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ADB:Sivers, Friedrich Wilhelm von

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Artikel „Sivers, Friedrich Wilhelm von“ von Alexander von Tobien in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 429–431, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sivers,_Friedrich_Wilhelm_von&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:18 Uhr UTC)
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Sivers: Friedrich Wilhelm v. S., Adelsmarschall und Landrath in Livland, Gouverneur von Kurland, geboren 1748, † am 27. December 1823. S. gehört zu den bedeutendsten Männern, welche Livland im 18. und 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Er ist der kraftvolle und energische Schöpfer der Grundlagen einer Agrarverfassung, deren Livland sich heute mit Fug und Recht als einer überaus segensreichen rühmen darf. Er war der Sohn des livländischen Landraths Friedrich Wilhelm S., eines zwar begüterten, aber auch mit Söhnen reichgesegneten Vaters. Gleich vielen Sprossen livländischer Adelshäuser schlug Friedrich v. S. die militärische Laufbahn ein, in welcher er mit Auszeichnung diente und es bis zum Oberst brachte. „Unter Rußlands Fahnen hatte er“, wie sein Biograph erzählt, „so gefochten, daß die Tapfersten ihn als Muster nannten. Sein Muth war nicht brausend und geschäftig, sondern kalt und fest. Von ihm ist bekannt, daß er im Treffen nie den Degen zog und nie eigenhändig Feindesblut vergossen. Mit höchstem Unwillen weigerte er sich eine verlassene türkische Provinz zu verheeren, aber er übernahm den Auftrag und führte ihn aus, mit zwei Regimentern Kosaken eine türkische Armee fünf Tage lang zu verfolgen“.

Die Festigkeit und Energie, welche er im Kriege an den Tag gelegt hat, ist ihm auch eigen geblieben, nachdem er den Waffenrock abgelegt und Dienste in seiner Heimath genommen.

Als S. 1786 aus seinen Feldzügen nach Livland zurückkehrte, fand er die Verfassung und Verwaltung seines Heimathlandes bis zur Unkenntlichkeit verändert. Durch den Ukas der Kaiserin Katharina II. vom 3. December 1782 war die Statthalterschafts-Verfassung der inneren Gouvernements Rußlands auch auf Livland ausgedehnt worden, eine Verfassung, deren Wesen von einem Zeitgenossen mit folgenden Worten skizzirt worden ist: „Beinahe in jedem Punkt ein Gegensatz der althanseatischen und ritterschaftlichen, erweiterte sie alle Schranken der Krone in den privilegirten (!) Provinzen und gab den Beamten der Regierung eine Gewalt, die oft schmerzlich verletzen konnte und es gethan hat.“

In der trüben „Statthalterschaftszeit“ begann S. seine Arbeit im Dienste der Heimath und bald wurde ihm Gelegenheit als Kreismarschall die neue Lage der Dinge praktisch kennen zu lernen. Gegen die Willkür der Polizeibehörden und die Ausschreitungen des Statthalters Grafen Browne fühlte er mehrfach Veranlassung aufzutreten. Das hatte die Aufmerksamkeit seiner Standesgenossen noch mehr auf ihn gelenkt und im Jahre 1792 wählten sie ihn zum Gouvernements-Adelsmarschall. In dieser ehrenvollen, aber namentlich zu jener Zeit überaus schwierigen Stellung nahm er sofort die Regelung der Agrarfrage auf und führte auf den Landtagen der Jahre 1795, 1796 und 1797 Reformen der bäuerlichen Zustände herbei, welche einen bedeutenden Fortschritt gegen früher aufwiesen. Wenn dem Bauern auch noch nicht ein Recht am Boden, geschweige denn die Freizügigkeit zugestanden wurde, so wurden doch die bäuerlichen Leistungen normirt, die fast absolute Gewalt des Gutsherrn über Person [430] und Habe der Bauern wurde gebrochen. Diese für die damalige Zeit immerhin bedeutungsvollen Reformen sind um so beachtenswerther, als sie nicht durch einen Druck der Staatsregierung hervorgerufen wurden, sondern von dem Adel selbst ausgegangen waren. Sivers’ Energie und seinem Geschick gelang es, gestützt auf seine Anhänger, trotz der heftigen Opposition, welche ihm seine Gegner im Landtage entgegensetzten, die von ihm gewollten Verbesserungen ins Leben zu rufen. Das bisher auf agrarischem Gebiet Erreichte genügte S. und seinen Gesinnungsgenossen noch nicht. Vor allem sollten die Verordnungen, welche bisher nur den Charakter privater Abmachungen der Gutsbesitzer trugen, die kaiserliche Bestätigung erhalten und dadurch zum Gesetze werden.

Wir können hier den Gang, welchen die Reformbewegung bis zum denkwürdigen Landtage von 1803 nahm, nicht weiter verfolgen. Auf jenem Landtage des Jahres 1803, welcher zu den stürmischsten gehört, die Livland je erlebt hat, gelang es S. und den von ihm geführten Liberalen, freilich nicht ohne die directe Unterstützung Kaiser Alexander’s I., das Reformwerk mit einem organischen Gesetz zu krönen. Durch die Bauerverordnung vom 20. Februar 1804, eine Frucht der Landtagsverhandlungen vom Jahre 1803, ein Sieg der von Friedrich v. S. an den Tag gelegten rastlosen Energie, war die neun Jahre einer endgültigen Lösung harrende Agrarfrage zum Abschluß gebracht. Der Bauer hatte erlangt, was zur Consolidation und günstigen Fortführung einer bäuerlichen Wirthschaft jener Zeit erforderlich war. Das bis dahin geltende Recht des Gutsherrn, seine Bauern verkaufen oder verschenken zu dürfen, war aufgehoben, dem Bauern die Möglichkeit, Mobilien wie Immobilien eigenthümlich zu erwerben, zugesprochen, ja der erbliche Besitz des ihm einmal zugewiesenen Hofes gesichert. Die Leistungen der Bauern wurden in genaue Relation zu dem von ihm genutzten Lande gebracht. Der Bauer durfte nicht mehr von dem Grundherrn, sondern nur von Gerichtsbehörden, in denen Repräsentanten seines Standes Sitz und Stimme haben, gerichtet werden. Durch die Bauerverordnung vom Jahre 1804 war in Livland die Leibeigenschaft aufgehoben und durch eine milde glebae adscriptio ersetzt worden. So sehr S. sich durch die Schöpfung der Bauerverordnung vom Jahre 1804 ein unvergängliches Denkmal gesetzt hat, so sehr ihm der Dank aller seiner wohldenkenden Zeitgenossen sicher war, so sehr hat er doch den Wandel in der Zeiten und Personen Gunst erfahren müssen.

Als er im J. 1797 das Amt eines Adelsmarschalls niederlegte und zum Landrath gewählt worden war, aber diese Wahl ablehnen zu müssen erklärte, ward er von allen Gliedern des Landtages unter Führung des Landmarschalls in seiner Wohnung aufgesucht und einhellig und stürmisch gebeten, sich die Wahl gefallen lassen zu wollen. Er gab nach und wirkte, wie wir sahen, wenn auch von einer alsbald entstehenden Opposition stark angegriffen, weiter. Auf dem Landtage von 1803 war sein bestimmender Einfluß noch überwiegend und durchschlagend, aber bereits drei Jahre später finden wir ein völlig anderes Bild. Auf dem Landtage des Juni 1806 wurden herbe Anklagen gegen ihn vorgebracht, welche eine starke Majorität als gerechtfertigt anerkannte. Der Landrath Friedrich v. S. wurde dessen angeklagt wider den Willen des Adels und ohne Zustimmung des Landrathscollegiums bei der Staatsregierung eine Verfassungsänderung (Aenderung des bisherigen Modus der Bestätigung der Landräthe) in Vorschlag gebracht zu haben und ferner in seiner Eigenschaft als Revident einer der Kreiscommissionen zur Vermessung und Katastrirung des Landes Eigenmächtigkeiten schuldig geworden zu sein. Mit 59 gegen 17 Stimmen wurde die Anbringung der Klage bei der Staatsregierung beschlossen. – So hatte denn die Mehrheit seiner Standesgenossen sich von S., dem Schöpfer der Bauerverordnung [431] von 1804, der am Ende des „philosophischen“ Jahrhunderts von seinen Zeitgenossen nicht genug gepriesen werden konnte, abgewandt.

Ueber Sivers’ Charakter urtheilt ein sonst milder und durchaus liberaler Zeitgenosse, der Kreisrichter Heinrich v. Hagemeister auf Alt-Drostenhof, im J. 1827, wie wir einer ungedruckten Abhandlung dieses vortrefflichen Mannes entnehmen, folgendermaßen: „Der Landrath v. Sivers war ein Mann, der das Gute eifrig wollte, den aber die Heftigkeit seines Charakters verhinderte, es immer auf dem rechten Wege zu suchen. In seiner militärischen Laufbahn an Befehlen gewöhnt, hatte er den unbeugsamen Sinn ins Privatleben mit hinüber genommen und duldete keinen Widerspruch gegen Einrichtungen, die ihm zweckmäßig erschienen. Oft indessen veränderte ein geringfügiger Umstand seine Ansichten, die wohl nicht selten durch vorgefaßte Meinungen bestimmt wurden und, so wie er hierdurch seinen Bauern kein milder Herr gewesen war, zählte er nur wenige Befreundete unter Livlands Adel, der übrigens seine Thätigkeit und die Entschlossenheit, mit welcher er früher zum Besten der Provinz gewirkt hatte, dankbar anerkannte.“

Nach den Vorgängen des Jahres 1806 hat Sivers’ Wirken für Livland aufgehört. Zu Kaiser Alexander I. in nahen Beziehungen stehend, ward er von diesem Herrscher in der Folgezeit zu hohen Staatsämtern berufen. Im J. 1811 wurde er Gouverneur von Kurland und war hier in dem verhängnißvollen Jahre 1812 und bis 1814 in segensreichster Weise thätig. So wagte er es auf seine Verantwortlichkeit hin den aus der Entfernung für nöthig erachteten Befehl, die Hauptstadt Kurlands, Mitau, niederzubrennen, nicht zur Ausführung zu bringen und die Stadt zu erhalten. Kaiser Alexander bezeugte S. seine höchste Zufriedenheit und berief ihn nach vollendetem Feldzuge nach Petersburg, um ihm den hohen Posten eines Senateurs anzuvertrauen; er wurde in der Folgezeit Geheimrath und mit hohen Orden decorirt.

Am 27. December 1823 ist Friedrich v. S. auf seinem Erbgute Ranzen in Livland gestorben, ohne einen männlichen Erben seines Vermögens und seines Ruhmes, der ihm zweifellos gebührt und ihm von der Nachwelt nicht vorenthalten wird, zu hinterlassen.

Ostsee-Provinzen-Blatt für das Jahr 1824 Nr. 3. – Jégor v. Sivers, Zur Geschichte der Bauernfreiheit in Livland. Riga 1878. – F. Bienemann, Die Statthalterschaftszeit in Livland und Estland (1783–1796). Leipzig 1886. – A. v. Transehe-Roseneck, Gutsherr und Bauer in Livland im 17. u. 18. Jahrhundert. Straßburg 1890.