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ADB:Wilmsen, Friedrich Philipp

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Artikel „Wilmsen, Friedrich Philipp“ von Marie Sydow in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 309–311, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wilmsen,_Friedrich_Philipp&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 02:30 Uhr UTC)
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Wilmsen: Friedrich Philipp W., geboren am 23. Februar 1770 in Magdeburg, † am 4. Mai 1831 in Berlin. Sein Vater war Prediger an der deutschreformirten Kirche in Magdeburg. Als drittes Kind unter 16 Geschwistern entwickelte er sich geistig besonders früh, war aber der Mutter seiner körperlichen Schwäche und oft bedenklichen Nervenreizbarkeit wegen ein besonderes Sorgenkind. „Laß dieses Herz ganz an dir kindlich hangen“ – so schrieb sie bald nach seiner Geburt in ihr Tagebuch und hatte die Freude, ihn noch im Glanzpunkt seines Lebens und seiner Wirksamkeit zu sehen, und in dem vielbeschäftigten Schriftsteller und allenthalben in Anspruch genommenen Seelsorger den liebevollsten und zärtlichsten Sohn zu finden. Des Vaters geistige Regsamkeit und der Mutter gefühlvolle Tiefe waren auf ihn übergegangen. Letztere war von einer, besonders damals ungewöhnlichen Geistesbildung, und nachdem ihr Gatte schon eine Reihe von ihr in homiletischer Form verfaßter erbaulicher Aufsätze unter dem Titel „Predigten eines Frauenzimmers“ veröffentlicht hatte, gab ihr Sohn 1812 ein von ihr gesammeltes Erbauungsbuch unter dem Titel „Die Lehren und Gebote der Religion Jesu Christi in Sprüchen und Liedern“ heraus, dem er ein Vorwort für seine Kinder und Enkel voraufschickte. Der ernste stille Geist des Pfarrhauses, der sich besonders am Vorabende der Sonn- und Festtage geltend machte, äußerte sich schon früh auf die Entwicklung des Knaben, und verbreitete sich nachher klärend auf sein ganzes Wesen. Als er sieben Jahr alt war, wurde sein Vater als dritter Prediger an die Parochialkirche nach Berlin berufen, wohin die Familie übersiedelte. Während des ersten Jahres hier ließ der Vater Friedrich und seinen älteren Bruder im Haus unterrichten; den Religionsunterricht übernahm er aber selbst, und zwar nach der alten starren Form der damaligen Dogmatik, sorgte daneben jedoch gewissenhaft für fortschreitende Ausbildung der Verstandeskräfte, der Sprache und des Geschmacks. Dem sich immer vergrößernden Kinderkreis, der sich allabendlich um den Vater schaarte, bot derselbe anregende Lectüre, und vor allem machten die damals erscheinenden „Volksmährchen von Musäus“ auf den mit reicher Einbildungskraft begabten Friedrich besondern Eindruck. Als er nun nach einem Jahr mit seinem Bruder auf das Gymnasium zum Grauen Kloster kam, um die bis dahin vernachlässigten alten Sprachen und die Geschichte in ihren Bildungsgang aufzunehmen, machte sich bei ihm die alte Schulzucht in welcher der Stock regierte, und die mit den alten düstern Klosterräumen übereinstimmte, bis zur Unerträglichkeit fühlbar, und er selbst hat später seine Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eingreifender Reformen im Schulwesen auf diese widrigen Erfahrungen zurückgeführt. Vorläufig dienten sie nur dazu, ihn der Wissenschaft zu entfremden, und ein Uhrmacher, der im elterlichen Hause unten wohnte, und dem oblag das künstliche Glockenspiel der Parochialkirche in Ordnung zu halten, hatte ihn so für seine Kunst zu interessiren gewußt, daß er beschloß auch Uhrmacher zu werden. Da mußte er Zeuge sein, wie dieser Mann, als er gerade inmitten seiner Walzen, Stifte und eisernen Räder des großen Mechanismus im Thurm oben saß, um etwas zu repariren, vor seinen Augen fürchterlich zermalmt wurde, da durch die Unvorsichtigkeit des Gehülfen das Triebwerk plötzlich in Gang gerieth. Dieser entsetzlichen Erfahrung folgte bald ein ebensolcher Schrecken. Als der Knabe mit andern Genossen in dem Gewölbe unter der [310] Kirche spielte, und sich hinter eine Thür verstecken wollte, fand er dort die Leiche eines Soldaten, der sich an derselben erhenkt hatte. Ein bedenkliches Nervenfieber, in welches er infolge dessen verfiel, ließ eine bis an sein Lebensende dauernde Reizbarkeit zurück. Auch zwei in seine Jugend fallenden Unglücksfälle seiner Brüder dienten dazu diese Reizbarkeit immer von neuem zu erhöhen. Einer derselben ertrank beim Baden, ein anderer brach bei einem gemeinsamen Ferienbesuch bei einer verheiratheten Schwester, vor seinen Augen im Eise ein, und versank sofort rettungslos. Auch Friedrich selbst hätte sein Leben beim Baden fast eingebüßt, wäre er nicht durch seinen Lehrer Moritz vom grauen Kloster, der einzige, an dem er hing, gerettet worden. Als dieser bald darauf an das Joachimsthal’sche Gymnasium übertrat, ließ auch W. sen. seine Söhne diese Anstalt besuchen. Hier regte ihn der berühmte Engel, dessen Lieblingsschüler er bald wurde, außerordentlich an und ihm verdankte er seine später einfache, leichte, klar fließende Sprache. Im J. 1787 bezog er die Universität Frankfurt a. O., die er besonders der dortigen „reformirt theologischen“ Facultät wegen zu wählen genöthigt war, da er der reformirten Confession besonders zugethan und die damalige Beschränktheit einen viel strengeren Unterschied der Bekenntnißformen machte als jetzt. Aber die Lehrer sagten ihm ihrer Trockenheit wegen nicht zu, und das Studentenleben stieß ihn ab, sodaß er nach einem Jahr ins Vaterhaus zurückkehrte. Ein Versuch zu predigen, den er bald darauf auf der väterlichen Kanzel machte, gelang so über Erwarten, daß er nun frischen Muthes nach Halle ging, und nach fleißigem Studium erst einige Jahre später nach bestandener Candidatenprüfung zurückkehrte. Dort hatte er sich nebenbei viel mit Gellert, Lavater, Klopstock und Herder’s Schriften beschäftigt. In Berlin erwarb er sich nun während der nächsten sechs Jahre seinen Unterhalt durch Unterricht an Dr. Hartung’s Privatlehranstalt, und bereitete sich auf seinen eigentlichen Beruf durch fleißige Vertretung der Berliner Geistlichen auf den verschiedensten Kanzeln vor, wofür ihm von der Hof- und Domkirche für sich und einen andern Candidaten ein ansehnliches Reisestipendium für Deutschland und die Schweiz zu theil wurde. Dort trat er auch mit Lavater, Heß und Hirzel in persönlichen Verkehr. Die französische Staatsumwälzung und die dadurch einander entgegenziehenden feindlichen Heere drohten den Freunden die Rückkehr nach dem Norden abzuschneiden, sodaß sie ihre Reise abbrachen und heimwärts zogen. Von Hamburg aus, wohin W. noch zum Schlusse ging, wurde er im Frühjahr 1797 an das Todtenbett seines Vaters gerufen. Er fand ihn nicht mehr lebend, aber unmittelbar nach der Bestattung traten die Hausväter der Gemeinde zusammen und wählten ihn an seines Vaters Stelle. Am 6. August 1798, in seinem 29. Jahre, wurde er eingeführt. Ueber diese Lebensperiode spricht er in seiner „Constantia“ (Berlin) in der dritten Person. 1799 vermählte er sich mit Wilhelmine Zenker, der Tochter des nachmaligen Geheimraths und königl. Tresoriers Zenker, die er selbst sechs Jahre in der Hartung’schen Schule unterrichtet hatte. Nun begann für W. neben einem unbeschreiblich glücklichen Familienleben die segensreichste und arbeitsreichste Zeit. Schon als Candidat hatte er den Plan gefaßt, dem nur für das Landvolk bestimmten „Rochow’schen Kinderfreund“ einen andern zur Seite zu stellen, der ein allgemeines Lehr- und Lesebuch für Bürgerschulen sein sollte, und wie groß das Bedürfniß danach war, beweist die schon im ersten Jahr nöthige erneute Auflage und der Wunsch, den „brandenburgischen“ in einen „deutschen Kinderfreund“ umzuwandeln. Er wurde durch dies vortreffliche Kinderbuch der erste Lehrmeister fast des ganzen nördlichen Deutschlands, und erlebte selbst noch 121 Auflagen je zu 5000 Exemplaren (während 1852 die 198. Auflage davon bei Reimer in Berlin erschien). An dies Werk schlossen sich je nach innerm [311] Triebe und äußerer Veranlassung „Lehrbuch der Moral und Religion“, „Leitfaden für den Unterricht der Geographie“, ein „Gesangbuch für Volksschulen“, ein „zweiter Theil des Kinderfreundes“, „Uebungsblätter für Selbstbeschäftigung“ – alles während der nächsten zehn Jahre. Den Ton für seine Kindergeschichten fand er in der Kinderstube in seinem sich stetig vergrößernden Kinderkreise. Eine erweiterte Thätigkeit erwuchs ihm, als zum Andenken der Königin Luise die „Luisenstiftung“ gegründet wurde, welche unter dem Protectorate der je regierenden Königin oder einer Prinzessin damit begann, 24 jungen Mädchen aus gebildeten Ständen ihre Ausbildung bis zu völliger Selbständigkeit zu geben. Ebenso erzog sie sechs Mädchen aus den niedern Ständen zu guten Dienstboten. Mit den Jahren wuchs die Anstalt aber weit über diesen Rahmen hinaus, und blüht noch heute als eines der segensreichsten Institute. W. gab wöchentlich von der Gründung an neun Stunden und widmete ihm auch sonst einen großen Theil seiner Kraft durch Vorträge und dergleichen. Auch die Oberaufsicht über das Kornmesser’sche Waisenhaus, welches zwölf vaterlosen Knaben Obdach gab, übertrug man ihm, ebenso wie die über das Hospital und die Armenverwaltung der Parochialgemeinde und die Administration der Kurmärkischen Prediger-Wittwencassen. Vor allem wuchs aber seine Personalgemeinde von Jahr zu Jahr und erforderte seine Kräfte. Ueber seine Kanzelberedsamkeit äußert sich einer seiner Zeitgenossen: „W. predigte aus der Fülle des Geistes und Herzens, nach ernster Meditation, einfach das Thema und Theile des Textes entwickelnd nicht mit rhetorischem Glanz, nicht mit stürmischem Feuer, aber mit fortreißender Lebendigkeit, sich immer steigernder Wärme, und besonders aus einem Guß!“ – Eine der ersten Früchte des nach den Kriegsjahren neu erwachenden kirchlichen Lebens war die, wenigstens für Berlin schon 1817 bewirkte Union der beiden evangelischen Confessionen. So feierten auch die Prediger der Parochialkirche, die alle früher streng reformirt waren, mit ihnen W., am 31. October in der schönen Nicolaikirche mit ihren lutherisch genannten Amtsbrüdern das Abendmahl nach vereinigtem Ritus. Wie Friedrich Wilhelm III. bedacht war durch die Union unter seinen Unterthanen ein neues Band der Liebe zu knüpfen, so berief er auch eine Commission zur Sammlung eines neuen zeitgemäßen Gesangbuches und über zehn Jahre lang kam W. jeden Donnerstag mit dem Propst Hanstein, Marot, Ribbeck, Ritschl, Schleiermacher, Theremin, Spillecke und später Neander zur Prüfung der Lieder zusammen. Und trotz dieser Arbeitslast ließ W. im Gebiete der religiösen und Erbauungsschriften von 1811 bis 1820 noch erstehen: „Hersiliens Lebensmorgen“ und die „Eugenia“, eine sehr gelungene Umarbeitung von Sturm’s Morgen- und Abendbetrachtungen. Auf pädagogischem Gebiet eine „Anleitung zu schriftlichen Aufsätzen“, „Die ersten Verstandesübungen“. Von Bildungsschriften für größere und kleinere Jugend sind noch zu nennen: eine „Fortsetzung von Knigges Umgang mit Menschen“, „Eine glückliche Familie“, „Der Leselustige“, „Klio, historisches Taschenbuch“ (1811), „Die Erde und ihre Bewohner“ (mit Kupfern, 3 Bde., 1812–15), „Erzählungen von einer Reise 1796“ (1813), „Regeln des Umgangs mit den Kindern praktisch dargestellt“ (1818), „Pantheon deutscher Helden“, histor. Lesebuch f. d. Jugend. Selbst während der letzten zehn Jahre seines Lebens, in denen Wilmsen’s Gesundheit, die ja nie eine kräftige gewesen war, sehr an zu wanken fing, benutzte er jede erträgliche Stunde, um durch die Arbeit am Schreibtisch Herr über seine Schmerzen und Schwäche zu werden, und haben sich aus dieser letzten Zeit noch eine Reihe von größeren Erzählungen erhalten: „Eusebia“, „Theodora“, „Miranda“, „Jucunde“, „Benigna“, „Euphrosine“ und die „Heldengemälde“. Am 4. Mai 1831 beschloß W. in den Armen der Seinigen sein pflichttreues, gesegnetes und thatenreiches Leben.