ADB:Scheller, Karl
Hufeland sein Lehrer wurde, warf er sich mehr auf die Medicin, in der Hoffnung, es einmal zu einer akademischen Stellung zu bringen. Des menschenscheuen, eckigen und borstigen Menschen nahm sich dann, als ihm die Mittel zum Abschluß der Studien und zum Eintritt in die Universitätscarrière fehlten, zunächst Lessing’s Nachfolger Langer an, der ihn (im J. 1800) speciell auf die niederdeutschen Litteraturschätze der Wolfenbütteler Bibliothek hinwies und ihm bald auch die Aussicht erweckte, im Bibliotheksfach außerhalb des Heimathländchens eine feste Stellung zu finden. Dann aber verschaffte ihm der Herzog Karl Wilhelm Ferdinand die Möglichkeit, seine ärztlichen Studien zu vollenden, und gab ihm Hoffnung auf eine Professur in Helmstedt. Der Tod dieses Gönners und das Aufgehen des Herzogthums Braunschweig im Königreich Westfalen vernichtete alle diese Aussichten und untergrub völlig Scheller’s Vermögensverhältnisse; seinem Haß gegen die Person und das Regiment des Usurpators hat er nach dem Zusammenbruch der Napoleonischen Herrschaft in einer bissigen „Jeromiade“ (1814) Luft gemacht. Nachdem er kurze Zeit in seinem Heimathsorte prakticirt hatte, siedelte er 1807 nach Braunschweig über, wo eine kümmerliche Praxis Zeitlebens nicht zu seinem Unterhalte hinreichte, und man ihm, nachdem er sich verheirathet hatte, vorübergehend durch Beschäftigung von Seiten des Museums und später der Bibliothek zu Wolfenbüttel zu nothdürftigem Auskommen verhalf. Daneben scheint er sich durch Uebersetzen medicinischer Schriften des Auslandes hier und da etwas verdient zu haben. Entbehrung und Enttäuschung wichen dem armen Menschen nicht von der Seite, und nachdem die letzte Periode seines Lebens eine wahrhaft grausige Kette von Schicksalsschlägen gewesen war, machte er am 1. August 1843 in einem Fieberanfall seinem Dasein durch einen Sturz aus dem Fenster ein Ende.
Scheller: Karl Friedrich Arend S., niederdeutscher Sprachforscher, wurde am 6. November 1773 in dem braunschweigischen Flecken Hessen geboren. Als Krüppel kam er zur Welt, und da er die Mutter in der Stunde der Geburt verloren hatte, verlebt er unter der Mißachtung seines brutalen Vaters eine freudelose Jugend. Durch Privatunterricht vorbereitet, erhielt er seine weitere Ausbildung in den Jahren 1787–1793 auf der Wolfenbütteler Gelehrtenschule. Sprachkunde scheint frühzeitig zu seinen Hauptinteressen gehört zu haben, sein Fachstudium aber bildeten nach dem Abgang von der Schule die Naturwissenschaften: zuerst in der Landeshauptstadt, wo neben dem Karolinum damals auch ein anatomisch-chirurgisches Collegium bestand. In Jena, wo[2] Das Unglück, das diesen Mann buchstäblich von der Wiege bis zum Grabe begleitete und ihn frühzeitig mißtrauisch gemacht hat, gibt uns eine Erklärung für den jeder Belehrung unzugänglichen Eigensinn, mit dem er als Schriftsteller und Gelehrter seinen Weg ging. Scheller’s Thätigkeit für die Kenntniß des niederdeutschen Schriftthums und zur Ehre der „sassischen“ Sprache, die allein seinen Namen weiterhin bekannt gemacht hat, füllt die Jahre 1825 bis 1829 aus. 1825 erschienen seine Ausgaben des „Laiendoctrinals“ und des „Reineke Vos“, 1826 die „Braunschweiger Reimchronik“, 1829 das „Schichtbuch“, einige davon mit wunderlich zugestutzten „sassischen“ Titeln: dazwischen fällt 1826 die „Sassische Bücherkunde“. Jene Ausgaben mittelniederdeutscher Denkmäler müssen durchweg als mißlungen bezeichnet werden: nicht nur weil wir für die Mehrzahl gegenwärtig mustergültigen Ersatz erhalten haben, auch zu ihrer Zeit hätten sie mit weniger Mühe leicht besser gemacht werden können. In den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ kritisirte Jacob Grimm mit einer Schärfe, die sich uns zur Erbarmungslosigkeit steigert, erst das „Laiendoctrinal“, dann die „Reimchronik“, schließlich die „Bücherkunde“, deckte alle Fehler und Gewaltsamkeiten der Textzustutzung auf und gab den anmaßlichen Apostel des Plattdeutschen dem Gespötte preis. S. hatte sich gewiß in Sprache und Wortschatz der altniederdeutschen Litteratur nach seiner Art eingelebt, aber diese Art war eben die eines eigensinnigen Autodidakten, der von Niemand lernen will, weil er das Beste in der Kenntniß der lebenden Mundart selbst mitzubringen glaubt. Seiner eigenen Aussprache des braunschweigischen Dialekts bequemte er die Erscheinungen älterer Zeit an und durch ein schrullenhaftes orthographisches System that er der alten wie der lebenden Sprache in gleicher Weise Unrecht. Denn vielleicht noch unglücklicher wie als Herausgeber erwies sich S. mit einem Versuche, selbst als niederdeutscher Erzähler aufzutreten: die Schwänke und Anekdoten, die als „Dat sassishe Döneken-Bôk. Sammed tor tydkörtinge dorg Aren Wârmund“ (Hamburg 1829) herauskamen, erregten nicht nur durch die verdrießliche Orthographie Anstoß, sondern auch noch durch allerlei andere gelehrte und ungelehrte Unarten in Syntax und Wortschatz.
Als sein eigentliches Lebenswerk betrachtete S. die „Bücherkunde der sassisch-niederdeutschen Sprache, hauptsächlich nach den Schriftdenkmälern der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“ (Braunschweig 1826). Schon Jahre vorher hatte er auf ihr Erscheinen hingewiesen und sich immer wieder seiner reichen Sammlungen zahlenmäßig gerühmt. Das Werk, welches eine Aufzählung der niederdeutschen Litteratur vom Hildebrandsliede bis auf Seller’s eigene Ausgaben brachte – ursprünglich scheint es mehr als eine Litteraturgeschichte Niedersachsens geplant gewesen zu sein – bezeichnete einen wesentlichen Fortschritt gegenüber Kinderling’s Geschichte der niedersächsischen Sprache (1800), blieb aber weit zurück hinter dem, was wenige Jahre später Hoffmann v. Fallersleben und Mone für die nahverwandte altniederländische Litteratur geleistet haben. Immerhin, das niedersächsische hat seit S. noch keinen Bibliographen wieder gefunden, und so muß man das Buch noch oft genug nachschlagen, an dem uns die rührende Liebe des einsamen Sonderlings zu seiner Heimathsprache ebenso fesselt, wie uns sein mißtrauisches und herrisches Wesen wieder abstößt. Die Sassen sind das „Europäische Urvolk“, ihre Sprache ist das „Urdeutsch“ und noch heute würdig, „die erste Sprache des Erdbodens“ zu werden. In der Verkennung und Unterdrückung dieser Sprache aber spiegelt sich dem Verfasser das eigene Lebensschicksal wieder, darum liegt in der Beschäftigung mit ihr ein Trost für den Verkannten und Unterdrückten. Die alten Schreiber und Buchdrucker erregen in der gleichen Weise wie moderne Herausgeber und Grammatiker seinen Ingrimm durch ihre Unkunde jener sassischen Sprache, wie er allein sie zu verstehen glaubt. Sein [3] ewig reger Argwohn möchte Lug und Trug vermuthen, wo eine aus der Ueberlieferung leicht begreifliche Sprachmischung vorliegt, während er anderseits plumpe Fälschungen gläubig aufnimmt und die krassesten chronologischen Irrthümer begeht oder doch bestehen läßt, wenn sie nur zum höheren Ruhme des geliebten Sassisch beitragen. Um die Zahl seiner sassischen Bücher recht anzuschwellen, zieht er herbei, was irgend in entfernter Beziehung zur Geschichte, zu Recht und Sitte Niedersachsens steht, und verdächtigt obendrein in wahrhaft komischer Weise die hochdeutsche Ueberlieferung. Das Nibelungenlied – das übrigens an Eberhard’s von Gandersheim Reimchronik eine gefährliche Concurrentin hat – ist ihm nur eine stümperhafte Umschrift aus dem „Siebenbürgisch-Sassischen“, und er vermißt sich wiederholt, seine „zahllosen Dunkelheiten“ zu beseitigen, indem er es „in die Ursprache zurückbringe“. Hinter streng hochdeutschen Denkmälern des neunten Jahrhunderts wittert er wenigstens „sassische Köpfe“, die man in Oberdeutschland „geschoren“ habe, ist aber dann wieder kurzsichtig genug, das werthvollste und ehrwürdigste altniederdeutsche Denkmal, den Heliand, als niederrheinisch auszuscheiden. Der Werth des Buches wächst jedoch in den späteren Partien, und der Geschichtschreiber der niederdeutschen Litteratur wird dem Manne, dessen Unglück fast merkwürdiger ist als seine wissenschaftliche Arbeit, den Zoll der Dankbarkeit nicht versagen.
- Neuer Nekrolog der Deutschen. 21. Jahrgang. 1843 (Weimar 1845). S. 708–712. – Die Recensionen Jacob Grimm’s stehen jetzt auch in seinen Kleinen Schriften Bd. IV, S. 290, 385, 412.