ADB:Wucherer, Matthäus Ludwig
Dr. Karl Friedrich Bahrdt auf ihn wie auf so viele Hallenser auszuüben vermocht hat. Durch Heirath erwarb Karl W. ein Grundstück von gewaltigem Umfang, Große Ulrichstraße 73 (jetzt 55), auf dessen innern Theilen die ausgedehnten Gebäude standen, die den Zwecken seiner Fabrik dienten. Besonders charakteristisch war außer anderm (diese Erinnerung sei dem Verfasser dieses Aufsatzes gestattet, der als Knabe 14 Jahre lang in dem Hause wohnte) auf dem weiten Hofe eine Verbindung von drei concentrisch über einander aufsteigenden mächtigen Wasserbecken aus Stein. In diesem stattlichen, aus dem Anfange des 17. Jahrh. stammenden Patricierhause wurde dem alten W. am 30. Mai 1790 von seiner zweiten Frau Karoline Elisabeth, geb. Lauer Matthäus Ludwig als jüngstes Kind unter 4 Geschwistern geboren.
Wucherer: Matthäus Ludwig W. war während der ersten sechs Jahrzehnte unseres Jahrhunderts einer der angesehensten und verdientesten Bürger der Stadt Halle an der Saale, eine überaus gediegene Persönlichkeit, die zu den wackersten Trägern des Geistes gehört hat, auf dem der Aufschwung der Jahre 1813 bis 15 so wesentlich beruhte. M. L. Wucherer war der Sohn eines schwäbischen Vaters, Karl W., der, Abkömmling einer Predigerfamilje in der Gegend von Cannstadt, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Halle eingewandert war, hier eine große Fabrik von Golgas und ähnlichen Wollwaaren angelegt und mit Erfolg betrieben, endlich auch den Titel eines Kammerraths erlangt hatte. Der alte Wucherer war ein echter Sohn des 18. Jahrhunderts: ein sehr rühriger Geschäftsmann und verständiger Wohlthäter der zahlreichen Armen der Stadt, huldigte er nach Art seiner Zeit und namentlich auch der Stadt, der er jetzt angehörte, der Aufklärung jener Tage und unterlag dem mächtigen Einfluß, den zuerst der seit 1779 in Halle angesiedelteDie Ausbildung des früh reifenden Kindes lag in den denkbar besten Händen: schon seit seinem fünften Jahre wurde er mit zu der Gruppe von Knaben gesellt, die der berühmte Pädagoge August Hermann Niemeyer zu einer von ihm selbst und seiner Frau geleiteten, für seine beiden ältesten Söhne gebildeten, Privatschule (seit 1784) vereinigt hatte. Seit Ostern 1800 aber wurde W. Schüler des unmittelbar von Niemeyer verwalteten k. Pädagogiums der Francke’schen Stiftungen. Der junge W. wollte ursprünglich Medicin studieren: als aber 1802 unerwartet ein älterer Bruder starb, mußte der Knabe auf Wunsch des Vaters seinen Bildungsgang ändern und sich fortan zum späteren Fabrikherrn [264] und Kaufmann ausbilden. Dies geschah vorzugsweise in Breslau, und zwar in dem großen Handelshause Fröbus u. Comp., an welches W. durch G. Freytag’s berühmten Roman „Soll und Haben“ sich später lebhaft erinnert fühlte. Da auch der Vater am 12. April 1804 starb, übernahm einstweilen die Mutter die Leitung der Hallischen Fabrik und erst 1812 trat der Sohn an deren Spitze, nicht ohne durch die Kriegsnöthe jener Zeit und durch die Continentalsperre schwer bedrängt zu werden. Nicht lange konnte er jedoch die Arbeiten des friedlichen Verkehrs ununterbrochen betreiben. Als ein feuriger preußischer Patriot hatte er bereits das tiefe Mißtrauen der westfälischen Behörden in Halle auf sich gelenkt: so trug er sich zu Anfang des Jahres 1813 mit verwegenen Plänen zur Entzündung von Aufständen im Saalkreise und in Mannsfeld. Endlich zog er es aber vor, im März 1813 nach Schlesien zu eilen, wo er dann in Lützow’s Freicorps als Reiter bei der zweiten Schwadron eintrat – damals eine hohe, echt kriegerische Erscheinung, die erst in den letzten 15 Jahren seines Lebens durch zu große Fülle merklich verändert wurde. Als im Verlaufe des Krieges die Preußen vorübergehend (seit Anfang April 1813) Halle zu besetzen vermochten, erschien auch W. in seiner Vaterstadt, wo er mit Albrecht Meckel (wie vorher schon Theodor Körner) neue Theilnehmer für den Kampf um das Vaterland warb. Da (29. April) die Stadt vorläufig wieder aufgegeben werden mußte, kehrte W. zu seinem Corps zurück. Er konnte natürlich nicht hindern, daß jetzt in Halle sein Vermögen unter Sequester gestellt wurde. Dagegen entging er durch die Annahme des Namens Teltow der Gefahr als westfälischer Unterthan kriegsgerichtlich hingerichtet zu werden, als er in dem Ueberfalle bei Kitzen (17. Juni) schwer verwundet in Gefangenschaft gerieth. In das französische Officiershospital in Leipzig gebracht, sollte er nach seiner Genesung als Kriegsgefangener sofort nach Frankreich geführt werden, es glückte ihm aber, ebenso wie L. von Mühlenfels, in Gelnhausen zu entweichen und nach Heidelberg zu flüchten. Hier bot ihm eine deutschgesinnte Dame, eine Freundin seiner Familie, die Mittel, um über Baiern, Prag und Schlesien zuerst wieder Berlin zu erreichen. Nach der Siegesschlacht bei Leipzig eilte er nach Halle, wo er den auf seinem Vermögen ruhenden Sequester aufhob. Dann aber trat er im November 1813 als Lieutenant in das sog. Elb-National-Husarenregiment ein: hier hat er sich, namentlich am 1. April 1814, in den Kämpfen mit der französischen Besatzung von Magdeburg sehr rühmlich bewährt. Im J. 1815 finden wir ihn wieder als Adjutanten bei dem seiner Familie verwandten General von Müffling, an dessen Seite er die Schlacht von Waterloo bestand. Ihm fiel an diesem Tage der schwere Ritt zu, der ihn mit wichtigen Aufträgen dem zur Unterstützung Wellington’s herbeieilenden General Blücher entgegenführte. Nachher in Paris hatte er an Müffling’s, des Gouverneurs der französischen Hauptstadt, Seite viel mitzuarbeiten bei der Auswahl der durch die Franzosen geraubten, nach Deutschland zurückzuführenden Kunstwerke. Nach Abschluß des ganzen Krieges ist W. (4. Oct. 1817) Premierlieutenant bei der Landwehr geblieben, endlich am 14. Sept. 1829 als Rittmeister verabschiedet worden. Noch längere Jahre dagegen hat er in seiner Heimath die patriotischen Erinnerungsfeste der Freiwilligen des Befreiungskrieges mitgefeiert.
Nicht lange nach seiner Rückkehr zu den Arbeiten des Friedens begann aber die rüstige und erfolgreiche Thätigkeit des unermüdlich rührigen und weitblickenden Mannes für das Gemeinwohl und die Wiederherstellung des damals gänzlich zu Grunde gerichteten Wohlstandes seiner Stadt. Für seine Person hat er seine eigene Fabrik, deren Erzeugnisse bis nach New-York und Mexico gingen, wieder zu hoher Blüthe gebracht, zugleich auch anderweitige kaufmännische Unternehmungen mit Erfolg betrieben. Der Verwaltung seiner Stadt gehörte er von 1818 bis [265] 1853 an. Im J. 1818 wurde er in den damals nach Abschaffung der westfälischen Formen nach preußischem Muster umgebildeten Magistrat durch Wahl des Gemeinderaths als unbesoldeter Stadtrath berufen, gleichzeitig wurde ihm die (besoldete) Arbeit als Kämmerer überwiesen. So blieb es bis 1829. Als nachher 1831 die revidierte preußische Städteordnung auch in Halle eingeführt wurde, ist W. seit 1832 wieder unbesoldeter Stadtrath geworden: erst die zähe Kränklichkeit, die seine späteren Jahre trübte, bewog ihn 1853 aus diesem Amte zu scheiden.
In dieser Stellung hat nun W. durch die erheblichen Dienste, die er der Stadt leistete, sich einen hochgeachteten Namen erworben. Er gehörte zu den Männern, die mit Einsicht und rastlosem Eifer sich bemühten, der in den schweren Jahren 1806 bis 1817 ungebührlich hart heimgesuchten Stadt Halle neue Quellen des bürgerlichen Wohlstandes zu öffnen. Seit 1817 wirkte er mit Glück als Mitglied einer bis 1829 bestehenden Commission, der es oblag, die seit 1806 erwachsenen schweren Kriegsschulden zu tilgen, was denn auch bis gegen die Mitte unseres Jahrhunderts glücklich durchgeführt wurde. W., ein auch persönlich sehr wohlthätiger Mann, ist vorzugsweise bei der verständigen Neuordnung der städtischen Armenpflege, bei der Bekämpfung der durch wiederholte Zeiten harter Theuerung und verheerende Seuchen veranlaßten neuen Nothstände thätig gewesen. Noch erfolgreicher war sein Wirken bei neuen Unternehmungen zur Hebung der fast vollständig verfallenen Industrie und des Handelsverkehrs von Halle. So u. a. bei der großen Zuckerfabrik am Hospitalplatz. Ganz besondere Verdienste erwarb sich W., als es galt, die alten Verkehrsstraßen, die Halle berühren, zu Eisenbahnen auszubauen. In der Gegenwart beruht ein sehr wesentlicher Theil der neuen Blüthe dieser Stadt auf dem Umstande, daß sie einer der wichtigsten Knotenpunkte des norddeutschen Eisenbahnsystems geworden ist. Daß das geschehen konnte, ist hauptsächlich Wucherer’s Werk. Als die Anlage der zweiten großen Eisenbahn im nordöstlichen Deutschland, von Magdeburg nach Leipzig, in der Vorbereitung war, bemühte sich u. a. namentlich der sonst als ein ausgezeichneter Mann berühmte Oberbürgermeister Francke in Magdeburg – derselbe der bis dahin mit Erfolg die in den Berliner entscheidenden Kreisen bestehenden Vorurtheile gegen die Eisenbahnen bekämpft hatte – die Stadt Halle von der unmittelbaren Verbindung mit jener geraden Linie auszuschließen und wollte ihr nur den Anschluß durch eine kümmerliche Zweigbahn zugestehen. W. war es, der durch geschicktes Aufbieten seines ganzen Einflusses in Berlin und durch persönliches Eintreten bei dem ihm sehr geneigten Könige (im J. 1836) jenen verwerflichen Bestrebungen die Spitze abgebrochen hat. Weiter hat W. mit Eifer die Anlage der großen von Halle ausgehenden thüringischen Bahn gefördert, in deren Verwaltungsrath er bis zum J. 1849 seinen Platz einnahm. Er vor allen wies auch beständig auf die Nothwendigkeit hin, Halle mit Hof und mit Kassel durch Schienenwege zu verbinden.
Wucherer’s und seiner Mitstrebenden Arbeiten trugen allmählich ihre Früchte. Wie ihm bereits 1841 die Veranstaltung der ersten Gewerbeausstellung der Provinz Sachsen in Halle möglich wurde, so konnte W. 1844 die Hallische Handelskammer ins Leben rufen, an deren Spitze er bis 1849 gestanden hat. Daneben aber bewährte er sich auch als Pfleger geistiger Interessen. War er auf der einen Seite von 1832 bis 1858 Vorsteher des Kirchencollegiums an der städtischen Haupt-(Marien)kirche, so erfreuten sich auf der andern die Künste seiner ganz besonderen Förderung. Unter seiner Mitwirkung entstand 1834 der Hallische Kunstverein, der namentlich die periodische Ausstellung von Gemälden sich zur Aufgabe stellte. Ebenso 1836 die Actiengesellschaft, die ein neues (jetzt durch ein neueres verdrängtes) Schauspielhaus erbaute. Endlich hat er auch [266] (1856) den Verein ins Leben gerufen, durch dessen Wirken die Stadt in den Besitz eines würdigen Standbildes ihres großen Sohnes, des Tondichters Händel, (1859) auf dem Markte gelangt ist. W. blieb bis 1859 Cassenführer dieses Vereins.
Seiner politischen Stellung nach gehörte W. zu der Partei, die später die altliberale genannt worden ist; er ist auch 1849 für kurze Zeit Vertreter der Stadt in der damals neu gebildeten Ersten Kammer gewesen. Die vielseitige Thätigkeit Wucherer’s, die auch am 19. Febr. 1845 durch den Titel eines Geh. Commerzienrathes geehrt wurde, fand zu allen Zeiten bei seinen Mitbürgern gebührende Anerkennung. Als er endlich aus seinen Aemtern schied, überreichten ihm (12. April 1854) die städtischen Behörden eine Bürgerkrone und ernannten ihn zum Stadt-Aeltesten. W. hat diese Ehrung auch noch 7 Jahre lang überlebt. Bereits war die Frau, mit der er seit dem 22. Mai 1817 in glücklicher (freilich kinderloser) Ehe gelebt hatte, Emilie geb. Wentzel (Tochter des Amtsraths Wentzel zu Brachwitz) ihm im Tode vorangegangen, da ist er selbst nach längerem Leiden infolge der Wassersucht am 15. December 1861 gestorben. Sein großer schöner Garten auf der Nordwestseite der Stadt, den W. mit vielem Geschmack gepflegt hatte, in der nach ihm benannten Wuchererstraße, wurde bald nachher (1862/63) Mittelpunkt der großartigen neuen an die Universität angeschlossenen landwirthschaftlichen Lehranstalt.
- Hauptsächlich nach persönlichen Erinnerungen und Mittheilungen der Verwandten. S. auch Wucherer’s Bericht über die Affaire bei Kitzen, Hall. Tageblatt von 1863 Nr. 120–122. – F. v. Jagwitz, Gesch. d. Lützow’schen Freikorps. Berlin 1892.