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ADB:Strigel, Viktorin

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Artikel „Strigel, Victorinus“ von Paul Tschackert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 590–594, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Strigel,_Viktorin&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 03:06 Uhr UTC)
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Strigel: Victorinus St., evangelischer Theologe, † 1569. Sein Name wird viel genannt, weil er im synergistischen Streite den Standpunkt Melanchthon’s gegen Flacius vertheidigte und noch über ihn hinausging. Er war indeß kein eigentlicher Streittheologe, sondern wollte als humanistisch gebildeter Denker gegen die manichäisirende Anthropologie der lutherischen Epigonen sittliche Interessen [591] im Sinne Melanchthon’s vertreten. St. stammte aus Schwaben, wo er zu Kaufbeuren am 26. December 1524 geboren wurde. Sein Vater, ein Arzt, Namens Ivo St., hatte 1511–1512 mit Melanchthon, Schnepff, Brenz und anderen in Heidelberg studirt und später Dienste bei dem berühmten Feldobersten Georg v. Frundsberg gethan. Im Alter von 14 Jahren begann Victorin St., sein Sohn, zu Freiburg i. Br. akademische Studien, bezog aber im October 1542 die Universität Wittenberg, um dort Philosophie und Theologie zu studiren. Hier schloß er sich hauptsächlich an Melanchthon an, wurde 1544 zum Magister promovirt und hielt nun selbst philosophische und theologische Vorlesungen. Der schmalkaldische Krieg vertrieb ihn indeß von hier, und nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Magdeburg begann er 1547 in Erfurt Vorlesungen. Durch Melanchthon’s Vermittlung ward er von hier aus nach Jena berufen, um im Auftrage der Söhne des gefangenen Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen eine höhere Schule zu begründen. Am 19. März 1548 traf er an seinem neuen Bestimmungsorte mit 20 Studenten ein, eröffnete an demselben Tage das „Gymnasium academicum“ und begann am 20. März Vorlesungen über Philosophie, Geschichte und später auch über Melanchthon’s Loci theologici. Neben ihm wirkten Joh. Stigel, Erhard Schnepff, Justus Jonas und andere. Da sie alle mit Eifer ihrer hohen Aufgabe oblagen, so kam die Jenenser Schule bald in Blüthe. Von Natur derb und heftig, lebte St. doch mit seinen Collegen auf verträglichem Fuße und fand auch in seinen häuslichen Verhältnissen volle Befriedigung. (1549 hatte er sich mit Barbara, einer Tochter des Kanzlers Franz Burkhardt, nach deren frühem Tode 1553 mit Blandina, Tochter seines Collegen Schnepff, verheirathet.) Aber als begeisterter Anhänger Melanchthon’s wurde er in der neuen Umgebung alsbald in die theologischen Kämpfe hineingezogen, welche nach Luther’s Tode die protestantischen Theologen aufs verderblichste spalteten, und in diesen Streitigkeiten ist sein Lebensglück untergegangen. Vergegenwärtigen wir uns, um seine Schicksale zu verstehen, die Hauptpunkte seiner Lehrweise.

Der wesentlichste Streitpunkt, welcher Strigel’s Namen in der Lehrgeschichte des Protestantismus bekannt erhält, ist die Frage nach dem Verhältniß des menschlichen Willens zur göttlichen Gnade im Vorgange der Bekehrung des Menschen. Luther hatte im Gegensatz zu Erasmus in seiner Schrift de servo arbitrio jede Mitwirkung des menschlichen Willens dabei geleuguet, weil er im Anschluß an die augustinische Gnadenlehre die Bekehrung des Menschen rein als Werk der göttlichen Gnade aufgefaßt wissen wollte, wie dies auch seiner eigenen religiösen Erfahrung entsprach. Indeß die Begründung, welche Luther seiner Lehre gegeben hatte, war schon für Melanchthon der Anlaß gewesen, in diesem Stücke von ihm abzuweichen. Indem er nämlich fürchtete, daß auf Luther’s Standpunkte die Verantwortlichkeit des Menschen für sein eigenes Verhalten nicht genügend gewahrt würde, so daß dessen Lehre in diesem Punkte sittlich bedenklich werden müßte, lehrte er selbst, daß der menschliche Wille sich im Vorgange der Bekehrung mitwirkend verhalte mit der göttlichen Gnade; der Wille des Menschen habe eine facultas applicativa, nämlich die facultas applicandi se ad gratiam. Melanchthon unterscheidet nun drei Factoren der Bekehrung, den heiligen Geist, das Wort Gottes und den menschlichen Willen. Nach dem griechischen Worte synergein wurde diese melanchthonische Lehre Synergismus genannt. Diese Lehre ist es, welche Strigel von seinem Lehrer Melanchthon übernommen hatte und in Wort und Schrift mit Kraft und Begeisterung vertrat. „Der menschliche Wille dürfe bei der Bekehrung nicht unthätig sein, sondern müsse selbst den Gehorsam wollen (velit aliquando obedientiam); der Glaube sei zwar Gottes Geschenk, werde aber nicht den Widerstrebenden, sondern den Hörenden und Zustimmenden gegeben (dari audientibus et annuentibus); das [592] anerschaffene Ebenbild Gottes sei durch die Sünde nicht völlig zerstört und erloschen, sondern in den äußersten Umrissen noch vorhanden (lineamenta extrema remanserunt); geblieben sei wenigstens die vernünftige Menschennatur (remansit, quod homo non nisi rationalis esse potest)“ (Schwarz bei Herzog R.-E., 14², 789). So ist Strigel’s eigene Denkweise eine treue Wiederholung der Gedanken Melanchthon’s.

So lange er nun mit Schnepff in Jena zusammenarbeitete und im Kreise der dortigen Gnesiolutheraner friedlich zu wirken sich genöthigt sah – war doch sein eigener Schwiegervater Schnepff wegen des Interims geflohen, und im Dienste des ernestinischen Hauses sollte nur das reine Lutherthum verkündigt werden! – ließ St. diese eigenthümlich melanchthonischen Gedanken mehr zurücktreten. Das änderte sich aber als 1557 am 27. April Flacius in Jena eintraf. Mit diesem entschiedenen Anhänger Luther’s waren von seiten des Hofes Verhandlungen gepflogen worden, um ihn für eine Jenenser Professur und zugleich für die Stellung eines Obersuperintendenten der Kirche des sächsischen Herzogthums zu gewinnen. Trotzdem St. ihn gebeten haben soll, diesem Rufe nicht zu folgen, da sie beide an einem Orte einander nur im Wege stehen würden, kam er doch. So lange nun Schnepff noch lebte († 1. November 1558), hielten die beiden theologischen Gegner äußerlich leidlich Friede; aber über der Abfassung des Weimarer Confutationsbuches, einer flacianisch-parteiischen neuen Confessionsschrift gegen die philippistische Geistesrichtung, kam es zwischen beiden zum Streit. Als einer der hervorragendsten Lehrer der am 2. Februar 1558 feierlich eröffneten Universität durfte St. trotz seiner Weigerung bei Abfassung des Confutationsbuches nicht fehlen; aber leitender Geist dieser Arbeit wurde doch Flacius. Als dieser bei Artikel 6 des Confutationsbuches eine scharfe Verurtheilung des Synergismus Melanchthon’s verlangte, erklärte sich St. mit der Lehre desselben, wie er sie in seinen Loci theologici von 1544 vorgetragen habe, völlig einverstanden. An diesem Lehrpunkte trat somit der Gegensatz beider Richtungen deutlich hervor; es kam zu heftigen Erörterungen; privatim und öffentlich häuften beide Gegner Anklagen gegeneinander; an die Führer schlossen sich Parteigänger; so war in kurzem die weimarische Kirche in die Parteien der Flacianer und der Philippisten gespalten. Aber mit der Erscheinung des Confutationsbuches im Anfang des Jahres 1559, das unter herzoglicher Genehmigung veröffentlicht wurde, und vom Lande als neues symbolisches Buch aufgenommen werden sollte, ward der Sieg der Flacianer offenkundig. Als daher St. im Februar 1559 ehrerbietig, aber fest in einem Schreiben an den Herzog remonstrirte, wurden vom Hofe Bemühungen gemacht, ihn zum Schweigen zu veranlassen. Als er sich darauf aber nicht einließ, wurde er wie sein Gesinnungsgenosse, Superintendent Hügel, am Morgen des zweiten Ostertages, den 27. März 1559, auf Befehl des Hofes durch Bewaffnete gefangen genommen und erst nach Leuchtenberg bei Jena, sodann nach Schloß Grimmenstein bei Gotha abgeführt. In der Gefangenschaft suchte man sie auf alle mögliche Weise zur Aenderung ihres Sinnes zu bestimmen. Das gelang aber nicht. Da indeß die Jenenser Universität, bedeutende evangelische Fürsten und selbst der Kaiser sich für die Gefangenen verwandten, so wurden diese am 5. September unter der Bedingung ihrer Haft entledigt, daß sie sich in Jena still verhielten und jedenfalls vor genügender Verantwortung die Stadt nicht verließen. Dazu wurde St. aber erst im nächsten Jahre Gelegenheit gegeben, indem der Herzog ein Colloquium zwischen Flacius und ihm zu Weimar halten ließ. Dasselbe begann am 2. August 1560 im Saale des alten Schlosses daselbst unter dem Vorsitz des Kanzlers Brück in Gegenwart des Herzogs, des Hofes und einer ansehnlichen Zuhörerschaft aus allen Ständen. Von den zur Discussion gestellten Punkten kam aber nur der [593] erste, der über den freien Willen (de libero arbitrio) zur Verhandlung, und speciell drehte sich der Streit wieder um das Verhältniß des menschlichen Willens zur göttlichen Gnade im Vorgange der Bekehrung. Beide Theile blieben, wie vorauszusehen war, bei ihrer Ansicht; aber die gewandte Beweisführung Strigel’s für die Anerkennung der sittlichen Natur auch des sündigen Menschen und die manichäisirende Behauptung des Flacius, daß die Erbsünde geradezu das Wesen des natürlichen Menschen ausmache, scheinen auf den Hof eine gewisse Wirkung zu Gunsten Strigel’s nicht verfehlt zu haben. Denn nach dreizehn Sitzungen, welche vom 2.–8. August, Vor- und Nachmittags jedesmal 2–3 Stunden gedauert hatten, wurde das Gespräch abgebrochen. Der Hof legte von nun an der Flacianischen Lehre keine so große Bedeutung mehr bei wie vorher; er wollte die Ruhe im Lande hergestellt sehen, was auch beiden Theilen mitgetheilt wurde. Das lag indeß keineswegs im Sinne der Flacianer. Sie tobten gegen St. und seinen Anhang weiter. Da griff der Herzog jetzt gegen sie zum Aeußersten: am 10. December 1561 wurden Flacius und seine „Rotte“ außer Landes verwiesen, während St. am 24. Mai 1562 durch ein herzogliches Patent wieder vollständig in Amt und Würden eingesetzt wurde und am 28. Mai seine Vorlesungen über Melanchthon’s Loci wieder begann. Trotzdem fühlte er sich in Jena nicht mehr wohl, und unter dem Vorgeben einer Reise nach Leipzig zog er im Herbste desselben Jahres dahin, ohne nach Jena zurückzukehren. Obgleich die ganze dortige Universität, zu deren hervorragendsten Gliedern er gehört hatte, ihn durch eine eigene Deputation um seine Rückkehr bat, wollte er in Sachsen bleiben, und da der Kurfürst ihm freistellte, ob er in Leipzig oder in Wittenberg lehren wolle, so zog er Leipzig vor und begann hier am 1. Mai 1563 theologische und philosophische Vorlesungen. Unangefochten lehrte er hier, bis seine Hinneigung zur calvinischen Abendmahlslehre in den maßgebenden Kreisen bekannt wurde. Da geschah es im Februar 1567, daß ihm, als er in der Erklärung der Loci eben zur Abendmahlslehre übergehen wollte, vom Universitätsrector der Hörsaal verschlossen, und ferneres Lehren in Leipzig ihm untersagt wurde. Da ein Recurs an den Kurfürsten vergeblich blieb, verließ St. Leipzig und begab sich zunächst nach Amberg, wo er sich offen zur calvinischen Abendmahlslehre bekannte, darauf nach Heidelberg, wo er vom Kurfürsten Friedrich III. als Professor der Ethik angestellt wurde. Aber nur kurze Zeit hat er hier gewirkt; denn schon am 26. Juni 1569 starb er im 45. Lebensjahre eines schnellen Todes. – Als äußere Erscheinung ein kräftiger stattlicher Mann, als Mensch von vortrefflicher allgemeiner Bildung, enormem Gedächtniß und schlagfertigem Witz, als Lehrer klar, dialektisch gewandt und glänzend beredt, daher immer anregend, so daß er überall von der akademischen Jugend schnell Zulauf hatte, folgte St. in seiner Denkweise durchaus Melanchthon, den er selbst in der Ausdrucksweise, ja sogar in der Schrift nachahmte. Original ist nichts an St., und nur der synergistische Streit stellt seinen Namen in der Dogmengeschichte des Reformationszeitalters an eine hervorragende Stelle.

Seine ausgebreitete schriftstellerische Thätigkeit bewegte sich auf dem Gebiete der Philologie, Philosophie, Geschichte und Theologie. Verzeichnisse seiner Schriften stehen bei dem unten anzuführenden Zeumer, bei Jöcher (Gelehrtenlexikon IV) und bei Otto (S. 83–96); von den theologischen sind die wichtigsten eine exegetische, „Hypomnemata in omnes libros Novi Testamenti etc.“ (Lips. 1565 und 1583), und eine dogmatische, „Loci theologici“ hrsg. von Christ. Pezel (Neustadt a. d. Haardt, 4 Theile mit Appendix 1581–1584, in 4°), „die bedeutendste Dogmatik der engeren melanchthonischen Schule“.

Zu vgl. Zeumer, Vitae prof. Jenensium S. 16 ff. – Salig, Historie [594] der Augsb. Conf. III, 587 ff. – Planck, Gesch. des prot. Lehrbegriffs IV, 605 ff. – Gieseler, Kirchengeschichte III. Bd., 2. Abth. 231 ff. – J. C. T. Otto, de V. Strigelio. Jena 1843. – Preger, Flacius II. – G. Frank, Gesch. der prot. Theologie I, 102 ff. Dazu hauptsächlich den Art. Strigel von (E. Schwarz †) Wagenmann in Herzog’s Realenc. XIV (2. Aufl.), 785 ff.