Ahrenshoop, Januar 1944
Einführung
Der Artikel Ahrenshoop, Januar 1944 zeigt die von Stefan Isensee im Rahmen seines Werkes „Ahrenshoop vor und im Krieg“ zusammengestellten Tagebuchauszüge vom Januar 1944. Textauslassungen wurden mit [...] gekennzeichnet, eingefügte Erläuterungen von Stefan Isensee in eckigen Klammern kursiv [Erläuterung].
Tagebuchauszüge
[1] Das schicksalsschwerste Jahr Europas hat begonnen. Dieses Jahr muß die Wende bringen. Sie wird bitter für uns alle werden, aber besser so, als dieses Grauen ins Endlose fortsetzen.
Gestern Mittag kam ein Herr Korsch zu mir. Seine Frau wohnt hier in der neuen Kolonie mit zwei Jungens von 6 u. 8 Jahren. Sie wartet hier den Krieg ab, Herr K. ist Steuersachverständiger bei einer Treuhandgesellschaft in Bln. Er ist ein großer, starken, aber anscheinend etwas gefühlsweicher Mann, seine Frau, die ich nur flüchtig kenne, ist nicht besonders sympatisch. Er berichtete mir, daß er zur Gemeinde von Pfr. Niemöller in Dahlem gehöre u. daß seine Jungens gewöhnt wären, jeden Sonntag zum Kindergottesdienst zu gehen, was nun hier nicht geschehen könne. Er habe nun davon gehört, daß bei uns jeden Sonntag eine Andacht gehalten würde. Das scheint also jetzt Tagesgespräch in Orte zu sein. Er bat mich, daß seine Jungens daran teilnehmen könnten. [...]
[2][2] Gestern Nachmittag bei Krappmann. Wie immer sehr gemütlich und anregend. [...]
[2] Es war auch von der zu erwartenden Invasion die Rede. Die ganze Batterie hier soll dann infanteristisch eingesetzt werden, was natürlich wieder ein großer Unsinn ist, denn die Leute haben nicht die geringste infanteristische Ausbildung u. sind dem Alter nach letztes Aufgebot. K. ist der Ansicht, daß eine solche Invasion auch jetzt in den Wintermonaten denkbar sei, spätestens wohl im März. Das wird [3] wohl stimmen. Man scheint immerhin ziemlich nervös zu sein, K. selbst muß innerhalb von drei Stunden marschbereit sein, wenn er Befehl bekommt. Aber man kennt das ja, – dieser Befehl wird nicht kommen, oder wenn, dann nutzlos.
[4][...] [4] Man hört jetzt viel von Scharlach u. neuerdings von Diphterie. Ein Kind ist gestorben u. wurde gestern begraben. Bei den vielen Kindern der ausgebombten Familien, die hier sind, u. bei dem Mangel an ärztlicher Hilfe u. bei den schlechten Verbindungen, ist das eine ernste Gefahr. –
Bei unserer Batterie sind, wie ich höre, einige Infanterie-Unteroffiziere eingetroffen, welche die Batterie-Unteroffiziere infanteristisch ausbilden sollen, u. diese sollen dann die Mannschaften ausbilden, damit im Falle einer Invasion die Batterie als Infanteristen eingesetzt werden können. Wenn wir einer Invasion nichts Besseres entgegenzustellen haben, dann sind das trübe Aussichten. [...]
[5][5] Heute vor 23 Jahren lernte ich Martha kennen. – [...]
[5] Gestern besuchte uns Oberlt. Dr. Steinmetz, der jetzt bei Spezia als Marine-Artillerist sitzt. Er erzählte, daß Italien das reine Schlaraffenland sei, wo man noch alles bekommen könne. Die Italiener selbst seien zwar höflich, wollten aber vom Kriege nichts mehr wissen. – [...]
[5][5] Sonnabend Abend mit Krappmanns wieder ein sehr angeregter Abend. Er brachte eine Fl. Sekt mit, ich spendierte zwei Flaschen Bordeaux. – Er erzählte mir, er sei beim Lehrer Deutschmann gewesen, um Urlaub für Lothar zu bekommen, weil er für eine Woche mit ihm nach Schweinfurt zu Eltern u. Schwiegereltern fahren will. Bei dieser Gelegenheit hat D. angefangen, vom Religionsunterricht zu sprechen. Es sieht so aus, als hätte er Wind davon bekommen, daß ich damit wieder angefangen habe, jedenfalls hat er gewarnt, er könne mich im Ernstfall nicht vor dem Konzentrationslager schützen. Es scheint, als ob Lothar eine unbedachte Bemerkung in der Schule gemacht hat, die D. gehört hat. Ich werde vielleicht die beiden Jungens von Frau Korsch wieder nachhause gehen lassen müssen, – man muß mal abwarten. –
Krappmann erzählte mir, daß der Oblt. Dr. Steinmetz bei Spezia eine Batterie von vier Geschützen führt, aber nur ungefähr 45 Mann Besatzung dafür hätte, während hier die Batterie nur drei Geschütze hat, wofür 230 Mann Besatzung vorhanden sind. Im Ernstfalle könnten die vier Geschütze des Oblt. St. also niemals gleichzeitig bedient werden. Dr. K. meint, daß es überall so wäre. Es stünden am ganzen Atlantikwall zwar die Batterieen aus dem Papier u. sie seien auch vorhanden, aber es sei keine Bedienungsmannschaft da. Ich fragte, warum denn die hiesige Batterie [6] nicht Soldaten abgäbe, worauf er lachend erwiderte: Wenn diese Batterie u. die anderen zu diesem Befehlsbereich gehörenden Batterien nicht jede mindestens 230 Mann Besatzung hätten, sondern nur etwa 50 Mann, dann wäre für diesen Befehlsbereich nicht mehr ein Kapitän zur See erforderlich, sondern es genügte etwa ein Fregattenkapitän. Da aber der Kapitän z. See seinen schönen Posten nicht verlieren will, gibt er eben keine Leute ab. [...]
[6] Gestern, am 30. Jan., dem Tage der Machtübernahme durch die Nazis, verlas der Führer aus seinem Hauptquartier eine Rede, die ich aber nur zum Teil hörte. Was ich hörte, war höchst belanglos, immer die alten Phrasen von dem Sieg u. dem Lohn, den Gott dem gibt, der tapfer ausharrt. Die Rede sollte um 8 Uhr Abds. wiederholt werden, doch scheint da wieder Alarm in Bln. gewesen zu sein, denn der Deutschlandsender funktionierte nicht. Heute früh um 9 Uhr war Radio nur schwach zu hören, vielleicht ist die Sendeanlage beschädigt. – Dieser Zustand ist grauenvoll. [...]