „Jesus, durch deine Wunden rot, behüte uns vor jähem Tod!“ – Eine grenzenlose Furcht war über die armen Menschen gekommen, die Pest, die täglich mehr Opfer forderte, möchte auch sie treffen und hinabstürzen in die Qualen der Hölle.
Die Geißler kleideten sich wieder an, und einige mischten sich unter die Menge, um Geld zu Kerzen einzusammeln.
[510] „Ich kann Euch nichts geben,“ sagte bitter ein junger Mann, Veit Winkler, der Krämer. „Mein Geld hat der Jude Daniel.“ –
„Bist Du auch so ein Opfer der Juden, armer Mann?“ fragte der Flagellant teilnehmend, und in seinen Augen leuchtete es tückisch auf.
„Ja freilich!“ seufzte Veit. „Die schweren Zeiten haben mich in Schulden gebracht, da wandte ich mich an Daniel, den Wucherer. – Nun bin ich ein Bettler.“
„O, was haben diese Juden auf dem Gewissen!“ sagte der Geißler in lautem Flüstertone. Die Nahestehenden drängten sich herzu. „Man sagt, sie haben Eure Brunnen vergiftet und den Schwarzen Tod hergezaubert.“
„Und das ist wahr!“ riefen einige dazwischen. „Hat doch der Flurwächter um Mitternacht den Juden Daniel am Brotschenberg gesehen. Mit erhobenen Händen hat er seltsame Worte gemurmelt, darauf ist ein blauer Nebel über die Stadt geflogen, und tags darauf ist der erste an der Pest gestorben.“ –
„Irret Ihr Euch da nicht, liebe Freunde?“ sprach der Geißler sanft, „sterben doch die Juden an der Pest wie Ihr.“
„Nein!“ schrieen andre aus dem Volke. „Sie sind gefeit, sie trifft keine Not!“
„Das liegt an Euch,“ entgegnete der fromme Mann, und seine Stimme tönte immer lauter. „Ihr seid duldsam und gut. Da haben sie’s in Trier anders gemacht. Da floß Judenblut in Strömen, verbrannt wurden sie, das Geld wurde ihnen genommen. Nein, Juden sollen nicht bei frommen Christen wohnen. Spott treiben sie mit der heiligen Hostie und höhnen das Kreuz. Darum nieder mit den Juden!“
[513] „Nieder mit den Juden!“ schrie das Volk. Ein ungeheurer Tumult entstand, der den frommen Gesang der Geißler übertönte. –
Dem ganzen Vorgange hatte ein jüdisches Mädchen, Mirjam, die Enkelin des verhaßten reichen Juden Daniel, mit beigewohnt. Sie war ein sanftes, gutherziges Wesen und kränkte sich tief über ihres Großvaters Geiz und Habgier. Da sie verwaist war, hatte er sie in sein Haus genommen, er kümmerte sich aber wenig um sie und überließ sie ganz der Obhut ihrer Wärterin Margarete. Diese war eine Christin, und sie streute in Mirjams Seele manches edle Samenkorn, das in dem empfänglichen Gemüte des stillen Mädchens kräftig keimte und wuchs.
Als der Lärm auf dem Hauptmarkte ausbrach, schlich Mirjam ängstlich fort und eilte nach der Juden Gasse, die man jetzt Heinrichs Gasse nennt, nach dem Hause ihres Großvaters.
Daniel saß eben am Tische und zählte Geld. Mirjam wußte, es war das letzte von Veit Winkler, das er am Morgen gebracht hatte. Der alte Jude war schon gebückt von der Last der Jahre, sein Haar und Bart glänzten silberweiß, und seine Hände zitterten; aber die dunklen Augen mit dem bösen Blick hatten nichts von dem Feuer der Jugend verloren.
„Großvater,“ rief Mirjam atemlos, „die Verfolgung ist ausgebrochen!“
Ueber des Greises Gesicht flog ein böses Lächeln, und ruhig sagte er: „Ich bin bereit. Du gehst sogleich zu Abraham, meinem Freund, er nimmt Dich mit seiner Familie mit nach Breslau.“
„Und Du?“ fragte Mirjam traurig.
„Ich? Nun, ich will Dir’s sagen, bist ja groß genug! Höre! Am Abhange des Brotschenbergs, unterhalb der Schanze, der Ortenburg gegenüber, liegt eine Höhle im Felsen. Zwei Männer können sich gut darin bewegen. Dorthin habe ich neulich all mein Geld gebracht. Dorthin gehe ich und hüte die Reichtümer.“
„Großvater,“ bat Mirjam, „flieh’ mit uns, oder laß mich bei Dir bleiben!“ –
„Du gehst, und ich bleibe bei meinem Gelde!“ befahl er barsch.
„Laß es liegen,“ rief Mirjam mit leuchtenden Augen, „wenn Dir’s genommen wird, umso besser für Dich, es ist unrecht Gut; Armut und Not, Tränen und Seufzer hängen daran.“
Der alte Jude sah sie sprachlos an, aber sie hielt ruhig den zornigen Blick aus. Da ging er dröhnenden Schrittes hinaus und kehrte bald mit einem Kästchen zurück.
„Da nimm das, Du närrisches Ding,“ sagte er höhnisch. „Es ist von Deiner Mutter, die war gerade so einfältig wie Du. Es ist alles redlich erworben, ersponnen, erwebt und was weiß ich. Darum ist es auch herzlich wenig.“ –
Die Judenverfolgung hatte sich verzogen. Da die Juden alle entflohen waren, begnügte sich die wütende Menge, ihre Häuser zu beschädigen und mit großem Geschrei durch die Stadt zu ziehen. Mirjam hatte sich nicht den Flüchtlingen angeschlossen. In einem versteckten Bodenkämmerchen hatte sie mit Margarete den Schreckenstag verlebt und wollte am Abend des nächsten Tages nach Göda, zu Freunden ihrer Pflegerin wandern. Im Schutze der Dämmerung, von dunklen Tüchern verhüllt, schritten die beiden Frauen über die Spreebrücke. Da kam ihnen von der anderen Seite ein Haufe bewaffneter Männer entgegen. Sie wollten still vorübergehen, aber Veit Winkler erkannte sie doch und stellte sich vor Mirjam.
[514] „Hoho!“ rief er und riß ihr das Tuch vom Kopfe und den Mantel von den Schultern. „Die anderen sind uns entwischt, aber wir kommen nicht leer heim. Hier Freunde, fangt die schwarze Taube!“ Er drängte Margarete, die ihre Herrin schützen wollte, zurück und faßte rauh Mirjams Hände. Zitternd stand das schöne Mädchen unter der wilden Horde, und seine schönen, traurigen Augen sahen hilfesuchend auf den zornigen Mann:
„Veit Winkler,“ sagte Mirjam, „was habe ich Euch getan? Warum wollt Ihr mich töten?“
Betroffen ließ Veit ihre Hände los. Nein, er konnte es nicht verantworten, dieses Mädchen, dem die Unschuld aus den reinen Zügen sah, zu quälen.
„Laß Dich taufen, Mädchen!“ sagte er leise.
„Nimmermehr!“ rief Mirjam erregt. „Ich will nicht in der Gefahr von meinem Volke abfallen. Ihr predigt Nächstenliebe, Geduld, Sanftmut und hundert schöne Tugenden, und befolgt nicht eine. Befolgt Ihr so die Lehren Eures Meisters?“
„Sie lästert!“ schrieen die Männer, und einer hob einen Stein auf und warf nach Mirjam. Ein Schrei entfloh ihren erblassenden Lippen, und ein Blutstrom rann von ihrer Stirn, während sie bewußtlos zusammenbrach. Veit Winkler stand beschämt da und rührte sich nicht. Da öffnete sich die Türe des Hospitales zum Heiligen Geiste, wo man die Pestkranken verpflegte, und ein alter, schlichter Mann trat heraus. Man nannte ihn „Vater Heinrich,“ den Pestmann. Schweigend winkte er Margarete, ihres Weges zu gehen, und ohne die verblüfften Männer anzusehen, hob er sanft das verwundete Mädchen auf und trug es in’s Pesthaus. –
Veit Winkler war der eifrigste Verfolger der Juden gewesen, denn er meinte, das meiste Recht dazu zu haben. Mit einigen jungen Leuten war er den Flüchtigen nachgeeilt, nachdem er zuvor in hochtönenden Worten gelobt hatte, alle zu töten oder gefangen zurückzubringen. Die Juden waren aber entkommen, und nun zogen die Verfolger etwas kleinlaut heim. Den Veit Winkler hatte die arme kleine Mirjam sonderbar gerührt und seinen Haß stark gemildert. Als er nun so zur Stadt hinaufging, fiel ihm plötzlich ein, daß er doch am meisten sein Unglück selbst verschuldet habe. Müßiggang und Vergnügen waren ihm wichtiger gewesen, als ernste Arbeit. So kam sein schöner Krämerladen nach und nach in Schulden. Da borgte Veit bei guten Freunden, und als die ihm nichts mehr geben mochten, fiel er dem Juden Daniel in die Hände, der lieh ihm gegen hohe Zinsen und wucherte mit seinem Gelde. Bei dem ganzen Judenhaß war ihm sein Schuldschein stets die Hauptsache. Wenn der nicht gewesen wäre, hätte er sich um das Volk Israel nicht gekümmert.
Als die Männer am Lauentor anlangten, empfing sie zu ihrem Aerger eine große Menschenmenge mit dem Henker an der Spitze, und als man weder einen toten Juden noch ein Blutfleckchen an den Waffen fand, erhob sich ein großes Gelächter. Der Narr in seiner Schellenkappe hüpfte zu Veit und kicherte:
„Die Juden sind in großer Not,
Veitchen macht sie alle tot!“
„Schweig!“ rief der Gehänselte zornig, wandte sich um und ging zu dem Meister der Geißler, der von ungefähr des Weges kam.
„Veit geht zu den Geißlern dann,
Veitchen wird ein frommer Mann!“
[517] schrie ihm der Narr nach. Der Krämer trug dem Flagellanten sein Anliegen vor, er wolle, um seine Sünde abzubüßen, sich der Geißlerfahrt anschließen.
„Recht so, mein Sohn,“ sagte der Geißler würdevoll und sah ihm forschend in das blasse Gesicht. „Kennst Du die Bedingungen? – Nicht? – Nun, so höre: Zu 34 Tagen mit je 3 Geißelungen mußt Du Dich verpflichten.“ –
„Tun’s 12 Tage nicht auch?“ fragte der junge Mann erschrocken.
„Nein, 34 müssen’s sein. Weiter: Mit keiner Frau darfst Du reden.“
„Ist mir recht,“ meinte Veit.
„Bringe für jeden Tag 4 Groschen Zehrgeld!“ Der Krämer fuhr zurück. „Nein, frommer Mann,“ sagte er, „soviel habe ich nicht. Ich wußte gar nicht, daß Bußetun so teuer ist.“ – Damit lief er eiligst davon. –
Als Mirjam nach einigen Stunden erwachte, lag sie auf einem weichen Lager in einem Kämmerchen. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Kruzifix, zu dessen Füßen ein Lämpchen ruhig brannte. Ihre Stirn war sauber verbunden, es hämmerte ihr in den Schläfen und rauschte in den Ohren. Durch die offene Tür sah sie einige Kranke liegen, und Vater Heinrich bemühte sich um jeden, dem einen legte er das Kissen glatt und dem andern reichte er einen Trunk Wasser. Als Vater Heinrich das Erwachen Mirjams bemerkte, kam er sogleich lautlos herüber und beugte sich mit unendlich gütigem Lächeln zu ihr nieder.
„Bin ich im Pesthaus?“ fragte Mirjam beklommen. „Ja,“ entgegnete Vater Heinrich ernst, „aber fürchte Dich nicht!“ Er wies auf das Kruzifix hin: „Er errettet Dich von dem Strick des Jägers, vor der schädlichen Pestilenz. Er wird dich mit seinen Fittichen decken. Ob tausend fallen zu Deiner Seite, so wird es doch Dich nicht treffen.“
Mirjam hörte ihm zu mit glänzenden Augen, es wurde ihr wunderbar friedlich um’s Herz. Das Lämpchen flackerte auf, und über das milde Antlitz des Gekreuzigten flog der Schein wie ein Lächeln, und Mirjam streckte die Hände nach ihm aus. Dann schlief sie mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
Mirjams Wunde heilte bald, aber sie blieb im Pesthaus und wurde Vater Heinrichs treue Gehilfin. Täglich kamen neue Kranke, und viele holte der Schwarze Tod in’s Grab. Wie ein guter Engel waltete Mirjam ihres Amtes, und mancher Kranke und Sterbende segnete das Judenmädchen. Ihre Kraft und Freudigkeit wuchsen mit der Anstrengung, ihre Augen brauchten immer weniger Schlaf. – Eines Tages klopfte es an die Türe des Pesthauses. Mirjam öffnete. Da standen Veit Winkler und ein anderer Mann draußen mit einem Kranken auf der Bahre. Veit glaubte, einen Geist zu sehen und stotterte verlegen einen Gruß. Das Mädchen wandte sich um und sagte:
„Seht, Vater Heinrich, unser Haus wird voll, wenn uns doch jedem noch zwei Hände wüchsen!“ – „Bringt den Mann herein!“ sprach sie freundlich zu den beiden Trägern. Aber der eine entsetzte sich und sagte: „Ist es nicht genug, daß ich den Halbtoten bis hierher gebracht habe? Der Schwarze Tod holt uns noch alle zeitig genug.“ Schaudernd lief er fort. Veit Winkler aber ging mit hinein, und staunend sah er, wie Mirjam dem Kranken ein gutes Lager bereitete, wie sie seine Wunden wusch, die kalten Hände rieb und ihm warmen Tee einflößte. Dazwischen vergaß sie die anderen Kranken nicht, für jeden hatte sie einen freundlichen Blick und ein tröstendes Wort. Veit faßte sich ein Herz und sagte schüchtern zu Vater Heinrich: „Ich bitte Euch, versucht es mit mir, nehmt mich als Euren [518] Gehilfen an! Ich glaube, das ist besser als eine Geißelfahrt!“ Der Alte und Mirjam reichten ihm freudig die Hand und nahmen ihn freundlich auf. Die drei so verschiedenen Menschen fanden sich ineinander, trafen sie sich doch in dem Hauptpunkte, der Nächstenliebe. Veit vergaß Judenhaß und Schuldschein und wurde ein besserer Mensch. Sein heftiges Wesen legte er ab und lernte Geduld und Freundlichkeit. Mirjam sah mit stiller Freude die Verwandlung im Wesen ihres Todfeindes, der nun ihr Freund geworden war. Wenn sie auch nicht viele Worte machten, so wußten sie doch, wie lieb sie einander waren. –
Ein Geheimnis hatte Mirjam. Wenn die Nacht anbrach, war sie stets auf eine Weile verschwunden, und nach ihrer Rückkehr war sie gewöhnlich traurig und wortkarg. Niemand wußte, wohin sie ging. Veit Winkler konnte das Geheimnis nicht lange ertragen, und einmal schlich er Mirjam [519] nach. Da eilte diese durch die mondhelle Nacht am Ufer der Spree hin über Steine, durch Gestrüpp. Da, wo die Felsen steil zum Fluß abfallen, stieg sie ein wenig bergauf. Steinerne, unbehauene Stufen führten durch dichtes Gebüsch zu einer Höhle, in der ein mattes Licht brannte. Mirjam rief leise, da erschien der alte Jude Daniel am Eingange. Seine Glieder zitterten mehr als früher, und seine Gestalt war gebeugter geworden. Schweigend nahm er die Lebensmittel, die seine Enkelin ihm brachte. Fledermäuse und Eulen streiften lautlos am Felsen hin. In der Höhle tropfte eintönig das Wasser von der Wölbung. Mirjam sprach: „Die Nacht ist kühl, Großvater!“ und streichelte scheu seine erstarrten Hände. „Sieh’, es ist wieder Ruhe in der Stadt, komm’, ich führe dich in unser behagliches Haus! Ich rufe Margarete zurück, da sollst Du wieder leben wie einst und nicht einem Toten im Grabe gleich sein.“
„Ich bleibe hier!“ entgegnete der Greis mit einem Lächeln, vor dem das Mädchen erbebte. „Ich werde bald ganz tot sein, da versperre ich die Höhle mit Steinen, daß ich ruhig schlafen kann bei meinem lieben Gold. Wohl hast du’s verschmäht, aber nimm, soviel Du vermagst.“ Als Mirjam sich nicht rührte, schwoll die Zornesader auf seiner Stirn, und seine Augen funkelten. Da ergriff Mirjam ein Kästchen, das sie wohl kannte. Viele Schuldscheine lagen darin, auch der von Veit war dabei. Sie nahm einen nach dem andern heraus und riß ihn entzwei. Dann küßte sie des Großvaters Hand und dankte für sein Geschenk. „Närrin!“ murmelte er. Mirjam ging traurig von dannen, und Veit folgte ihr von ferne. Als sie am nächsten Abend zur Höhle kam, saß ihr Großvater in einem kostbaren Mantel auf einem Stein im Hintergrunde der Höhle. Nachttau lag auf dem weißen Haupte, das tief auf die Brust gesunken war. Die Lider bedeckten die gebrochenen Augen. Gold lag in seinem Schoß. Seine Hände hatten es krampfhaft gefaßt. Er war tot. Mirjam sank an seiner Seite nieder, sie schmiegte ihre Wangen an seine Schulter, und ihre Tränen flossen auf die Goldstickerei des Mantels. Nun war der letzte ihres Namens fortgegangen und hatte sie allein gelassen. Und doch fühlte sie sich nicht verlassen, ein neues, reiches Leben war ihr aufgeblüht mitten in Tod und Elend und hatte ihr den Frieden ihres Herzens gebracht.
Sie mochte wohl lange so geweint haben. Drüben über der Spree krähte ein Hahn, und ein kühler Wind vom dämmerigen Osten löschte das Lämpchen aus, das schwankend an eiserner Kette von der Decke herabhing. Sie erhob sich rasch, um zu gehen. Da stand Veit Winkler vor ihr. „Ich hatte Angst um Dich!“ sagte er ruhig, „so lange warst Du noch nie aus.“ Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn zu dem Toten und teilte dessen Wünsche dem Freunde mit. Veit wälzte mit starker Hand Steine vor die Türe der Höhle, und Mirjam verdeckte sie mit Buschwerk. So begruben sie ihn, wie einst die Väter im Morgenlande, in der Tiefe des Felsens, verborgen vor der Welt. Auf dem Wartturm der Ortenburg stieß eben der Wächter ins Horn und begrüßte so den neuen Tag. Als dann die Sonne in hehrer Pracht aus dem Purpurgewölk aufstieg, fielen ihre ersten Strahlen auf zwei glückliche Menschenkinder, die Hand in Hand am hohen Ufer der Spree entlang gingen. Es hingen wohl Tränen in den langen Wimpern des Mädchens, aber aus den schönen Augen leuchtete Glück und Freude. –
Endlich im Herbst kam der Tag, wo der letzte Kranke genesen das Pesthaus verlassen konnte. Vater Heinrich schnürte sein Bündel, um zu anderen Elenden zu gehen, wie er’s gewohnt war. Veit Winkler hatte seinen Krämerladen wieder schön vorgerichtet und die Wohnung geschmückt. Es [520] sollte ja Mirjam als seine junge Frau bald einziehen. Am Sonntag wurde sie in der Petrikirche getauft. Vater Heinrich war ihr Pate. Dann wurde eine kleine, fröhliche Hochzeit gefeiert. Tags darauf kamen wieder Geißler in die Stadt. Sie wurden aber wenig beachtet. Wo der Schwarze Tod nicht mehr drohte, hatten die Leute keine Lust mehr zu so gründlicher Buße. Vater Heinrich, der vorüberging, schüttelte den Kopf und lächelte still. Er faßte seinen Stab fester und wanderte rüstig in den sinkenden Abend hinein. – – – –
Jahrhunderte sind vergangen. Das Hospital zum Heiligen Geist steht noch an der Spree, wenn auch in anderer Gestalt. Der alte Jude und sein Schatz sind noch nicht vergessen. In verschiedener, wunderlicher Form treten die beiden auf, denn die Sage spann und spann, bis in dem Brotschenberg ein schönes Mäntelchen von allerlei Märlein sie gesponnen hat. Die Sage umschwebt seit Jahrhunderten diesen Berg und weiß viel zu erzählen von Schätzen, welche in seinem Inneren ruhen.
[515]
Friedrich Bernhard Störzner: Als der Schwarze Tod in Budißin war, in: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 509–520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Als_der_Schwarze_Tod_in_Budi%C3%9Fin_war&oldid=- (Version vom 19.9.2016)