ADB:Thilo, Wilhelm
[38] Lehrer begann er seine Wirksamkeit in dem Erziehungsinstitute des Pastors Kranz zu Dittmannsdorf bei Waldenburg i. Schl., wo er so lange blieb, bis der Tod des Vorstehers die Auflösung der blühenden Anstalt herbeiführte. Th. lebte nun wieder längere Zeit im elterlichen Hause, mit theologischen und pädagogischen Arbeiten beschäftigt, um sich für das akademische Lehramt vorzubereiten, fand aber 1833 Gelegenheit, sich im Breslauer Schullehrerseminar, wo er zur Aushülfe verwandt wurde, als Lehrer zu versuchen. Dabei erwachte in ihm das Bestreben, sich ganz in den Dienst der Schule, vor allem der Lehrerbildung zu stellen, und nachdem er mit einer Unterstützung des Ministers in dem von Diesterweg geleiteten Seminar für Stadtschullehrer zu Berlin und mehreren andern Schulanstalten in Berlin, Neuzelle, Dresden und Bunzlau hospitirt hatte, um namentlich einen gründlichen Einblick in das Wesen des Seminarunterrichts zu gewinnen, erhielt er 1835 eine Oberlehrerstelle am Seminar zu Breslau, die er Ostern 1836 mit einer gleichen am Seminar zu Potsdam vertauschte. In dieser Stellung verheirathete er sich mit einer Tochter Adolf Diesterweg’s, dessen Hochschätzung er sich trotz aller Verschiedenheit der Ansichten, zumal auf religiösem und pädagogischem Gebiete, zu erwerben gewußt hatte. Im Juli 1840 wurde ihm das Directorat des Schullehrerseminars zu Erfurt und des damit in Verbindung stehenden Taubstummen-Lehr- und Erziehungsinstituts übertragen, das ihn in vielfache Berührung mit dem Propst Zerrenner, einem damals hochgeschätzten Schulmanne, brachte. Im J. 1853 ward er als Director an das Seminar für Stadtschullehrer nach Berlin berufen, dem er bis zu seiner Pensionirung im Sommer 1869 vorstand. – Eine hochgebildete, geistvolle, stets anregende Persönlichkeit voll treffenden, immer bereiten Witzes, mit einer seltenen Auffassungsgabe, einer Fülle gründlichsten und gediegensten Wissens ausgestattet, auf jedem Gebiete der Pädagogik heimisch, in seinen Forderungen gegen sich und andere unerbittlich streng, mit reichem organisatorischen Talent begabt, hätte Th. ein ausgezeichneter Lehrer und Director werden können, wenn nicht gewisse Eigenthümlichkeiten seines Wesens seine Erfolge beeinträchtigt hätten. Die Gabe, im persönlichen Verkehr auszugleichen und zu vermitteln, ging ihm ab, und so gelang es ihm nicht, in seinem Lehrercollegium fortgesetzt die Einigkeit und Gemeinsamkeit herzustellen und zu erhalten, die nun einmal das erste Erforderniß zum Gedeihen einer Anstalt ist, welche zukünftige Lehrer bilden soll. Der Sarkasmus gegen Zöglinge, die in ihren Leistungen seinen Anforderungen nicht genügten, verbitterte jene nicht selten und verleidete ihnen die Arbeit an sich und ihren Schülern, und selbst offenbare Beweise väterlicher Fürsorge, wirklichen Wohlwollens und milderen Urtheils konnten die einmal eingewurzelten Eindrücke nicht wieder völlig verwischen. Auch der Unterricht selbst war bei Th. nicht frei von Mängeln. Nicht selten überschätzte er den geistigen Standpunkt seiner Schüler, sprang im Eifer auf Gebiete über, wo jene seinen Ausführungen nicht mehr zu folgen vermochten, verweilte bei Lieblingsgegenständen länger, als eine weise Oekonomie der Zeit erlaubt hätte, und konnte dann wichtigen Dingen nur eine flüchtige Behandlung zu theil werden lassen. Nicht wohl zu rechtfertigen war auch die Kritik von Personen und Büchern, die ihm unbequem waren. Die Form des entwickelnden Unterrichts sagte ihm nicht besonders zu; viel lieber trug er in zusammenhängender Rede vor, der es allerdings an geistreichen und treffenden Bemerkungen nicht fehlte, die nun aber einmal nicht zur Regel werden darf in einer Lehranstalt, wo der Zögling im Gebrauch der Unterrichtsformen auszubilden ist, die er später in der Praxis anwenden soll. Vorzüglich begabte und eifrig strebende Zöglinge, welche durch Privatfleiß Lücken des Unterrichts ergänzten und an dem Vorbilde anderer Lehrer die Unterrichtstechnik sich aneigneten, wurden bei Th. zu trefflichen Lehrern und danken seinen Anregungen [39] viel, andere verkannten das Wesen des Unterrichts, nicht ganz ohne seine Schuld, und gewöhnten sich, gewisse Dinge als „pädagogische Pedanterien“ zu mißachten, ohne die es nun einmal beim Unterricht, zumal der Kleinen, nicht geht. Viel Anfechtung mußte Th. erleiden, weil es ihm nicht gelang, in ein näheres Verhältniß zur Lehrerwelt an den Orten seines Wirkens zu gelangen; dies Verhältniß war ein kühles, zu Zeiten geradezu ein feindliches, wenngleich gesagt werden muß, daß in dieser Beziehung Mißverständnisse die Hauptschuld trugen, und daß vor allem die geistige Gegnerschaft gegenüber Diesterweg von Thilo’s Widersachern auf das persönliche Gebiet übertragen wurde. Trotz alledem gehört Th. zu den hervorragendsten Schulmännern seiner Zeit, und nicht unverdient ist das Lob, welches ihm einer seiner Vorgesetzten (Karl Bormann) in einem Nachrufe spendete: „Seine Zöglinge wußte er, fest stehend auf dem Grunde des göttlichen Wortes, mit klarer Einsicht in die göttliche Heilsordnung, mit Begeisterung für ihren Beruf und mit Liebe für das Vaterland zu erfüllen.“ – „Weder entgegengesetzte Strömungen der Tageslitteratur, noch das Geräusch aufgeregter Parteien, am allerwenigsten Schmähungen und persönliche Angriffe vermochten ihn aus den Reihen der Vorkämpfer für die Förderung patriotischer Gesinnung zurückzudrängen.“ Daß es ihm gelang, selbst nach dem Erscheinen der „Regulative“ (1854) dem Berliner Seminar für Stadtschullehrer eine eigenartige Stellung zu bewahren, ist ihm stets als hohes Verdienst angerechnet worden.
Thilo: George Wilhelm Moritz Th., geboren am 13. Januar 1802 zu Striegau als Sohn des dortigen Superintendenten und Pastors prim., † am 17. Februar 1870 zu Berlin als ehemaliger Director des königl. Seminars für Stadtschullehrer. Nach sorgfältiger Erziehung in dem grundevangelischen Pfarrhause kam Th., der schon früh eine hervorragende geistige Begabung verrieth, 1814 auf das Gymnasium zu Schweidnitz und widmete sich von Ostern 1819 in Breslau dem Studium der Theologie. Dem heiteren Studentenleben blieb er nicht fern, versäumte dabei aber die ernsten Studien nicht, die durch ein erstaunliches Gedächtniß und rastlosen Fleiß außerordentlich gefördert wurden. Seine theologischen Prüfungen legte er 1824 und 1826 ab, predigte auch in Vertretung seines alternden Vaters mehrmals in seiner Vaterstadt, wandte sich dann aber mit aller Kraft dem Schulfache zu. Daß er darum der Kirche nicht fremd wurde, wenn er sich auch selbst oft scherzend einen „verdorbenen Theologen“ nannte, bezeugt das Interesse, welches er der Entwicklung der theologischen Wissenschaft und der evangelischen Kirche bis zu seinem Ende entgegenbrachte und bei verschiedenen Anlässen in Rede und Schrift bethätigte. AlsAuf den Gebieten der Pädagogik, Theologie und Hymnologie ist Th. in langem, arbeitsreichem Leben als Schriftsteller thätig gewesen. Immer bietet er als solcher die Frucht sorgsamen Fleißes und ernster Gedankenarbeit, stets fesselt er durch originelle Auffassung, durch eine Fülle treffender Bemerkungen, durch Gedankenschärfe und schlagende Beweisführung, aber, wie ihm die Gabe der in schönem Flusse dahinströmenden mündlichen Rede versagt war, so ist sein Stil hart, eckig, überladen, nicht selten manierirt.
Außer vielen Artikeln in Schmid’s „Encyklopädie“, in Diesterweg’s „Rheinischen Blättern“, in Otto Schulz’ „Schulblatt für die Provinz Brandenburg“, im „Berliner evang. kirchl. Anzeiger“, in den „Berliner Blättern für Schule und Erziehung“ (1860–66, red. von Ed. Bonnell, Mor. Fürbringer, W. Thilo) u. a. O. veröffentlichte er auch eine Reihe selbständiger Schriften. In „Spener als Katechet“ (1840) empfiehlt er die fleißige Uebung der Katechese an Kindern und Erwachsenen als ein Band, welches Kirche und Schule an einander zu knüpfen und bei den Ungebildeten mehr als die Predigt zu fruchten vermöge. Als ein Meister der Katechese erscheint ihm Spener. Gerade diese Schrift lenkte die Aufmerksamkeit des Ministers v. Altenstein auf ihren Verfasser und hatte dessen Berufung nach Erfurt zur Folge. – Eine höchst werthvolle Arbeit, welche die Bedeutung des geistlichen Liedes für die Schule und seine Stellung in dieser erschöpfend würdigt, ist „Das geistliche Lied in der evang. Volksschule Deutschlands“ (1842; 2. Aufl. 1855). Hier wird zum ersten Mal darauf hingewiesen, daß es sich bei dem Kirchenliede nicht nur um kirchliche, sondern auch um nationale Schätze handle, und das ein Volk die Pflicht habe, nicht nur die erworbenen Schätze des Wissens zu conserviren, sondern auch die Schätze, in denen die eigenthümliche Empfindungsweise einer Nation zum Ausdruck kommt. – Von den „Reden und Gesängen bei Pestalozzi’s Säcular-Geburtstagsfeier im königl. Seminar zu Erfurt“ (1846) sind namentlich „Pestalozzi’s Gemüthstiefe“ und „Die Lebenskeime, welche Pestalozzi im Herzen der deutschen Volksschullehrer geweckt hat“ werthvoll, in welchen beiden Aufsätzen die Verdienste des großen Schulreformators in beredten Worten und mit herzerfrischender Wärme ans Licht gestellt werden. – Wenig umfangreich, aber voll trefflicher Gedanken ist „Der Bibelspruch im Dienste des Religionsunterrichts in der evang. Volksschule und Lehrerbildungsanstalten“ [40] (1846), ein Büchlein, das zur Auslegung, Anwendung, zum Erlernen, Ueben und Wiederholen des Spruches vorzügliche Anleitung gibt, die Schwierigkeiten bei der Spruchbehandlung erörtert und den reichen Nutzen dieser, wenn sie in richtiger Weise geschieht, darlegt. – „Was ihrer dreiundzwanzig vorhaben gegen die christliche Volksschule Preußens“ (1848) richtet sich gegen einen Gesetzentwurf über das preußische Schulwesen, worin u. a. Unabhängigkeit der Schule von der Kirche und gemeinschaftlicher Religionsunterricht für alle Confessionen gefordert wurde, während der confessionelle ausgeschlossen sein sollte. Namentlich gegen diese beiden Forderungen wandte sich Th. und zwar mit einer Erbitterung und Heftigkeit, welche dem Werthe seines sonst mit Geschick und Wärme geschriebenen Buches Eintrag thun mußten. Th. beschuldigt die 23 (darunter Diesterweg und Harkort) geradezu, „an den Grundfesten christlicher Ordnung nicht schwächer zu rütteln als der Socialist Monsieur Proudhon in Paris, der vom 6. und 7. Gebote nichts wissen will“. Diesterweg’s Antwort (Rhein. Bl. 38, S. 281–308) schlug einen nicht minder kräftigen Ton an, aber zu einem wirklichen Abschlusse gedieh die Angelegenheit nicht, denn die preußische Nationalversammlung, an welche die Vorschläge der 23 gerichtet waren, wurde aufgelöst, und nach Einführung der Verfassung legte sich die Sturmfluth von Schriften über Reform der Schule für lange Zeit. – In „Pädagogischer Sinn und politisches Treiben“ (1849) sucht Th. den Nachweis zu erbringen, „daß der pädagogische Sinn durch politisches Treiben in der Erfassung, Würdigung und Behandlung seiner Berufsaufgabe beirrt und behindert werde“. Ein Seitenstück zu diesem Schriftchen war „Die Beredsamkeit auf dem Lehrerparlament zu Eisenach“ (1848), voll beißenden Witzes. – Fleißige Arbeiten sind: „Thüringens evangelische Kirchen-Liederdichter und Kirchen-Musiker in synchronistischem Ueberblick“ (1848), „Ludwig Helmbold [1532–98] nach Leben und Dichten“ (1851; 2. Aufl. 1856), „Ludämilia Elisabeth, Gräfin von Schwarzburg-Rudolstadt, ein Beitrag zur Geschichte der geistlichen Dichtung im 17. Jahrhundert“ (1855), „Cithara Lutheri zum Katechismus oder Spangenberg’s Predigten über Luther’s Katechismuslieder“ 1855). „Melanchthon im Dienste an heiliger Schrift“ (1860), „Luther oder Spengler?“ (1860), worin Th. den Nachweis erbringt, daß Luther der Dichter des Liedes „Vergebens ist all Müh und Kost“ ist, die „Geschichte der Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft in ihrem ersten Halbjahrhundert 1814–64“ (1864), endlich „Preußisches Volksschulwesen nach Geschichte und Statistik“ (1867).