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Alexandrine Tinne

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Textdaten
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Autor: Wilhelm Gentz
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Titel: Alexandrine Tinne
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 601–602
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch Das Bild der Gemordeten in Heft 44
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Alexandrine Tinne.

„Eine schöne blendend weiße Tochter des Sultans der Sultane, der Großherrlichkeit von Stambul, durchzog jüngsthin Jahre lang, mit vollen Händen spendend und dadurch überall die Herzen gewinnend, die unwirthlichen fernen Gegenden seines weiten Herrschergebietes in Afrika.“ – So glaubten wenigstens in ihrer Naivetät die wilden Naturvölker im Innern des großen Wunderlandes, das jetzt allmählich unserer Kenntniß erschlossen wird. Wie konnten sie wohl fassen, was in Europa selbst befremdlich erscheint, daß eine junge schöne Dame von zartem Körperbau bei einer reichen Ausstattung mit allen Glücksgütern dieser Welt, getrieben von einem in ihrem Geschlecht so seltenen Wissensdrang, beitragen wollte, das uralte Problem von der Entstehung des Nilstromes, dem schon so viele kühne Männer zum Opfer gefallen sind, seiner Lösung zuzuführen? Der Telegraph meldete kürzlich die Trauerkunde, daß Alexandrine Tinne, die fabelhafte Prinzessin und Tochter des Nachkommen der Khalifen, von den Tuaregs ermordet sei, jener wildesten und berüchtigtsten Bevölkerung der pfadlosen Sahara, die, um immer unkenntlich zu sein, gleich den ägyptischen Frauen ihr räuberisches Antlitz stets gänzlich verhüllt tragen.

Fräulein Tinne war auf dem Wege von Murzuk nach Ghat begriffen, als eines Morgens die Kameeltreiber beim Aufladen unter sich zu streiten begannen, worauf Fräulein Tinne’s beide holländische Diener aus dem Zelte gingen sie zu trennen, leider ohne Waffen. In diesem Augenblick stand Fräulein Tinne in der Thür des Zeltes mit dem Chef der Tuaregs, denen sie früher schon merkwürdiger Weise Vertrauen genug geschenkt hatte, um sie zur Besichtigung ihres Lagers einzuladen. Sie trat dann vor, um nach der Ursache des Streits zu fragen, wurde aber im selben Augenblick von hinten mit dem Schwerte niedergeschlagen. Auf ihr Schreien kamen die beiden christlichen Diener hergelaufen, um zu den Waffen zu greifen, wurden aber auf der Stelle getödtet. Die Tuaregs stürzten nun auf die eisernen Wasserkisten, glaubend, daß diese die Schätze enthielten, und dies muß als Grund der Ermordung angesehen werden. Fräulein Tinne’s tragischer Tod ist ein großer Verlust für die wissenschaftliche Durchforschung Afrika’s. Die größere Expedition, die sie zum Sultan von Bornu im Herbst zu unternehmen gedachte, bis wohin sie in der Nähe von Ghat unter Zelten leben und ihre geschwächte Gesundheit stärken wollte, würde uns unzweifelhaft viel des Interessanten gebracht haben, dessen wir jetzt durch die Goldgier und schreckliche Grausamkeit jenes afrikanischen Räubervolkes für immer beraubt sind. Mit der schönen Alexandrine ist einer unserer kühnsten afrikanischen Pioniere begraben.

Die Mutter des Fräuleins Tinne war eine Hofdame der Königin von Holland und stammte von der ihrer Kunstliebe wegen bekannten freiherrlichen Familie von Steengracht-Kapellen ab; der Vater, ein Engländer, war Kaufmann; ihn verlor die Tochter schon in ihrem fünften Lebensjahre. Als Erbin eines Millionärs ward es der jungen, auch durch Schönheit und lebhaften Geist brillirenden Dame leicht, einer Leidenschaft sich ganz hinzugeben, welche sie ihr ganzes Leben hindurch gefesselt hat, – der, die Welt kennen zu lernen und sie nach allen Seiten zu durchstreifen. Die geistvolle Königin von Holland liebte die junge Dame und öffnete ihr den Zugang zu verschiedenen Höfen Europa’s. Als schöne gewandte Amazone, welche mit außerordentlicher Sicherheit und Geschicklichkeit die wildesten Pferde tummelte, zog sie eben so wie durch die Anmuth ihrer Erscheinung und den Ruf ihres Reichthums die Aufmerksamkeit vieler Cavaliere auf sich, die aber vergeblich um Herz und Hand der Schönen warben; zwei Barone sollen ihr selbst bis Khartum gefolgt sein. Die Liebe der Dame schien ausschließlich der wild-grandiosen Natur zugewendet zu sein; ihre schroff ausgeprägte Eigenart erschien der großen Masse unbegreiflich, und es war daher natürlich, daß die wunderlichsten Gerüchte über ihre Abneigung gegen die Rosenketten der Ehe im Umlauf waren. Man wollte sogar wissen, daß die Liebe zu einem Prinzen sie in die Wildniß getrieben habe. Aber von allen Behauptungen ist mir diese besonders unwahrscheinlich, da Fräulein Tinne in der Unterhaltung stets eine äußerst freisinnige sociale und politische Anschauung bekundete.

Ihre erste größere Reise galt dem Nordcap, wo sie mit dem norwegischen Maler Saal, der durch seine nordischen, in der Dämmerung heller Nächte ruhenden Landschaften einen Namen erworben, bekannt wurde. Von diesem wurde mir manche interessante Anekdote über das Reiseleben in den hohen nördlichen Regionen mitgeteilt.

Schon im achtzehnten Lebensjahre machte die Dame eine Tour durch Kleinasien, Syrien und Aegypten, und seit jener Zeit hat sie die Liebe zu dem Wüstenleben und das Interesse an allen Entdeckungen des uns immer noch so unbekannten und räthselhaften Afrika nicht aufgegeben. Sie hatte in ihrer Vorliebe für den Orient die ägyptische Tracht adoptirt, welche der hohen blonden Gestalt sehr wohl stand; sie duldete nur afrikanische Diener und Dienerinnen, was ihr die Kenntniß der Sprache ermöglichte. Sogar einen Eunuchen engagirte sie zu ihrem Schutze oder vielmehr – weil es bei vornehmen türkischen Damen der Anstand erheischt, von einem Haremswächter geführt zu sein, wie bei uns Damen nicht allein, ohne von einem Diener begleitet zu sein, auszugehen pflegen.

Als ich eines Tages aus der Schubrahallee, wo die Equipagen des Harems des Khedive und der Paschas vorüberrollten, lustwandelte, begrüßte mich durch freundliche Hand- und Kopfbewegung eine verschleierte, in schillernde Seide gehüllte Frauengestalt. Das Erstaunen meines Begleiters, der durch langjährigen Aufenthalt die strengen Sitten der orientalischen Frauen kannte, war größer, als das meinige; ich dachte zuerst an eine scherzhafte Mystification, bis ich an den begleitenden Sclaven erkannte, daß der Gruß von Fräulein Tinne ausging. Ich war mit derselben nach ihrer Rückkehr von der großen Expedition in’s Gazellenstromgebiet durch Herrn Th. v. Heuglin bekannt geworden; zugleich hatte ich den englischen Consul für Central-Afrika Herrn Peterick kennen gelernt, welcher auch in Begleitung seiner Frau (gleich dem Nilquellenforscher Samuel Baker) in jenen Regionen des Gazellenstromes im Auftrage der englischen Regierung der Entdeckungsexpedition von Speke und Grant entgegengereist war. Nach jahrelangen Mühsalen waren sie jetzt wieder in eine civilisirte Gegend gekommen, und ich war der erste Europäer, der sie wegen ihrer Ueberwindung so furchtbarer Schwierigkeiten beglückwünschen konnte.

Fräulein Tinne war damals in ihrer Stimmung sehr herabgedrückt; sie hatte auf der Reise in Folge des mörderischen Klima’s ihre Tante und ihre Mutter, die ihr gefolgt waren, und von denen sie abgöttisch geliebt war, verloren. Außerdem war ihr Leibarzt, der Botaniker Dr. Steudner, welcher mit Heuglin zugleich von ihr zur Expedition engagirt war, ebenso wir ihre europäischen Kammerjungfern klimatischen Epidemien erlegen. Gleichwohl sprach mir die Dame wiederholt die Absicht aus, nie wieder nach Europa zurückzukehren, und wiederholentlich bekräftigte sie ihre Absicht, obgleich auf die Kunde von ihrer Ankunft in Aegypten ihr Stiefbruder aus England herbeigeeilt war, sie dem Schauplatz so mörderischer Unternehmungen zu entführen. Sie blieb allen Verlockungen gegenüber standhaft und verfolgte vielmehr den Plan, sich bei Kairo oder auf der Nilinsel Rhoda, wo sich die von einer südlichen Vegetation strotzenden Gärten Ibrahim Pascha’s befinden, ein Schloß zu bauen. Zu diesem Zweck ließ sie von dem Baumeister des Vicekönigs Herrn Franz-Bey (aus Wiesbaden), dem Erbauer des königlichen Schlosses von Ghesirah, Pläne entwerfen; auch mit dem berühmten Architekten in maurischem Styl, Herrn von Diebitsch, meinem langjährigen Freunde, der leider vor Kurzem seinem großen Wirkungskreis als ein Opfer der Blattern-Epidemie entrissen wurde, verhandelte sie über architektonische Entwürfe.

Bei ihren Bauplänen huldigte Fräulein Tinne einer sehr excentrischen Geistesrichtung, nichts war ihr phantastisch, nichts labyrinthvoll genug. Die arabische Architectur mit ihren sich verschlingenden Arabesken, mit der Unregelmäßigkeit in der Höhe der aneinanderstoßenden Räume, mit ihren Erkern und Säulenstellungen, war dieser Neigung äußerst günstig. Der Vicekönig von Aegypten, dem die Ansässigkeit der holländischen Dame unbequem war, verhinderte indeß mit Hülfe der Verwandten ihre architektonischen Entwürfe. Fräulein Tinne führte beim Khedive gegen den Pascha von Khartum einen Proceß wegen einer ihr von diesem widerfahrenen Unbill. Der Vicekönig wollte aber die verlangte Absetzung des Pascha nicht gewähren, obgleich das Unrecht desselben offenbar war. Hierin lag das Interesse, die dauernde Niederlassung des [602] Fräuleins Tinne in Aegypten zum Scheitern zu bringen. Da fast zwei Drittel des Landes Privateigenthum des Vicekönigs sind, während fast ein drittel Moscheenbesitz ist, so gelang es ohne Schwierigkeit, auf die Eigenthümer eine Pression auszuüben, von denen das zum Bau nöthige Terrain erworben werden sollte. So verließ denn Fräulein Tinne das Nilland, um auf eigenem Dampfschiff die afrikanischen Küsten des Mittelmeeres zu befahren. Auf einige Zeit kam sie auch nach Civita Vecchia, von wo sie oft Rom besuchte. Es war natürlich, daß ihr Erscheinen hier in der Umgebung der schwarzen Söhne Afrika’s ein großes Aufsehen erregen mußte. In der Absicht, von Tripolis nach Timbuktu zu gehen, wendete sie sich an den eben erst von seiner kühnen Wanderung durch die unermeßliche Sahara von Marokko nach Tripolis zurückgekehrten Gerhard Rohlfs, um ihn zu ihrer Begleitung einzuladen. Leider hatte dieser junge mannhafte Reisende von dem König von Preußen den Auftrag erhalten, die abyssinische Expedition der Engländer zu begleiten, dem folgend er die Tinne’sche Einladung ablehnen mußte.

Das labyrinthische Durcheinander großer orientalischer Städte ist einem Europäer, der letztere nicht gesehen, schwer vorzustellen. Ich selbst, der ich viele Städte des Orients kennen gelernt und Jahre lang in ihnen gelebt habe, vermochte nicht, die Wohnung des Fräuleins Tinne in Massr antika (der alten Stadt von Kairo) wiederzufinden, obgleich mich Herr von Heuglin zum ersten Mal dorthin geführt hatte. Die Intelligenz der Kairiner Eseljungen, welche als die Droschkenkutscher Kairo’s mit den Eseln als Droschken gelten können, half mir über die entstandene Schwierigkeit weg. Als ich nämlich in Massr antika herumsuchte und jeden Winkel durchstöberte, um irgend ein Kennzeichen der Tinne’schen Wohnung zu erspähen, sagte mir der Fellahknabe mit seinen großen Sphinxaugen: „Effendi, Ihr wollt gewiß zu Contessa hollandese?“ Unter diesem Namen hatte sich die freigebige Dame unter dem eseltreibenden Proletariat der Khalifenstadt einen Namen erworben. Bewogen durch ihr weiches Herz hatte sie einmal ein Paar geschundener Esel – die Aegypter sind die geborenen Thierquäler – zu sich genommen, verpflegen und curiren lassen. Das ward bald kund, und so geschah es, daß von allen Seiten kranke Esel und anderes räudiges Gethier zur Contessa in die Cur gebracht wurde, und ihr Hôtel in ein Eselhospital verwandelt wäre, hätte nicht die Noth dem Mitleide gegen die Thiere Schranken gesetzt.

Das Haus des Fräuleins Tinne glich von außen ganz einer zerfallenen Ruine. Durch die dunklen Gänge des unteren fensterlosen Stockwerks, welche unsere am Nil nicht gekannten Kellerräume vertreten, gelangte ich, durch den kleinen Aegypter geleitet, auf einen freien Vorhof, wo ich wieder aufathmen konnte; der dunkel azurblaue Himmel, die goldig von heißer Sonne beschienenen Kronenhäupter dreier großer Palmen verliehen den ruinenartigen Baulichkeiten das Pittoreske, welches Maler mit Recht so gerne aussuchen. Auf freistehenden steinernen Treppen, die auf zerfallene Hintergebäude führten, sonnten sich Affen; kleine Negersclaven, Knaben und Mädchen, lagen im warmen Sonnenschein auf der Erde, größere Sudaneserinnen steckten neugierig aus zerbrochenen Fensterscheiben ihre wolligen Köpfe mit den glänzenden Augen und Zähnen; langhaarige nubische Windhunde, die zur Falkenjagd auf Gazellen dressirt waren, sprangen mir entgegen; ein alter weißbärtiger Berberiner, wie sie gewöhnlich zu Thürwächtern ägyptischer Häuser bestellt werden, empfängt meine Karte, um mich dem Fräulein auzumelden. Bald zurückgekehrt führt mich derselbe in einen zweiten Hof, wo ich an großen offenen Zimmern vorbeipassirte, in denen die ungeordneten ethnographischen Sammlungen sich befanden, welche von fünfzig Kameelen aus dem Innern Afrika’s hierhergeführt waren. Seltsame Waffen, ausgestopfte Vögel, Geweihe aller Art von Antilopen und Rhinocerossen, Geräthschaften sudanesischer Völkerschaften liegen da aneinander gehäuft.

Fräulein Tinne kommt mir entgegen; sie trägt ein orientalisches Tuch um den Kopf gewunden und ein ägyptisches Gewand mit langen weiten Aermeln von changirender grauseidener Farbe über ein schwarzes Trauerkleid geworfen; ihre Füße stecken nach arabischer Sitte in maroquinledernen Stiefeln. Die große, schöne, bleiche, durch Gram und Krankheit angegriffene Gestalt mit prononcirten geistreichen Zügen, mit dem freien und feinen Benehmen mußte auf Jeden einen angenehmen Eindruck machen. Ihr Salon, in den ich geführt wurde, war ein altes Harem, dessen eine Wand lauter Fenster bildeten; von draußen aber war es nicht möglich, durch diese Fenster zu sehen, weil vor ihnen sich fein geschnitzte, gegitterte Erkerchen, welche Muscharabien heißen, befanden; dadurch war ein mattes Zwielicht in dem Raum verbreitet, welches einen recht mystischen Reiz gewährte. Den Fußboden bildete ein buntes Marmorparquet. Die Decke bestand aus Holzgetäfel welches mit türkischem Geschnörkel verziert war. Rings um die Wände liefen die gewöhnlichen Divans, deren Gestell aus Palmenstäben fabricirt war. In der Mitte standen einige originelle niedrige Sessel, dreibeinig, phantastisch geschnitzt, aus dem Lande der Njam-Njam. Von europäischem Geräth entdeckte ich nur einen bescheidenen Holztisch, auf dem eine große arabische Laterne stand, welche heutzutage selbst noch bei den Paschas in Gebrauch ist. Daneben lagen Bücher und Zeichnungen Heuglin’s ausgebreitet.

Für mich als Maler waren die Besuche bei Fräulein Tinne insofern von großem Interesse, als ich dort Gelegenheit fand, die vielen Sclaven jeglicher Art aus so schwer erreichbaren Gegenden zu zeichnen. Fräulein Tinne kam meinen desfallsigen Absichten mit größter Liebenswürdigkeit entgegen. Unter den Mädchen zeichnete sich besonders ein junges Geschöpf von etwa vierzehn Jahren aus, welches dem durch seine Schönheit berühmten Stamme der Gallas entsprossen war. Sie hätte für eine Königin Candaces als Modell dienen können. Die Kinder beeilten sich, mir Arme und Brust zu entblößen, um die Skorpionen, Schlangen und Krokodile, die in sehr primitiv-phantastischen heraldischen Formen darauf tättowirt waren, zu bewundern. Die achtzehn ethnographisch merkwürdigen schwarzen und braunen Menschenexemplare waren, so erzählte mir Fräulein Tinne, ihr freiwillig gefolgt, weil sie in ihren heimischen wilden Ländern durch die nie aufhörende Sclaverei fortwährender Grausamkeit ausgesetzt waren. Von einem Missionär, der dort im Innern Afrika’s die Tinne gesehen, ward mir erzählt, daß sie manchmal einen schwer verwundeten Sclaven auf ihr Reisethier genommen und selbst stundenlang zu Fuß im tiefsten Sumpfe gewatet hätte. Fräulein Tinne war sehr mittheilsam. Während ich zeichnete, saß sie nach arabischer Sitte auf der Erde zuschauend, und ward nicht müde, mir ihre Erlebnisse mitzutheilen. Die großen Sumpfstrecken der Nilqullengebiete hatten ihre Erinnerung an ihre holländische Heimath wachgerufen; die endlosen grünen Triften, auf denen ihr Kindesauge geruht, traten lebhaft wieder vor ihre Seele. Des Grünen wurde ihr selbst manchmal zu viel, so daß sie sehnsüchtig wiederum der gelben ausgedörrten Saharawüste gedachte.

Der mit einem Beigeschmack von Romantik vielgenannte Name von Alexandrine Tinne wird unter den kühnen Personen unvergessen sein, denen wir eine Erweiterung unserer geographischen Anschauungen schulden. Die Expedition des Fräulein Tinne in die Sumpfregionen des Ghasal (Gazellenstromes) war eine Bereicherung der geographischen Wissenschaft gewesen, zumal da der bekannte abyssinische Reisende Theodor von Heuglin von Fräulein Tinne für dieselbe in Khartum gewonnen wurde. Zwar war der Gazellenfluß bis zu seinem Quellsee, der Meschra el Reg, zuerst durch Lejean aufgenommenn und bekannt gemacht, indeß wurde durch die Heuglin-Tinne’sche Expedition die Position der Meschra zuerst astronomisch festgestellt. Trotz mannigfacher Hindernisse gelang es den Reisenden, zwei große Ströme, die sich durch eine meilenweite Sumpfregion in den Ghasal ergießen, den Djur und Kosanga, zu überschreiten und die Wasserscheide zwischen den westlichen oberen Nil und zwei sehr beträchtlichen, dem Benne oder Schari zueilenden Gewässern Makna und Sena genannt, zu bestimmen. Ebenso hat diese Expedition Kunde von einem weitern central-afrikanischen Binnensee erhalten, der vielleicht den Ryanza an Größe übertrifft und ungefähr unter dem dritten Grad nördlicher Breite gelegen ist.

Jetzt nun bleichen die Gebeine der kühnen Reisenden in den sonnenverbrannten Einöden, deren Reize ihre Phantasie so lebhaft fesselten, und dienen mit den anderen Ueberresten von Menschen und Thieren, die hier Durst und Hunger oder Mord überraschte, dazu, in den pfadlosen Bahnen der Sahara dem Wanderer die Straße zu zeigen.

Wilhelm Gentz.