ADB:Zerrenner, Karl Christoph Gottlieb
Heinrich Gottlieb Z. (s. o. S. 96). Heinrich Gottlieb Z. war zur Zeit der Geburt seines Sohnes, der auch seines Geistes treuer Erbe werden sollte, Landpfarrer zu Beiendorf bei Dodendorf im heutigen Kreise Wanzleben, unweit Magdeburg. Dort verlebte der Knabe seine erste Kindheit, die im Frühjahre 1788 mit dem Verluste seiner Mutter, Christiane Karoline Wagner aus Wernigerode, und dem Umzuge seines Vaters nach Derenburg im Stifte Halberstadt endete. Bereits im December desselben Jahres gab Vater Z. seinem Sohne und dessen drei Geschwistern eine zweite Mutter in der trefflichen Wittwe des Quedlinburger Arztes Dr. Ritter, Dorothea Elisabeth Messow aus Kalbe a. S., die ihm fünf Kinder ihrer ersten Ehe zubrachte und später noch zwei Kinder gebar. Durch diesen Ehebund wurde Karl Ritter (geb. 1779), der spätere berühmte Geograph, unseres Zerrenner’s Stiefbruder. Das bunte Familienleben im Pfarrhause zu Derenburg gestaltete sich überaus glücklich. Doch weilten gerade die beiden fast gleichaltrigen Stiefbrüder, von denen Karl Ritter mit seinem älteren Bruder Johannes bereits 1785 dem Institute zu Schnepfenthal übergeben war, selten zusammen und scheinen bei aller Herzlichkeit doch kein engeres persönliches Verhältniß zu einander gehabt zu haben. Wohl vorbereitet durch den Vater, bezog Z. die Schule im Kloster Berge, der auch jener früher als Schüler wie als Lehrer Jahrelang angehört hatte, und studirte dann Theologie in Halle. Von früh an verband er damit, angeregt durch seinen Vater und später durch den Kanzler [101] Niemeyer, lebhaftes Interesse für das Erziehungswesen. Kurze Zeit verweilte er nach der Studienzeit als Hauslehrer in Gutenberg bei Halle. Dann berief ihn 1802 Propst Rötger zum Lehrer an das Kloster U. L. Frau nach Magdeburg, an dem er sich solche Anerkennung erwarb, daß ihn 1805 der Magistrat zum zweiten Prediger an der H. Geistkirche wählte. Da der Primarius Blühdorn wegen allzu lebhafter Aeußerung seines preußischen Patriotismus von der westfälischen Regierung entfernt ward, mußte Z. jahrelang die Kirche allein bedienen und gewann während dieser Zeit viel Zulauf als Prediger und großes Vertrauen als Seelsorger und Pfleger der Jugend. Mit einem Amtsgenossen, Pastor Jasper, zusammen leitete er auch zeitweise eine Vorschule für das Gymnasium. Der Fremdherrschaft gegenüber fanden ihn manche zu gefügig. Doch entsprach es seiner Ueberzeugung, auch unter ihr nach Kräften Gutes zu wirken, und es gelang ihm, namentlich zu Gunsten der Schulen, durch das Vertrauen der westfälischen Behörden dem städtischen Gemeinwesen manchen Nutzen zuzuwenden. Dies veranlaßte nach Herstellung des preußischen Regimentes 1816 seine Ernennung zum Consistorial- und Schulrathe. Als solcher hatte er nicht nur das niedere Schulwesen des Magdeburger Bezirkes, sondern auch die Schullehrerseminare und einen Theil der höheren Lehranstalten der ganzen neugebildeten Provinz Sachsen, an Seminaren zunächst damals Weißenfels, Erfurt, Eisleben und einige Privatanstalten zu beaufsichtigen, an diesen auch die Lehramtsprüfungen zu leiten. Ganz besonders aber widmete er sich auch ferner dem städtischen Schulwesen in Magdeburg. Er übernahm neben seinem Hauptamte noch die Stelle eines Stadtschulinspectors für die Provinzialhauptstadt und bewirkte seit 1819 im Bunde mit dem Oberbürgermeister Francke eine Reorganisation des gesammten communalen Unterichtswesens. Seine Einrichtung mit ihren Frei- und Erwerbsschulen neben der Bürgerschule (Volksschule) kann unsere Ansprüche nicht mehr befriedigen; aber sie galt zu ihrer Zeit als leuchtendes, viele andere Städte beschämendes Muster und bedeutete in der That gegenüber der großen Zahl kümmernder einclassiger Parochial-, Küster- und Privatschulen, die er vorgefunden hatte, einen namhaften Fortschritt. Auch für eine höhere Bürger-, sowie für eine Gewerbe- und Handelsschule war gesorgt, während die beiden Gelehrtenschulen, Dom- und Klostergymnasium, als Stiftsschulen außerhalb der städtischen Zuständigkeit lagen, aber im Consistorium, später Provinzialschulcollegium auch unter Z. standen. Selbst in Berlin, wo man in den zwanziger Jahren an die Ordnung des Schulwesens ernstlicher herantrat, nahm man in dieser Hinsicht Magdeburg zum Vorbilde und suchte Z. als Organisator, wiewohl vergeblich, zu gewinnen. In ein besonders nahes Verhältniß trat dieser seit 1823 zu dem königlichen Schullehrerseminare, das damals aus den an beiden Gymnasien vorhandenen, der Bildung von Lehrern für die Volksschule dienenden Anhängseln herausgebildet ward. Z. übernahm geradezu die Direction dieser Anstalt und erwarb sich auch in dieser Thätigkeit Dank und Ansehen. Sein bis dahin festgehaltenes Pfarramt gab er ihr zu Liebe auf. So stand Z. recht auf der Höhe seines vielseitigen Wirkens, als er 1830 vom Könige beauftragt ward, von dem in Schl.-Holstein eingeführten sogen. wechselseitigen Unterrichte durch eigenen Augenschein Kunde zu nehmen und darüber zu berichten. Herbst 1830 reiste er dorthin und weilte zwei Wochen in Eckernförde, wo der mit regem Eifer betriebene Versuch seinen Mittelpunkt und an begeisterten Anhängern, wie Oberstlieutenant v. Abrahamson, Major v. Krohn, Pastor Zurmühlen, Lehrer Eggers, seine eigentlichen Leiter hatte. Von dort aus besuchte Z. nachher noch viele nach den neuen Grundsätzen eingerichtete Stadt- und Landschulen der Herzogthümer. Er war keineswegs mit allem einverstanden, was er dort fand; aber im ganzen glaubte er darin einen bedeutenden Kern zu entdecken, der sich zu wesentlicher Verbesserung des allgemeinen [102] Schulwesens entwickeln ließe. Strenger, als er es in Schl.-Holstein gefunden hatte, wollte er zwischen Unterricht und Uebung scheiden, jenen dem Lehrer vorbehalten, nur diese geförderten Schülern unter des Lehrers Aufsicht übertragen. Doch lautete sein Schlußurtheil: ‚Die wechselseitige Schuleinrichtung ist vorzüglich geeignet, eine Schule, und selbst eine größere Kindermasse, gehörig zu ziehen und die moralische Ausbildung der Jugend zweckmäßig zu befördern‘, und ‚bei der wechselseitigen Schuleinrichtung kann eine Schule ihr Ziel viel weiter hinaussetzen‘. Mit dieser Schätzung begegnete er bald manchen Bedenken und fand in der Folge an dem im J. 1832 nach Berlin berufenen Diesterweg einen dialektisch überlegenen Gegner, gegen den er seine Sache nicht zu behaupten vermochte. Es ist heute kaum noch der Mühe werth, die Polemik der beiden Pädagogen in den dreißiger Jahren über eine inzwischen längst abgethane Sache bis in die Einzelheiten zu verfolgen; und man kann gern einräumen, daß Diesterweg in seinem reizbaren Eifer nicht überall der wirklichen Absicht des Gegners gerecht wird. Aber man wird nicht leugnen dürfen, daß jener klarer erfaßte und festhielt, was der deutschen Volksschule noth war, als dieser. Zerrenner’s Bericht erschien im J. 1832 unter dem Titel: „Ueber das Wesen und den Werth der wechselseitigen Schuleinrichtung“. Zwei Jahre später ließ er diesem Berichte noch folgen: „Mittheilungen und Winke, die Einführung der wechselseitigen Schuleinrichtung betreffend“ (1834). Diesterweg bekämpfte ihn besonders in der Schrift: „Bemerkungen und Ansichten auf einer pädagogischen Reise nach den dänischen Staaten im Sommer 1836“, worauf Z. wiederum antwortete: „Die wechselseitige Schuleinrichtung nach ihrem inneren und äußeren Werthe mit Beziehung auf des Seminardirectors Dr. Diesterweg Urtheil über dieselbe“ (1837). Mit den unter seinen Augen in Magdeburg und Aschersleben angestellten Versuchen glaubte Z. sehr gute Erfolge erzielt zu haben. Aber die Lehrer erlahmten unter den an sie gestellten übermäßigen Ansprüchen, und der Eifer für die Neuerung erkaltete selbst in Zerrenner’s Nähe bald. – Mittlerweile hatte Z. die Direction des Lehrerseminares abgegeben und, unter Beibehaltung seiner Stelle in Consistorium, Schulcollegium und Regierung, 1833 nach Rötger’s Tode mit der Würde eines Propstes die Leitung des Klosters U. L. Frau in Magdeburg übernommen, dessen Gymnasium und Alumnat unter Darangabe mancher alter Traditionen eben damals dem allgemeinen Typus des preußischen höheren Schulwesens mehr conform gestaltet wurden. Von eigenem Unterrichte wurde Z. in Rücksicht auf seine behördlichen Pflichten, die ihn zu vielen Reisen nöthigten, entbunden. Im selben Jahre ertheilte ihm die Universität Leipzig honoris causa die philosophische, im Jahre darauf Halle die theologische Doctorwürde. Aber die glücklichsten Tage hatte er hinter sich. Seine ausgeprägte, wenngleich nicht eigentlich schroffe, rationalistische Art paßte nicht mehr recht in die Zeit und brachte ihn mehr und mehr in Conflicte mit einem anders gerichteten jüngeren Geschlechte, das in Kirche und Schule emporkam. Die Spannung verschärfte sich, als 1840 unter dem neuen Regimente Eichhorn Cultusminister und Gerd Eilers, bald auch F. Stiehl im Schulwesen maßgebend wurden. Es läßt sich leicht denken, welcher Seite Z. zuneigte, als bald darauf Magdeburg Ausgangspunkt und die Provinz Sachsen Schauplatz der lichtfreundlichen Bewegungen und Kämpfe wurden. In seinen amtlichen Verhältnissen sah er sich mehr und mehr zurückgedrängt und übergangen. Seit 1844 ging die volle Leitung des Klosters an den 1843 von Torgau berufenen Director Müller über, während er Ehrenephorus der Anstalt ohne wirkliche Macht blieb; 1846 trat er aus dem Consistorium, in dem er fremd und einflußlos geworden war. Das Wehen der Freiheit im J. 1848 erweckte ihn zu neuer Hoffnung; aber er war zu alt geworden, um noch ein dauerndeß praktisches Verhältniß zu der gährenden Zeit zu gewinnen. Nach kurzer [103] Krankheit starb er am 2. März 1851. – Nur wenige Monate früher hatte er seine langjährige Lebensgefährtin vor sich hintreten sehen, Tochter des Pastors Keßler zu Meitzendorf bei Magdeburg. Ein Sohn war den Eltern früh gestorben; drei Töchter, in Magdeburg verheirathet, überlebten sie. Z. wird als ein Mann von hoher Gestalt und ehrwürdigem, achtunggebietendem Wesen geschildert, dabei aber freundlich und leutselig, mit blauen, milden Augen. – Um das Schulwesen der Provinz Sachsen und besonders ihrer Hauptstadt Magdeburg hat Z. sich zweifellos verdient gemacht. Sein Name gehört der preußischen Schulgeschichte an neben Dinter, Natorp, Harnisch und Diesterweg. Nachhaltigen persönlichen Einfluß jedoch hat er nicht zu üben vermocht; dazu fehlt ihm zu sehr ursprüngliche Frische und ideales Pathos. Für die große Gestalt seines Zeitgenossen Pestalozzi hatte er nur sehr bedingtes Lob, wiewohl er ihm in vielen Punkten beipflichtete. Seine eigentlichen Vorbilder lagen weiter zurück in der rationalistisch-philanthropischen Generation.
Zerrenner: Karl Christoph Gottlieb Z., Theolog und angesehener Schulmann rationalistischer Richtung, geboren am 15. Mai 1780, † am 2. März 1851, Sohn vonZerrenner’s ganze Eigenart macht es verständlich, daß er seiner Mitwelt als nicht unbedeutender Schriftsteller galt und der Nachwelt als solcher kaum noch bekannt ist. Seine Schriften erstrecken sich fast auf alle Gebiete des elementaren Erziehungs- und Unterrichtswesens. Aber man kann keines nennen, auf dem er besonders hervorragte; es wäre denn auf dem des deutschen Unterrichtes, für den er Lesebücher (der neue Kinderfreund; der kleine Kinderfreund etc.) herausgab, und den er auch bis in die Gymnasien (1836) verfolgte. Für Verbreitung der Lautirmethode Stephani’s trat er wider das Buchstabiren ein; die Schreibmethode Graser’s verwarf er. Die Krone des deutschen Unterrichtes waren ihm, wie es scheint, die „Denkübungen“, denen er verschiedene Schriften widmete. Auch religiös Erbauliches verfaßte er, so „Christliche Morgenandachten auf alle Tage im Jahre“ (1841, 3 Thle., wie anscheinend alle seine Schriften in Magdeburg, meist bei Heinrichshofen); auch „Religionsbegriffe, in alphabetischer Reihenfolge kurz erläutert“ (1838). – Nach seines Vaters Tode setzte er dessen Zeitschrift „Der deutsche Schulfreund“ als „Neuen deutschen Schulfreund“ fort und versuchte sich nach deren Eingehen seit 1838 nochmals als Herausgeber mit „Mittheilungen über Erziehung und Unterricht in zwanglosen Heften“, aber ohne dauernden Erfolg.
- Vgl. Hergang in seiner Pädagog. Realencyklopädie unter Z. – Erler in Schmid-Schrader’s Encyklopädie des ges. Erziehungs- und Unterrichtswesens X, sowie die allgem. schulgeschichtliche Litteratur.