ADB:Struve, Theodor
Jacob St. zu Altona (s. d.), Stadtphysikus war. Nachdem sein Vater am 25. Januar 1822 mit Hinterlassung von vier unmündigen Kindern gestorben war, wurde Jacob Theodor von dem Bruder seines Vaters Ludwig (s. d.), damals prakt. Arzt in Elmshorn, adoptirt. Als nun bereits im nächsten Jahre 1823 Ludwig St. als Professor der Klinik an die Universität Dorpat berufen wurde, so ging Theodor mit. Hier war Theodor eben 1827 in das Gymnasium eingetreten, als bereits 1828 sein Adoptivvater Ludwig starb. Des zum zweiten Mal verwaisten 12jährigen Knaben nahm sich der andere in Dorpat befindliche Oheim Wilhelm St., Professor der Astronomie, in brüderlicher Liebe an und erzog ihn mit seinen Kindern. Theodor St. hat niemals vergessen, wie viel er diesem Onkel Wilhelm zu danken hatte; – er hat wiederholt betont, daß der Aufenthalt im Hause seines Oheims auf seine geistige und sittliche Entwicklung, sowie auf seinen Lebenslauf von entscheidendem Einfluß gewesen ist. – Nachdem Theodor das Dorpater Gymnasium bis zum Juli [692] 1832 besucht und die Abiturientenprüfung bestanden hatte, wurde er in der zweiten Hälfte des Jahres 1832 als Stud. philologiae an der Universität zu Dorpat immatriculirt. Während der Studienzeit hörte er insbesondere die Vorlesungen des schon bejahrten Professors Morgenstern, sowie des damals noch jugendlichen Professors Neue. Als Cand. philolog. verließ er im J. 1837 Dorpat, und ging, einer freundlichen Einladung seines Onkels Karl (s. d.), des Gymnasialdirectors, folgend, nach Königsberg i. Pr. Hier konnte er nur kurze Zeit den anregenden Verkehr seines Oheims genießen; denn bereits im nächsten Jahre 1838 starb Karl St. Theodor St. hat durch Herausgabe der „Opuscula selecta Caroli Ludivici St.“ (2 Bände, Lipsiae 1854) dem Onkel ein bleibendes Denkmal gesetzt. Nachdem er im Jahre 1839 nach Rußland zurückgekehrt war, wurde er zuerst Lehrer am Gymnasium zu Dorpat, bis 1842, dann erwarb er sich an der Universität zu Petersburg den Grad eines Magisters der Philologie (Diss. „Emendationes in Quinti Smyrnaei Posthomerica“, Petropoli 1843), verließ aber bald Dorpat und wandte sich nach Kasan. Hier wurde er neben seiner Stellung als Gymnasiallehrer noch an der Universität Privatdocent, zuletzt erlangte er in St. Petersburg den Grad eines Doctors der Philologie, 1846 (Dissertatio: „De argumento carminum epicorum quae res ab Homero in Iliade narratae longius prosecuta sunt;“ pars I, Petropoli 1846). Der zweite Theil erschien 1850 in Kasan. Im J. 1852 zum außerordentlichen, im J. 1855 zum ordentlichen Professor, anfangs der römischen Sprache und Litteratur, später auch der griechischen Sprache, ernannt, wirkte er hier mit Erfolg bis zum Jahre 1862. Als aber aus unbekannten Ursachen sich zwischen St. und seinen Zuhörern unangenehme Verhältnisse entwickelten, fühlte er sich veranlaßt, seine Stellung an der Universität aufzugeben. Er ging zuerst nach Petersburg und ertheilte hier eine kurze Zeit beim dritten Gymnasium Unterricht im Lateinischen, dann siedelte er nach Dorpat über, um sich der Erziehung seiner Kinder zu widmen. Als in Odessa eine Universität gegründet wurde, ließ er sich daselbst 1865 als Professor der griechischen Litteratur anstellen. Jedoch nur 5 Jahre lebte er hier. Er hielt seine Vorlesungen und verwaltete das Münzcabinet und das Museum der Universität, was ihn insonderheit zu archäologischen Studien hinzog. Im J. 1870 mußte er sich, wie es die damaligen russischen Gesetze vorschrieben, einer erneuten Wahl von Seiten seiner russischen Collegen unterwerfen, und da er hierbei nur eine geringe Majorität erhielt, so fühlte er sich dadurch gekränkt, gab seine Professur in Odessa auf und kehrte wieder nach St. Petersburg zurück. Hier übernahm er die Leitung des beim histor.-philolog. Institut bestehenden classischen Gymnasiums und lebte in voller Hingabe an seinen Lehrer- und Forscher-Beruf. Allein früher als es zu erwarten war, trat ein Nachlassen seiner Kräfte ein; er mußte 1876 einen mehrmonatlichen Urlaub zu seiner Erholung nehmen. Als aber 1878 ihn ein Schlaganfall darniederwarf, so mußte er seinen Abschied erbitten. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in Mitau und in Riga, hier starb er am 4. Januar 1886 (22. December 1885 alten Stils), fast 70 Jahre alt. Seine Leiche wurde in St. Petersburg auf dem Friedhof der luth. Michaelis-Gemeinde bestattet. – Er war glücklich verheirathet; seine Töchter sind vor ihm gestorben, ein Sohn lebt als Gensdarmerie-Officier in Riga.
Struve: Jacob Theodor St., namhafter Philolog, wurde am 24. Mai 1816 in Flensburg geboren, woselbst sein Vater Ernst St., der zweite Sohn des GymnasialdirectorsTheodor St. hat außer den bereits genannten Schriften noch folgende verfaßt: „Novae curae in Q. Smyrnaei Posthomerica.“ Casan 1860 et Petropoli 1864 (Memoiren der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, VII. Serie, Bd. VII, Nr. 3). Ferner hat er mehrere archäologische und philologische Abhandlungen in russischen Zeitschriften veröffentlicht, in dem Journal des Ministeriums der Volksaufklärung, in den Schriften der Odessaer Gesellschaft für [693] Geschichte und Alterthümer, in den Schriften der Neurussischen Universität, in den Arbeiten der Moskauer Archäologischen Gesellschaft. In den „Pontischen Briefen“, die Theodor St. während der Jahre 1869–1874 im Rheinischen Museum hat abdrucken lassen, berichtet er in anziehender Weise über archäologische Fragen, die sich mit der alten griechischen Handelscolonie bei Odessa beschäftigen. (Der I. Brief in Bd. XXIV (1868), S. 558–569; II. u. III. Brief Bd. XXV (1870), S. 345–358; IV. Brief Bd. XXIX (1874), S. 65 bis 73.)
Ferner gab St. heraus: die „Opuscula posthuma“ seines früh verstorbenen Kasan’schen Collegen Tschorzewski, dann die „Opuscula selecta“ seines Onkels Karl Ludwig St. in 2 Bänden; ein dritter Band, zu dem die Materialien bereits vorlagen, ist nicht erschienen. (Caroli Ludivici Struvi Opuscula selecta edid. J. Th. Str. Vol. I et II. Lipsiae 1854.) Eine sehr werthvolle, mit ausnehmender Sorgfalt ausgeführte Arbeit. Er hatte auch die Absicht Opuscula posthuma seines verehrten Freundes L. Mercklin, weil. Professor der Archäologie in Dorpat, herauszugeben, doch gelangte dieser Plan aus unbekannten Gründen nicht zur Vollendung.
Ein Zeitgenosse schreibt über Theodor St.: „Was ihn am meisten anzog, war die Bildung der Jugend. Anderen zu dienen war ihm Lebenszweck, daher bot die Schule ihm das ergiebigste Arbeitsfeld. Er fand bei der Jugend Liebe, weil er mit Liebe ihr entgegenkam. Den Unterricht belebte er gelegentlich durch glücklichen Humor, und die Kernsprüche antiker Lebensweisheit wußte er der Jugend vorzuführen, so daß sie im Gedächtniß hafteten und ein Eigenthum für das Leben blieben. Liebe und Pietät bildeten die Grundzüge seiner edlen Natur. Gegen sich war er streng, mild gegen Andere. Jedem Streit, selbst wissenschaftlicher Polemik, ist er sehr abhold gewesen, und auch die höchste geistige Begabung hatte in seinen Augen keinen Werth, wenn nicht mit ihr eine Bildung des Herzens verbunden war. Wer das Glück hatte, ihn genau kennen zu lernen, mußte die Lauterkeit seines Charakters schätzen und lieben.“
- St. Petersburger Deutsche Zeitung, 12./24. Januar 1886, Nr. 12. – Biographisches Jahrbuch für Alterthumskunde, begr. von K. Bursian, herausgegeben von Iwan Müller. Neunter Jahrgang 1886, 2. Abth. Berlin 1887, S. 11–13.