ADB:Siebold, Philipp Franz Jonkheer von
Siebold: Philipp Franz Jonkheer v. S., Reisender und Naturforscher, geboren zu Würzburg am 17. Februar 1796 als Sohn des Universitätsprofessors Christoph v. S., † zu München am 18. October 1866.
S. stammt aus einer alten Gelehrtenfamilie und ist ein Enkel des berühmten in den Reichsadelstand erhobenen Karl Kaspar v. S. (S. 186), dem seine Zeitgenossen die Bezeichnung Chirurgus inter germanos princeps verliehen hatten. Nach dem frühen Verlust seines Vaters wurde S. von seinem Oheim Domcapitular Lotz erzogen und bekundete frühzeitig eine Vorliebe für die Naturwissenschaften. Es war daher auch ganz natürlich, daß er sich dem Studium der Medicin widmete, da diese so nahe mit den Naturwissenschaften verbunden ist. Im J. 1820 promovirte S. zu Würzburg zum Doctor der Medicin und 1833 zum Dr. philos. Ausgerüstet mit einem seltenen großen Fond naturwissenschaftlicher und allgemeiner Bildung, angezogen und durchdrungen von einer warmen Sehnsucht nach jenen Ländern, die des Knaben Phantasie angeregt hatten, erfüllt von der Begierde, mehr als das Alltägliche zu leisten und gestählt durch einen festen Willen, war ihm auch das Schicksal günstig, insofern seine Sehnsucht und sein Forschungsgeist ihn nach Ländern und auf Gebiete führte, welche bis dahin der Wissenschaft so gut wie verschlossen waren.
Mit Erlaubniß des Königs von Baiern folgte S. einer ehrenvollen Aufforderung mehrerer deutschen und österreichischen gelehrten Gesellschaften, eine Forschungsreise nach Ostindien zu unternehmen. Hierzu bot sich ihm die günstigste Gelegenheit durch Eintritt in königlich niederländische Dienste. Es war eine besondere Auszeichnung, daß S. gleich mit dem Range eines Sanitätsofficiers I. Classe angestellt, und zur Begleitung eines an Bord der Fregatte de jonge adriana nach Batavia abgehenden Truppencontingents bestimmt wurde. Am 23. September 1822 verließ S. Holland und langte nach einer langwierigen Reise in Batavia an, wo er durch Decret des Generalgouverneurs als „Chirurgien Major“ dem 5. Artillerieregiment zu Weltevreden auf Java attachirt wurde.
Um diese Zeit hatte die niederländische Regierung besonders ihr Augenmerk auf die Entwicklung der Handelsbeziehungen mit Japan gerichtet, welche infolge der Napoleonischen Kriege sehr zurückgegangen waren, da die englischen Kreuzer die holländischen Handelsschiffe aus fast allen Meeren vertrieben hatten. Eine neue besondere Mission sollte an den Hof des Shoguns (damals irrthümlich weltlicher Kaiser genannt) abgesandt werden, um die Erneuerung der alten [189] Handelsprivilegien zu erlangen, aber zugleich den Versuch zu machen, bessere Bedingungen und größere Freiheiten zu erreichen. Diese handelspolitischen Zwecke sollten durch die Entsendung eines wissenschaftlich gebildeten Arztes unterstützt werden. Man wußte, daß die Japaner die europäischen Wissenschaften schätzten: Medicin, Naturgeschichte und Mathematik waren bei diesem Volke von jeher beliebt und es war seit den Zeiten Kämpfer’s und Thunberg’s Thatsache, daß Gelehrte bei der niederländischen Factorei sich stets einer besonderen Beliebtheit erfreut hatten, und besonders Aerzte gut aufgenommen wurden. Letzteren verschaffte ihre Kunst die Erlaubniß und Gelegenheit, mit den Eingeborenen in nähere Berührung zu kommen und zu Nagasaki und bei der Reise an den Hof des Shoguns in Yedo sich mancherlei Vortheile zu verschaffen, welche der Erforschung des Landes günstig waren.
Im April 1823 wurde S. zum Arzt bei der Factorei in Desima ernannt und in dieser Eigenschaft dem Colonel de Sturler, welcher als „Opperhoofd“ in außerordentlicher Mission nach Japan abgesandt wurde, zugetheilt.
Am 26. Juni 1826 schiffte sich S. an Bord der „drie Gezusters“ ein, welche von der „Onderneming“ begleitet war. Nach einer gefahrvollen Reise, bei der die Schiffe an der Küste von Japan in einem Cyclon nahe daran waren zu Grunde zu gehen, liefen dieselben glücklich am 11. August im Hafen von Nagasaki ein. S. glaubte sich beim Anblick hier lebender Holländer ins 17. Jahrhundert zurück versetzt, ihre den Japanern nachgeahmten steifen Höflichkeitsformen, die altmodische Tracht: gestickte Sammetröcke, schwarze Mäntel und Stahldegen, erregten sein Erstaunen. Die eifersüchtige polizeiliche Ueberwachung seitens der japanischen Behörden hingegen, welche die Ausländer auf der kleinen Insel internirt hielten und nur bei besonderen Gelegenheiten die Stadt zu besuchen erlaubten, versprach weder den Aufenthalt angenehm zu machen, noch die ihm gewordene schwierige Aufgabe zu erleichtern.
S. ging jedoch mit jugendlicher Energie, gepaart mit großer Vorsicht an die Ausführung der ihm gegebenen Instructionen, durch seine Stellung als Arzt die politischen Zwecke der Mission zu unterstützen. Er ließ es sich angelegen sein, gleichzeitig mit seinen naturhistorischen und ethnographischen Studien das Volk und seine Regierung näher kennen zu lernen, und Beobachtungen über Staatsverfassung, Politik und Volkswirthschaft anzustellen, welche der Entwicklung der niederländischen Handelsinteressen dienlich sein konnten. Es gelang ihm auch unter dem Vorwande des Krankenbesuchs das Vorrecht des freien Aus- und Eingangs zu erlangen. Nach und nach dehnte er seine Ausflüge, wobei er nur von seinen Schülern begleitet war, über die ganze Umgegend von Nagasaki aus, und da die Niederländer in Japan baares Geld nicht führen durften, machte er sich durch ärztliche Dienstleistungen beliebt, und stellte seine ethnographischen Sammlungen durch Tausch mit europäischen Gegenständen zusammen. S. knüpfte namentlich auf der Landreise nach Yedo beim Besuche des Hofes des Shoguns im J. 1826 Beziehungen mit japanischen Gelehrten und hochgestellten Persönlichkeiten an, und besuchte auch die Städte Shimonoseki, Osaka und Kioto. Es gelang ihm, trotz des strengen Verbots, über staatsrechtliche, volkswirthschaftliche und religiöse Verhältnisse werthvolle Materialien zu sammeln, welche seine vertrauten Schüler ins Holländische übersetzten.
Durch Gefälligkeiten, die er dem Hofastronomen Taka hasi Sakusaye mon erwiesen hatte, gelang es ihm, Copien der wichtigsten Landesaufnahmen, sowie Karten der angrenzenden Gebiete, wie Saghalien, das Amurgebiet und die Liu-Kiu-Inseln zu erhalten, welche unsere geographischen Kenntnisse über Ostasien außerordentlich bereicherten. Immer zahlreicher wurde die Schaar seiner Schüler. Allmählich hob sich der Schleier des Geheimnisses, welcher bis dahin das japanische [190] Volk, seine Sitten und Gesetze verhüllt hatte. Plötzlich, entweder durch Zufall oder Verrath, wurden Siebold’s Beziehungen zum Hofastronomen von der japanischen Regierung entdeckt. Der unglückliche Beamte wurde sogleich ins Gefängniß geworfen, und bald theilten die meisten Freunde und Schüler Siebold’s dasselbe Schicksal. Die japanische Regierung faßte die Angelegenheit als Landesverrath sehr ernst auf. Mehrere der Getreuen Siebold’s nahmen sich durch das landesübliche Leibaufschlitzen das Leben, andere wurden auf die Folter gespannt, um Mitschuldige zu verrathen und über den Verbleib der Karten Auskunft zu geben. S. selbst wurde vom 18. December 1828 bis 28. December 1829 auf Desima in strenger Untersuchungshaft gehalten und schwebte fortwährend in Lebensgefahr. Gravirend für ihn war der Umstand, daß sich herausstellte, daß er kein geborener Holländer, sondern ein fremder Staatsangehöriger, ein Deutscher sei. Die niederländischen Behörden, denen der Zwischenfall sehr ungelegen kam, konnten ihn nicht nur nicht beschützen, sondern verlangten sogar von ihm die Herausgabe aller ihm seitens des Generalgouverneurs von Indien ertheilten Aufträge und Instructionen, um die niederländische Regierung nicht zu compromittiren. S. war auf sich selbst angewiesen und vertheidigte sich vor den japanischen Behörden, denen hauptsächlich daran gelegen schien, die Karten wieder zurück zu erlangen. Lange kämpften in S. die Gefühle der Selbsterhaltung und der Wunsch, seine Freunde zu retten, mit dem Widerstreben, die errungenen Schätze wieder preisgeben zu müssen. Doch endlich mußte er sich zur Herausgabe der Karten bequemen, nachdem er nächtlicherweile flüchtige Copien davon angefertigt hatte, welche er unter seinen zoologischen Sammlungen versteckt an Bord des holländischen Schiffes in Sicherheit brachte. Nun wurden ihm noch seine übrigen Sammlungen durchsucht und alles was irgendwie Verdacht erregte, wie Waffen, Münzen oder Culturgegenstände, confiscirt. Schließlich wurde ihm der Beschluß mitgetheilt, wodurch er des Landes für immer verwiesen ward. Am 2. Januar 1830 verließ er Nagasaki. Er reiste zuerst nach Batavia und erhielt dort die Erlaubniß nach Holland zurückzukehren.
Von dem Könige Wilhelm II. mit großer Auszeichnung aufgenommen, gab er sich nun ganz der Herausgabe seiner Werke hin (siehe Verzeichniß am Ende) und ordnete seine Sammlungen, welche in Leiden aufgestellt wurden. Hier legte er auch einen botanischen Garten an, der den Zweck verfolgte, japanische Gewächse zu acclimatisiren, ein Versuch, der die glücklichsten Resultate erzielte und dem wir die Bereicherung unserer Gartenflora um viele hundert Species verdanken.
Vom Könige von Holland mit dem Range eines Obersten des niederländisch-indischen Generalstabs und Aufnahme in den holländischen Adelstand mit dem Titel Jonkheer ausgezeichnet, vermählte sich S. im J. 1845 mit Helene v. Gagern, mit der er in glücklichster Ehe zum Theil in Holland, zum Theil auf seiner Besitzung St. Martin am Rhein und in Bonn lebte.
In politischer Hinsicht war er durch seine Stellung beim Ministerium der Kolonien als „Adviseur“ für japanische Angelegenheiten thätig und folgte auch 1852 einem Rufe des Kaisers von Rußland, um in der Frage der Grenzregulirung des Amurgebiets mit China seine Ansichten darzulegen.
Inzwischen hatte sich im fernen Ostasien vieles geändert; die Dampfkraft hatte Japan den Westmächten näher gerückt, und die Eröffnung des Reiches war nur noch eine Frage der Zeit. Seit lange hatten S. die großartigsten Pläne zur Erweiterung des Handels mit Japan erfüllt, dessen reiche Quellen für Volkswohlfahrt er frühzeitig erkannt hatte. Auf seine Veranlassung schrieb König Wilhelm II. einen epochemachenden Brief an den Shogun von Japan, um ihm den Rath zu geben, freiwillig den Verkehr mit den Westmächten anzubahnen. [191] S. hat in seiner 1854 herausgegebenen Brochüre „Urkundliche Darstellung der Bestrebungen von Niederland und Rußland zur Eröffnung Japans“ ausführlich bewiesen, daß Holland und Rußland, nicht Amerika die Ehre zukommt, Japan dem Welthandel eröffnet zu haben.
Als endlich die neuen Verträge mit Japan abgeschlossen waren und die japanische Regierung das Verbannungsurtheil gegen S. aufgehoben hatte, konnte er nicht länger der Sehnsucht widerstehen, das schöne Land im Aufgange der Sonne wiederzusehen, dessen Interessen so ganz mit seinem Leben verwachsen waren. Da sich Bedenken gegen seine Verwendung in neuer diplomatischer Eigenschaft geltend machten, ging er nicht im Regierungsauftrage hin, sondern nahm das Anerbieten der „Nederlandschen Handel Maatschappij“ an, als Beirath ihrer Handelsverbindungen nach Japan zu reisen. Im April 1859 im Alter von 63 Jahren schiffte sich S. in Marseille in Begleitung seines zwölfjährigen Sohnes Alexander ein und erreichte im August desselben Jahres Nagasaki. Von vielen seiner alten Freunde und Anhänger mit offenen Armen empfangen, benutzte er seinen Aufenthalt in Nagasaki, unter den jetzt erleichterten Verkehrsverhältnissen seine Studien über Japan zu vervollständigen, dabei aber auch die große ethnographische Sammlung anzulegen, die sich heute in München befindet. Der beste Beweis dafür, daß sich auch in japanischen Regierungskreisen die Ansichten über Siebold’s frühere Thätigkeit vollständig geändert hatten, war seine Berufung nach Yedo im J. 1861 in eine Vertrauensstellung bei dem damaligen Staatsrathe des Shoguns. Der Zweck dieser Ernennung war nicht nur die Einführung europäischer Wissenschaften, sondern auch um sich seines Raths in politischen Fragen zu bedienen.
Die Verwicklungen, welche infolge der Eröffnung des Landes entstanden waren, hatten bereits die ganze Staatskunst der Regierung erschöpft. Einerseits machte sich der Widerstand der japanischen Landesfürsten gegen den Fremdenverkehr geltend, andererseits war die Haltung der Fremdmächte drohend geworden, weil man ihnen die Ausführung der Verträge nicht genügend zugestehen konnte. Im Innern des Landes bereitete eine starke Partei von Patrioten den Umsturz des Regierungssystems vor und wollte den Vertreter der legitimen Dynastie, den Mikado, wieder zur Regierungsgewalt bringen. Bewaffnete Banden bildeten sich in den Provinzen und machten die großen Städte unsicher. Sie überfielen sowohl die japanischen Minister wie die fremden Ansiedler und stürmten sogar die englische Gesandtschaft in Yedo.
S., die wahren Motive der Bewegung erkennend, war einer der ersten, die Restauration des Mikados als unvermeidlich anzusehen, ein Standpunkt, den er später nach seiner Rückkehr nach Europa in Briefen an den Kaiser von Rußland auch vertrat. In der schwierigen Stellung als Berather der Minister des Shoguns beschränkte er sich darauf, die Reibungen mit den Westmächten möglichst zu vermindern und die Regierung zu einer liberalen Politik zu ermuthigen.
Siebold’s Einfluß auf politischem und diplomatischem Gebiet erweckte nun aber die Eifersucht des niederländischen Vertreters Mr. de Witt, welcher nebenbei auch noch von Besorgniß erfüllt gewesen sein mag, einen niederländischen Beamten in so exponirter Stellung zu wissen. Er forderte ihn daher auf, Yedo zu verlassen, und da sich S. weigerte diesem Verlangen Folge zu leisten, wandte er sich an die japanische Regierung, um die Entlassung Siebold’s aus ihrem Dienste zu veranlassen.
So mußte S. zum zweiten Male inmitten einer segens- und einflußreichen Thätigkeit seine Laufbahn abbrechen. Bald darauf erfolgte seine Abberufung nach Batavia seitens seiner vorgesetzten Behörde, des Generalgouverneurs von Indien. Dieser stellte ihm eine baldige Verwendung in diplomatischer Eigenschaft [192] in Japan in Aussicht. Vertrauensvoll folgte S. dem Rufe und kehrte nach Batavia zurück, wo er jedoch bald entdecken mußte, daß seine Hoffnungen sich nicht erfüllten. Bei seiner Ankunft erklärte der Generalgouverneur sich außer Stande, etwas für ihn zu thun, weil inzwischen die japanischen Angelegenheiten an das auswärtige Ministerium im Haag übertragen worden seien.
In Holland erwarteten den nun dahin zurückgekehrten S. eine Reihe von Enttäuschungen und Kränkungen. Nach einer erbitterten Auseinandersetzung mit dem Ministerium forderte er seine Entlassung und nachdem ihm diese mit allen Ehrenbezeigungen gewährt war, zog er sich nach Baiern zurück. Hier beschäftigte er sich mit der Vollendung seiner Werke und der Aufstellung seiner Sammlungen, welche vom bairischen Staate angekauft wurden. Noch bis zu seinem Tode am 18. October 1866 zu München gab er sich der Hoffnung hin, Japan, das Land seiner Wünsche, wieder zu sehen und machte noch bis zuletzt Vorbereitungen zu einer dritten Reise, welche aber nicht mehr zur Ausführung kommen sollte. In seiner Geburtsstadt Würzburg und in Nagasaki haben seine Freunde und Verehrer ihm Monumente errichtet. Auf dem japanischen Denkmal, einem großen Felsblock im Park von Nagasaki, sind seine Verdienste um Japan verzeichnet; seine hervorragenden Leistungen auf dem Gebiete der Wissenschaft sichern ihm auch in Europa für alle Zeiten ein dauerndes Andenken als dem ersten und bedeutendsten der Erforscher Japans.
Siebold’s Hauptwerke sind meist im Selbstverlag erschienen. Hervorragend sind:
„Nippon, Archiv zur Beschreibung von Japan und dessen Neben- und Schutzländern“, Leiden 1852, enthält: I. Mathematische und physische Geographie von Japan, Jezo u. s. w. – II. Volk und Staat, Beschreibung der Bewohner von Japan etc. Land- und Seereisen des Verfassers. – III. Mythologie, Geschichte, Archäologie und Numismatik. – IV. Künste und Wissenschaften, besonders Sprache und Litteratur. – V. Religion unter dem Titel „Nippon Pantheon“. – VI. Landwirthschaft, Kunstfleiß und Handel. – VII. Die Neben- und Schutzländer von Japan etc.
„Fauna Japonica“, mit C. H. Temmink und H. Schlegel bearbeitet: Reptilia. Crustacea. Mammalia. Aves. Pisces.
„Flora Japonica“ mit Dr. Zuccarini bearbeitet.
„Bibliotheca Japonica“ mit Ko Tsching Dschang und Hofmann bearbeitet. 6 Bücher.
„Catalogus librorum Japonicorum“.
„Isagoge in Bibliothecam Japonicam.“ Leiden 1841.
„Epitome linguae Japonicae.“
„See- und Handatlas vom Japanischen Reiche und dessen Neben- und Schutzländern.“