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ADB:Tschudi, Friedrich von

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Artikel „Tschudi, Friedrich von“ von Hermann Wartmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 744–746, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tschudi,_Friedrich_von&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 08:24 Uhr UTC)
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Tschudi: Friedrich v. T., Geistlicher, Staatsmann und Schriftsteller, geboren am 1. Mai 1820 in Glarus, † am 24. Januar 1886 in St. Gallen. – Ein Sprößling der durch den schweizerischen Historiker Aegidius T. berühmt gewordenen Familie wuchs F. v. T. mit seinen um vier und zwei Jahre älteren Brüdern Iwan und Joh. Jakob (s. u. S. 749) zu Glarus in guten Verhältnissen auf. Den damaligen Mangel einer guten Volksschule am Heimathsorte ersetzte eine von tüchtigen Fachmännern geleitete Privatschule. Die Gymnasialbildung holte sich der zum Geistlichen bestimmte, durch ganz hervorragende Verstandesanlagen ausgezeichnete Jüngling in Schaffhausen (1836–38), wohin die studirenden jungen Glarner zur Vorbereitung auf die Hochschule zu jener Zeit mit Vorliebe geschickt wurden. Die Universitätsstudien führten ihn nach Basel, Bonn und Berlin und schließlich nach Zürich. Daß er sich als Student auch in weiteren [745] Kreisen Geltung und Ansehen zu verschaffen wußte, beweist seine Wahl zum Sprecher der Berliner Studentenschaft bei einem Fackelzuge, welcher dem bekannten Schüler Hegel’s, Professor Marheineke, gebracht wurde. Das theologische Examen bestand T. mit Auszeichnung in St. Gallen, wohin seine Eltern inzwischen übergesiedelt waren. Die freie Zeit während und unmittelbar nach der Studienzeit bis zum Antritte der Pfarrei Lichtensteig im Toggenburg (1843) wurde zu Reisen nach Belgien, Holland, Nord- und Ostdeutschland und Oberitalien verwendet, von denen der nach allen Seiten scharf um sich blickende junge Mann reiche Schätze der Beobachtung mit nach Hause brachte.

Schon im J. 1847 zog sich T. gänzlich vom Predigtamte zurück. Gesundheitsrücksichten ließen es wünschbar erscheinen, und die Verheirathung mit einer Tochter aus reicher St. Gallischer Kaufmannsfamilie hatte die Möglichkeit geschaffen. Ein idyllisch gelegenes Landgut in der Nähe der lebhaften Handelsstadt wurde angekauft, und hier wandte sich T. in glücklicher Muße der Schriftstellerei zu, für die er eine geradezu glänzende Begabung entfaltete. Zunächst überraschte er die Oeffentlichkeit mit einer pseudonymen Schrift: „Der Sonderbund und seine Auflösung“ (December 1847). Die unmittelbar nach der Niederwerfung des Sonderbundes erschienene, also während der Ereignisse selbst und in der Zeit der leidenschaftlichsten Aufregungen niedergeschriebene, 71/2 Bogen starke Broschüre des angeblichen Dr. C. Weber verrieth[WS 1] eine so staunenswerthe Sicherheit und Unbefangenheit des Urtheils, einen solchen kühlen Scharf- und Weitblick über Entstehung, Verlauf und richtige Lösung der großen Krise, daß sie in acht Tagen vergriffen war; schon im Januar 1848 konnte das Vorwort zu einer neuen Auflage geschrieben werden. Mit dieser Broschüre hatte sich der privatisirende Geistliche als künftiger Staatsmann legitimirt. Bei der vornehmen Zurückhaltung, die in seiner Natur lag, dauerte es indeß noch geraume Zeit, bis ihn seine Mitbürger zu denjenigen Aemtern beriefen, welche dem Begabten den Weg zu den leitenden Stellen im öffentlichen Leben der Republik eröffnen. Für einmal blieb ihm noch reichliche Muße zu eindringenden Studien auf verschiedenen Gebieten und zur Betheiligung an Zeitschriften und litterarischen Unternehmungen theologischen, kritischen und belletristischen Charakters. Mit Pfarrer Bitzius – bekannter unter dem Schriftstellernamen „Jeremias Gotthelf“ – und A. E. Fröhlich verband er sich 1849 zur Herausgabe der „Neuen Illustrirten Zeitschrift für die Schweiz“, die es leider nur auf wenige Jahrgänge brachte. Die reifste und schönste Frucht dieser schriftstellerischen Thätigkeit war aber das in seiner Art classische Werk: „Das Thierleben der Alpenwelt“, welches im J. 1853 in erster Auflage erschien und den Namen seines Verfassers in kurzer Zeit über die ganze gebildete Welt trug. Während der Vorarbeiten zu diesem Meisterwerke ist ohne Zweifel in dem Kopfe Tschudi’s auch der Plan zu dem Reisehandbuch gereift, welches der Bruder Iwan (geboren am 19. Juni 1816 in Glarus, † am 28. April 1887 als Buchhändler in St. Gallen) unter dem Titel „Der Schweizerführer“ zwei Jahre später in erster Auflage erscheinen ließ und das im laufenden Jahre unter dem veränderten Titel „Der Turist in der Schweiz“ seine 33. Auflage erlebt hat. – Später wandte sich T. als Schriftsteller mit Vorliebe der Landwirthschaft zu. Von den höchst verdienstlichen Veröffentlichungen auf diesem Gebiete sind vor allem zu erwähnen das „Landwirthschaftliche Lesebuch“, die Flugschrift über „Die Vögel und das Ungeziefer“ und die im Jahrbuch des schweizerischen Alpenclubs veröffentlichten „Alpwirthschaftlichen Streiflichter“. Die äußere Frucht der landwirthschaftlichen Studien und Arbeiten war die Wahl zum Vorstand der kantonalen und schweizerischen landwirthschaftlichen Gesellschaft; und daß die St. Gallische Section des schweizerischen Alpenclubs nicht bloß ihre Gründung auf den Verfasser des Thierlebens der Alpenwelt [746] zurückführt, sondern sich auch vom ersten Anfang unter seine erfahrene Leitung gestellt hat, wird man fast als selbstverständlich betrachten.

Inzwischen hatte zuerst die Stadt Gallen den rasch bekannt gewordenen Schriftsteller in ihre Schulbehörde gewählt; dann war der Regierungsrath mit der Wahl in den kantonalen Erziehungsrath gefolgt. Als Mitglied der letzteren Behörde stand T. beim Kampfe um die Gründung einer für beide Confessionen gemeinsamen Kantonschule und eines gemeinsamen Lehrerseminars in vorderster Reihe. Erst 1864 öffneten sich ihm die Thüren der kantonalen gesetzgebenden Behörde oder des Großen Rathes und damit auch die Möglichkeit einer Candidatur für die Kantonsregierung, die damals noch von dem Großen Rathe aus seiner Mitte gewählt wurde. Vier Jahre später war das Ziel erreicht, das sich T. gewiß schon längst im Stillen vorgesetzt hatte: er sah sich als Mitglied des Regierungsrathes und Chef des Erziehungsdepartements des Kantons St. Gallen. Unter schwierigen Verhältnissen und steten Anfechtungen von ultramontaner Seite hat er in dieser Stellung Bedeutendes geleistet und nicht immer Dank dafür geerntet. Mußte er doch erfahren, daß ihn seine eigene Partei vorübergehend (1873–75) wieder aus der Regierung beseitigte, weil er in seiner wohl abwägenden, überlegten Weise dem Eifer jugendlicher Parteigenossen für die Durchführung der rein bürgerlichen Volksschule im Kanton St. Gallen nicht kräftig genug einzustehen schien. Als aber, wie vorauszusehen, auch jener Jugendeifer die im Wege liegenden Hindernisse nicht zu bewältigen vermochte, sah man sich bald genug wieder nach T. um und war froh, als er sich bereit fand, die Leitung des Erziehungsdepartements neuerdings zu übernehmen. Das Gefühl der dem erfahrenen und verdienten Staatsmanne zugefügten Unbill hat ohne Zweifel wesentlich dazu beigetragen, daß ihn der Große Rath nun auch zum Vertreter des Kantons St. Gallen in den schweizerischen Ständerath wählte (1877). Das Ansehen, das er sich alsbald auch in dieser Stellung erwarb, führte ihn weiter in den eidgenössischen Schulrath für das schweizerische Polytechnikum (1880) und als Vertreter der Schweiz an die Weltausstellung nach Wien (1883), wo ihm das Vicepräsidium der Jury für Kunst und Unterricht übertragen wurde.

Während einer Sitzung der Bundesversammlung traf den unermüdlichen Arbeiter im Frühjahr 1885 zu Bern ein Schlaganfall, der ihn nöthigte, seine Aemter niederzulegen. Am 24. Januar 1886 verschied er auf seinem Landgute bei St. Gallen.

Was wir T. nachrühmen, ist ein durchdringender Verstand, eine ungewöhnliche Arbeitskraft, eine seltene Vielseitigkeit gründlicher Kenntnisse, vor allem aber ein außerordentliches Geschick, diese Kenntnisse in klarer und allgemein verständlicher, dabei immer edler und ansprechender Form zur Darstellung zu bringen. Als Beamter und Staatsmann hat er sich um sein Land verdient gemacht; als im besten Sinne des Wortes volksthümlicher Schriftsteller darf er den ersten an die Seite gestellt werden.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verieth