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ADB:Tscharner, Johann Friedrich von

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Artikel „Tscharner, Johann Friedrich von“ von Fritz von Jecklin in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 708–710, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tscharner,_Johann_Friedrich_von&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:29 Uhr UTC)
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Tscharner: Johann Friedrich v. T., geb. am 16. September 1780, † am 4. December 1844, verlebte als zweitältester Sohn des Bürgermeisters Joh. Bapt. T. seine erste Jugendzeit im Vaterhause zu Chur, kam im sechsten Jahre in eine von seinem Vater gegründete Privatanstalt in Jenins und 1798 in das ebenfalls von seinem Vater wieder ins Leben gerufene Philanthropin in Reichenau. 1797 bezog T. zusammen mit seinem Bruder Johann Bapt. die Universität Erlangen, um nach dem Willen seines Vaters in allen wichtigen Zweigen des menschlichen Wissens unterrichtet zu werden. Nach dreijähriger Studienzeit kam der elterliche Befehl zur Heimkehr und zum Eintritt in ein Handlungsgeschäft in Zürich. Schon 1801 zog er es vor, nach Chur zurück zu kehren, um zunächst hier in der Nähe seiner Eltern, später in Livorno, im kaufmännischen Fache thätig zu sein. Die ihm an letzterem Orte gebotene freie Zeit gebrauchte er zum Studium von Kunst und Wissenschaften, sowie zur Beobachtung von Staatseinrichtungen, Sitten und Gebräuchen des Landes. Um sich nun ganz seiner Ausbildung in den schönen Künsten widmen zu können, reiste T. mit einem Gesinnungsgenossen über Florenz nach Rom, wo sich die Freunde ein Haus mietheten und bald mit hervorragenden Persönlichkeiten, wie z. B. Thorwaldsen, in innigen Gedankenaustausch traten. Im Herbste nach Chur zurückgekehrt, begann für T. mit dem Eintritt in die Handelscommission die öffentliche Wirksamkeit.

Die politische Laufbahn fiel in eine sehr sturmbewegte Zeit. Mit Napoleon’s Sturz wurde auch die von ihm geschaffene Mediation unmöglich. In Graubünden behandelte die Verfassungsfrage der Große Rath, der durch kleinräthliche Proclamation vom 27. December 1813 auf den 4. Januar 1814 zusammen berufen wurde und an welchem T. als Deputirter der Stadt Chur theilnahm. Die Vermittlungsacte wurde sofort aufgehoben und ein Theil des Rathes verlangte Wiederannahme der alten Verfassung, wie solche vor 1792 bestanden hatte. Als die Versammlung, durch eine bewaffnete Bauernschaar von 300 Mann eingeschüchtert, trotz tapferer Gegenrede Tscharner’s diesen Antrag annahm und diese Beschlußnahme durch Graf G. von Salis den fremden Gesandten mitzutheilen beschloß, erklärte T., er habe laut erhaltener Instruction für Aufhebung der Mediation gestimmt; alles Weitere aber, was die Versammlung gethan, müsse er, als durch offenbare Gewalt erzwungen, somit ungültig und kraftlos ansehen. T. nahm dann sofort seinen Abschied und reiste mit einer Anzahl Gleichgesinnter am nämlichen Tage nach Zürich, um die fremden Minister vom wahren Thatbestande zu überzeugen. In Zürich war zur Zeit die eidgenössische Versammlung beieinander, deren Mitglieder durch T. von den bündnerischen Verhältnissen ebenfalls unterrichtet wurden. In Basel galt es, die Alliirten vor einseitigen Einflüsterungen zu bewahren; dieselben gaben dann auch thatsächlich T. gegenüber die entschiedenste Mißbilligung des Vorgefallenen zu erkennen, mit beigefügter Erklärung, daß von Seite der hohen Mächte keinerlei Aufträge im Sinne des Geschehenen ertheilt worden; dieselben wollten nichts anderes, als daß Ruhe, Friede und Ordnung und eine dem Volke genehme Verfassung hergestellt würden. Unter diesem wohlthätigen Einfluß der fremden Mächte kam [709] unterdessen eine schweizerische Bundesverfassung zu Stande, die ihrerseits wieder den Zeitumständen angepaßte Kantonsverfassungen erheischte.

In den bündnerischen Verfassungsrath wurde auch T. gewählt, der durch seine vielseitige gründliche Bildung zur gedeihlichen Erledigung der schwierigen Aufgabe wesentlich beitrug. Der ausgearbeitete Verfassungsentwurf wurde am 3. September an die Gemeinden ausgeschrieben und durch eine Gesandtschaft, zu. welcher T. auch wieder abgeordnet wurde, den fremden Ministern vorgelegt. Als 1814 der Wiener Congreß zusammentrat, um die politischen Verhältnisses Europas neu zu regeln, war T. von den Kantonsbehörden als Abgesandter ausersehen, damit er in Wien die Ansprüche Bündens auf die ehemaligen Unterthanenlande geltend mache. T. glaubte hierzu nicht geeignet zu sein und lehnte den ehrenvollen Auftrag ab, ging aber an die Tagsatzung nach Zürich, die während der ganzen Dauer des Wiener Congresses versammelt blieb.

Als 1817 Graubünden, das damals noch von den großen Weltmärkten Italiens und Oesterreichs abgeschlossen war, von einer furchtbaren Hungersnoth heimgesucht wurde, reifte in T. der Plan einer kunstgerechten Straßenverbindung mit dem Süden. Die Ausführung dieser Idee stieß anfangs auf ungeahnte Schwierigkeiten. Ein den Verhältnissen angemessenes Staatsbudget gab es nicht, ebenso wenig ein Expropriationsgesetz; und dennoch sollte der Kanton, ohne Staatsvermögen, ohne belangreichen Handel und Industrie, ohne technisch gebildete Ingenieure, ohne Unterstützung seitens der Mitstände Bergstraßen bauen.

Tscharner’s Scharfsinn und Thätigkeit wußte im Verein mit einer Anzahl gleichgesinnter Männer alle diese Schwierigkeiten zu überwinden, er verstand es, die Speditionsgeschäfte, die Gemeinden und Landesregierung für das Unternehmen zu gewinnen, das jenseits der Berge anfangs für den St. Bernhardin und später – der Concurrenz wegen – auch für den Splügen an der sardinischen und österreichischen Regierung eine finanzielle Unterstützung fand. Die Ausführung dieser beiden Straßen sicherte dem Kanton auf lange Zeit einen einträglichen Transithandel. Mit dem Jahre 1831 beginnt für T. eine Wirksamkeit, die ihm ein ehrendes Denkmal in der Geschichte gesetzt, ihm aber auch viel Kummer und Enttäuschung gebracht hat. Die Julirevolution Frankreichs trug ihre Wellen bis in die Schweiz, woselbst hauptsächlich in Basel eine politische Erschütterung stattfand, die schließlich zur Trennung von Basel Stadt- und Land führte. T., der vom Bündnervolk in dieser sturmbewegten Zeit zur Tagsatzung abgeordnet worden war, wurde, nachdem die bisherigen eidgenössischen Repräsentanten ihre Demission erhalten hatten, als Nachfolger bezeichnet mit dem Auftrage, „öffentliche Ruhe und gesetzliche Ordnung im Kanton Basel zu handhaben, die Wirkungen und Verfügungen des dortigen Großen Rathes zu beobachten, und auf Versöhnung, Beruhigung und Hebung der obwaltenden Umstände nachdrücklich hinzuwirken“. T. seinerseits ging vom Grundsatz aus, „die Eidgenossenschaft müsse und wolle die unter eidgenössischer Gewährleistung angenommene neue Verfassung dieses Standes auch wirklich mit allen bundesgemäßen Mitteln aufrecht erhalten und handle es sich nur darum, allfällig begründeten einzelnen Beschwerden der Unzufriedenen Abhülfe zu schaffen“. Andrerseits frug es sich aber auch, „ob sich die Eidgenossenschaft verbunden glaube und infolge dessen entschlossen sei, die dermalige Staatsverfassung von Basel als anerkannt und gewährleistet zu handhaben, oder nicht?“ Letzteres schien thatsächlich nicht der Fall zu sein, denn im December 1831 suchten die Commissäre um ihre Entlassung nach und es bemerkte T. in seinem bezüglichen Schreiben: „In seiner Stellung als eidgenössischer Repräsentant müsse es für ihn besonders peinlich sein, wenn der Grundsatz, von dem sein College und er fortwährend ausgegangen, und von welchem sie namentlich ihre Stellung zu der [710] Regierung von Basel beurtheilt hätten, mit den Gesinnungen eines Theils der Bundesversammlung nicht im Einklang stehen sollte.“

Die nachgesuchte Entlassung wurde beiden gewährt; doch wurde T. wieder gewählt, ihm aber ein anderer Gefährte beigegeben.

Das stramme Festhalten Tscharner’s am gesetzlichen Boden schuf ihm, namentlich in der radicalen Presse, viele Feinde. Auf die wider ihn aufgebrachten Verdächtigungen antwortete er: Im J. 1814 hielt ich, selbst mit Gefahr des Lebens und der Ehre, an der beschworenen Mediationsacte fest, bis sie factisch nicht mehr vorhanden war; und dafür hieß ich damals ein Jacobiner. Im J. 1831 und 1832, und solange sie immer bestehen wird, halte ich, unbeschadet seiner möglichen und wünschbaren Vervollkommnung, ebenso fest an dem gleichfalls beschworenen Bunde von 1815, und heiße gegenwärtig Aristokrat.“ Als die Bestimmung der Nachfolger in Frage kam, fiel, trotz aller Anstrengungen seiner politischen Gegner, die Wahl des einen Commissärs auf T., der die schwierige Stelle gerade deswegen annahm, weil er die geheimen Umtriebe niederschlagen und helfen wollte Basel aus seiner schwierigen Lage zu retten. Bei ihrer Ankunft in Basel verlangten die Commissäre sofort, daß beide Theile alle außerordentlichen militärischen Bewaffnungen niederlegen sollten, welcher Aufforderung die Stadt sofort, die Landschaft dagegen nur gezwungen und mit Haß gegen T. Folge leistete. Neuerdings beschwerte sich Letztere gegen ihn und verlangte dessen Abberufung. Als dann vollends die Tagsatzung Rückzug der eidgenössischen Truppen anordnete, da begehrte T. ersetzt zu werden. Welches Zutrauen er sich in der Stadt Basel erworben hatte, geht daraus hervor, daß er, nach stattgehabter Trennung der beiden Kantonstheile, von der Stadt als Commissär für Theilung des Staatsvermögens ernannt wurde, welche Aufgabe er auch übernahm und glücklich zu Ende führen half. Baselstadt war ihm für die geleisteten Dienste sehr erkenntlich. Der Große Rath beehrte ihn mit einer Dankesurkunde, die Universität ernannte ihn zum Doctor der juristischen Facultät. In der Folgezeit zog sich T. mehr und mehr von einem weiteren Wirkungsfelde zurück und widmete sich mit gewohnter Tüchtigkeit den Geschäften seiner Vaterstadt, allwo er in vielen Behörden und Commissionen saß.

Aus Tscharner’s reichhaltigem litterarischen Nachlaß sind Abhandlungen über Religion, Philosophie, Recht, Politik, außerdem eine noch heute sehr werthvolle historische Uebersicht der Staatsgeschichte Graubünden’s vorhanden. Von T. selbst ist Folgendes erschienen: „Italien. Herausgegeben von zwei reisenden Deutschen: P. J. Rehfues und Johann Friedrich Tscharner“, 1803. – „Ueber das Transitwesen in Graubünden“, 1808. – „Verhandlungen über die Theilungsfrage der Universität Basel“, 1834–1836. – „Denkschrift über die Anstalt der Straßenprämien auf den neuen Handelsstraßen des Cantons Graubünden“, 1841.

V. v. Planta, Joh. Friedr. v. Tscharner’s Leben u. Wirken. Chur 1848.