ADB:Scheibel, Johann Gottfried
Friedrich Wilhelm III. in der preußischen Landeskirche eingeführten Union, d. h. der Vereinigung der lutherischen und reformirten Kirche zu gemeinsamem Gottesdienst unter einem Kirchenregiment auf der Grundlage der in dieser Vereinigung nicht in Frage gestellten, sondern ausdrücklich in ihrem Fortbestande und in ihrer Geltung anerkannten beiderseitigen Bekenntnisse. Um Scheibel’s und seines Anhanges Bekämpfung dieser Union recht verstehen und beurtheilen zu können, bedarf es der Erinnerung an die Worte des königlichen Erlasses vom 27. September 1817, in welchem gesagt ist, daß dieses Werk „auf Grund der Hauptsache im Christenthum, worin beide Confessionen [694] eins seien, zur Ehre Gottes und zum Heil der christlichen Kirche mit der bevorstehenden Säcularfeier der Reformation als den ersten Absichten der Reformatoren und dem Geist des Protestantismus entsprechend“ ins Leben treten solle. „Keine der beiden Kirchen solle hierbei zu der je anderen übergehen, sondern beide sollten eine neubelebte evangelische christliche Kirche werden“. Als Modus der Einführung wurde bezeichnet, daß mit Achtung der Rechte und Freiheiten beider Kirchen nichts durch Verfügung aufgedrungen werden solle. Die Union werde nur dann einen wahren Werth haben, wenn weder Ueberredung noch Indifferentismus an ihr Theil haben würden, wenn sie rein aus der Freiheit eigener Ueberzeugung hervorgehe, und nicht nur eine Vereinigung in der äußeren Form sei, sondern in der Einheit der Herzen nach ächt biblischen Grundsätzen ihre Wurzeln und Lebenskräfte habe. Derjenige, welcher den ersten Anstoß in Schlesien zu einer dauernden Gegenbewegung gegen dieses königliche Unternehmen gab, war ein Geistlicher und Professor der Theologie zu Breslau. J. G. S. war am 16. September 1783 zu Breslau geboren. Von seinem Vater, der Rector am Elisabethgymnasium und zweiter Inspector der lutherischen Stadtschulen war, erhielt er eine strenge, gottesfürchtige Erziehung in völliger Abgeschlossenheit von allem weltlichen Treiben und insbesondere von dem sittlichen Verderben, welches in manchen Kreisen des jugendlichen Geschlechts herrschte. Auf der seit 1801 besuchten Universität Halle bewahrte er gewissenhaft das aus dem Elternhause empfangene Erbe kindlicher Frömmigkeit und strenger Sittenreinheit gegenüber dem ihm vor Augen tretenden Sittenverderben und Unglauben. Nach Vollendung seiner theologischen Studien wurde er als Lector (Hilfsprediger) an der Barbara- und Elisabethkirche, 1815 als Diaconus an der letzteren angestellt. Zugleich betrat er die akademische Laufbahn. Er wurde an der 1811 in Breslau gegründeten Universität in demselben Jahr als außerordentlicher, und im J. 1818, nachdem er einen Ruf zu einem hohen kirchlichen Amt nach Rußland ausgeschlagen hatte, als ordentlicher Professor der Theologie angestellt. Mit aller Entschiedenheit und Energie bekämpfte er auf Kanzel und Katheder die rationalistische und pelagianische Geistesrichtung als Vertreter des lutherischen Bekenntnisses und der altlutherischen Orthodoxie und als ein aufrichtig gläubiger Christ, der durch seine imponirende Persönlichkeit und seine lautere Gesinnung, wie durch seine Predigtgaben auf der Kanzel leicht die Herzen der Zuhörer gewann. Heinrich Steffens sagt: „Es gab wohl nie einen starr orthodoxen Theologen, der das rein Menschliche so in sich erhielt. Dieses riß ihn jederzeit mit sich fort und entwaffnete ihn seinen Gegnern gegenüber“. Bei aller Strenge im lutherischen Bekenntniß übte er doch nicht die entsprechende geistige Disciplin über sich aus, so daß er mit seinem Gemüthsleben in theosophisch-mystische Sonderbarkeiten gerieth, die zum rechtgläubigen Lutherthum, wie er es verfechten zu müssen glaubte, nicht paßten, gleichwohl aber hartnäckig von ihm festgehalten wurden. Mit einer umfangreichen Gelehrsamkeit, namentlich auf dem Gebiet der Geschichte und der Religionsphilosophie, ging bei ihm Hand in Hand eine wunderliche psychologische Ausdeutung und willkürliche Parallelisirung von Personen und Ereignissen der Gegenwart mit solchen des heidnischen Alterthums. So sah er z. B. in den alten ägyptischen Gebräuchen schon die Urbilder und Typen der ihm verhaßten reformirten Kirche, und in Cultus und Verfassung derselben erblickte er eine Wiederholung der ägyptischen Isisreligion. Zwingli und Oekolampad waren ihm die Begründer eines erneuerten Gnosticismus, der meist aus Aegyptens Naturphilosophie, eleatischm und heraklitischen Ideen und platonischer Dialektik zusammengebunden sei. Das Vorspiel der Herrschaft Calvins in Genf tritt ihm schon in der philosophischen [695] Priesterdespotie der alten Aegypter vor die Augen. Die Theilnahme an dem Abendmahl der Reformirten erklärte er für eine Todsünde.
Scheibel: Johann Gottfried S. war der erste mit offenem Protest hervortretende Widersacher der durchBei dem ihm eigenen Gemisch von tiefinniger Frömmigkeit und abstruser Gelehrsamkeit, von streng lutherischer Orthodoxie und mystisch-schwärmerischer Theosophie, von hinreißender Kanzelberedsamkeit und formloser Schriftstellerei, von blindem Vertrauen und tiefgewurzeltem, bis zu widerchristlicher Härte im Urtheilen und offenbarer Ungerechtigkeit sich steigerndem Mißtrauen, von demüthiger, scheuer Zurückhaltung, die ihn wohl als feige erscheinen lassen konnte, und verletzendem Gebahren in Wort und Schrift – war es kein Wunder, daß er von solchen, die den Kern seines Glaubenslebens hinter solch einer Schaale nicht erkennen konnten, die schwersten Anfeindungen, aber auch von solchen, die auf gleichem Standpunkt des Glaubens und Bekenntnisses mit ihm standen, die ernstesten Zurechtweisungen erfuhr. Ein sehr treffendes Urtheil über ihn lautet: „Sein ‚historischer Blick‘ ließ ihn oft die wahre Gestaltung der Dinge verkennen. Er lebte vorzugsweise ein Leben in Idealen und in tief innerlicher Mystik, welche ihn in eine geträumte Welt versetzte, auf die er die oft sehr unreifen Erzeugnisse seiner nicht immer geheiligten Phantasie anwandte, so daß er, die Gegenwart nicht in ihrer Wirklichkeit erfassend, hier und dort scharf verletzte und durch Eckigkeit des Benehmens, sowie durch Sonderbarkeiten in seinem Wesen, und durch bizarre, einseitige Darstellungen in seinen Schriften sich nicht ohne Schuld manchen zum Feinde machte.“ (Wangemann.)
Es war verhängnißvoll für die lutherische Kirche, zunächst in Schlesien, daß dieser so geartete Mann, der in seiner Vaterstadt als begabter und begeisterter Prediger und als Seelsorger eine tief eingreifende Wirksamkeit übte, und dem herrschenden Rationalismus gegenüber um seine Kanzel und seinen Beichtstuhl eine gläubige, bekenntnißtreue Gemeinde sammelte und zusammenhielt, als Führer und Vorkämpfer diese Gemeinde in seinen Widerspruch und Widerstand gegen die Union mit hineinzog, als handelte es sich um Christenthum oder Antichristenthum, um Vernichtung des lutherischen Kirchenthums und Aufrichtung eines neuen Heidenthums durch Einführung der neuen Agende in die preußische Landeskirche.
S. versagte gleich im J. 1817 den Beitritt zu der Union. Schon seine bei Gelegenheit des Reformationsfestes am 2. November gehaltene Predigt über die lutherische Abendmahlslehre machte einen aufregenden Eindruck. In demselben Monat erklärte er in der ersten Synodalversammlung der Breslauer Geistlichen, in welcher der von der liturgischen Commission in Berlin ausgearbeitete Entwurf einer Synodalordnung für „den Kirchenverein beider evangelischer Confessionen im preußischen Staat“ berathen werden sollte, „sein Gewissen erlaube ihm nicht, der Union beizutreten“. Die Thatsache, daß der reformirte Hofprediger Ehrenberg in Berlin den Entwurf verfaßt hatte, war ihm hinreichend genug, diesen als ganz reformirt anzusehen und zu verurtheilen. Aber derselbe Mann, der diesen Entwurf als einen reformirten von vornherein verwarf, überreichte merkwürdiger Weise der Breslauer Synode am 3. Decbr. 1817 ein Separatvotum, welches über Kirchenverfassung, Gemeinderecht, Patronatsrecht, kirchliche Gottesdiensthandlungen und dergl. ganz reformirte Anschauungen entwickelt, jedenfalls viel reformirter war, als jener Entwurf selbst. „Die Gemeindeversammlung“, sagt er darin, „hat auch über Wort und Lehre die Aufsicht. Die Aeltesten haben selbst den Gottesdienst und die Lehreinrichtungen anzuordnen und haben die executive Gewalt. Nur von der Gemeindeversammlung kann die Wahl des Predigers geschehen, nimmermehr von einem Patron“. Alles Patronatsrecht verwirft er als „spätere Unsitte“. Nach der apostolischen Verfassung hat alle Titel- und Rangordnung unter den Episcopis aufzuhören. [696] Die Einkünfte der Geistlichen dürfen nur freie Gaben aus der Gemeinde sein. Beichtgeld, Stolgebühren sind späteren sündhaften Ursprungs. Statt der alten Pericopen soll vielmehr auf die ganze Bibel Rücksicht genommen werden. Agendarische Formulare können, als dem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit entgegen, auf keine Weise angeordnet werden, also auch z. B. nicht bei der Taufe. Er erklärt sich hier seltsamer Weise für das später von ihm als Unionszeichen verworfene Brodbrechen im Abendmahl. Die Gemeinde stellt er als Inhaberin der kirchlichen Gewalt hin. Nur die Versammlung der Gemeinde soll über die Kirchenzucht entscheiden. Er construirt auf Grund von einzelnen Bibelstellen eine Verfassung, die er als „Presbyterialverfassung“ bezeichnet, und mit der er durchaus nicht in lutherischen Bahnen wandelt. So schreitet der Führer der altlutherischen Separation auf ihrem ersten Wege in reformirter, jedenfalls wenig lutherischer Richtung einher.
Als 1821 vom König eine neue Agende dargeboten wurde, die mit der Einführung der Union eigentlich nichts zu thun hatte, sah sich S. plötzlich mit den Rationalisten, die dieselbe bekämpften, auf gleicher Seite. Aber ihm kam es hauptsächlich auf Bekämpfung der ihm verhaßten Union an. Das wider ihn neu aufflammende Feuer der Feindschaft fachte er selber an durch eine am 13. April 1821 über das Abendmahl gehaltene Predigt, in der er sich nicht damit begnügte, die lutherische Abendmahlslehre klar und wahr, innig und warm darzulegen, sondern zum öffentlichen kirchlichen Aergerniß die Abendmahlsfeier der Reformirten in der bereits gedachten Weise mit den Opfermahlzeiten und symbolischen Gebräuchen der alten Aegypter, „die Brod und Wein genossen hätten als bildliche Zeichen für den sinnlichen Körper und das sinnliche Blut verstorbener Menschen“, auf gleiche Stufe stellte.
Die dadurch erweckte Entrüstung fand ihren Ausdruck in einer scharfen polemischen Schrift des Prof. Dr. David Schulz: „Unfug an heiliger Stätte“ 1822, und in einer ernsten Rüge des Magistrats dafür, daß er die Verwaltung des Sacraments nach reformirten Grundsätzen öffentlich für eine Todsünde erklärt, und die reformirte Kirche selbst in Rede und Schrift als eine ungläubige und unchristliche darzustellen gesucht habe. Auch die Breslauer kirchliche Behörde, das Stadtconsistorium, erließ ein in mildem Tone gehaltenes und seine Treue und Verdienste anerkennendes Schreiben an ihn, worin es ihm mittheilt, daß es im Auftrage des geistlichen Ministeriums über seine Amtsführung genaue Aufsicht zu führen habe, und ihn ermahnt, bei aller freimüthigen rückhaltlosen Verkündigung des Glaubens seiner Kirche doch der auch dem irrenden Bruder schuldigen Schonung und Liebe nicht zu vergessen, zumal in einem Fall, wie dieser sei, wo die Wahrheit, über die sich seit drei Jahrhunderten die frömmsten und gelehrtesten Lehrer zweier Kirchen nicht hätten einigen können, erst auf dem Wege der Wissenschaft ausgemittelt werden solle. Er wird freundlich und ernst ermahnt, in seinen öffentlichen Vorträgen zwar voll und ganz den Glauben der lutherischen Kirche frei und unumwunden auszusprechen, – das fordere die evangelische Freiheit, – aber in keinem Fall den Glauben der andern Kirche, den sie ja auch für etwas Heiliges halte, zu bestreiten und zu verdammen. Aber er setzte dem entgegen, daß die Wahrheit in Betreff der Abendmahlslehre nicht noch erst zu suchen, auch nicht ohne Bekämpfung des Irrthums zu lehren und zu bekennen sei und nicht bloß auf Grund evangelischer Freiheit, sondern kirchlicher Ordnung verkündigt werden solle. Den berechtigten Tadel des Unangemessenen in seiner Polemik ließ er dabei in den Hintergrund treten, indem er durch Erfahrung von mancherlei Zurücksetzungen und Anfeindungen immer mehr in seinem Widerspruch gegen die Union befestigt wurde. Hierzu kam nun noch seine immer heftigere [697] Opposition gegen die zum Theil von dem König selbst bearbeitete Agende, indem er das Recht des Landesherrn, eine Liturgie zu erlassen, bekämpfte. Wie gegen den ersten Entwurf der Agende von 1821, so ließ er gegen die umgearbeitete mit Nachträgen versehene Agende von 1829 seiner leidenschaftlichen maßlosen Heftigkeit die Zügel schießen, indem er die ärgsten Beschuldigungen gegen die Intentionen der Verfasser der Agende schleuderte. Er verdammte blindlings, was in derselben der alten Wittenberger Agende entnommen war, und sah nur als reformirt an, was aus der alten Kirche darin aufgenommen war. Als der König mit Rücksicht auf die heftige Opposition, welche die Agende besonders in Schlesien und namentlich von S. erfuhr, im J. 1827 die Schrift: „Luther in Beziehung auf die preußische Kirchenagende“ zur Vertheidigung derselben ausgehen ließ und darin sein Streben nach besten Kräften für das Heil der Kirche dem Rationalismus gegenüber zu wirken zu erkennen gab, antwortete S. darauf mit einer Vorstellung voll heftiger Polemik, und nannte den Verfasser, als welchen er wohl den Hofprediger Eilert ansah, „einen verkappten Reformirten, der bei der projectirten Union nur das Interesse seiner Confession bezwecke“. Der König, entrüstet über diese Verkennung seiner wohlgemeinten Absicht, sah in ihm „einen fanatischen Widersacher, der sich nicht überzeugen lassen wolle“, las keine Eingaben Scheibel’s mehr, verweigerte ihm die erbetene Audienz und ertheilte ihm fortan nur durch den Minister Bescheid.
Im J. 1830 sollte die Jubelfeier der Uebergabe der Augsburgischen Confession der Einführung der Union zur Förderung dienen. Eine Cabinetsordre vom 30. April d. J. enthielt die Bestimmung, daß die Einführung des Brodbrechens beim Abendmahl als symbolisches Zeichen des Beitritts zur Union gelten solle. Zugleich wurde statt der bekennenden Spendeformel die referirende: „Unser Herr Jesus Christus spricht: „Das ist“ u. w., für den kirchlichen Gebrauch bestimmt. S. setzte dem den entschiedensten Widerstand entgegen, obwol er selbst früher für den Ritus des Brodbrechens auf Grund der Schrift sich erklärt hatte. Er stellte den Antrag, daß man aus Schonung und Duldung für den mit ihm gleich gesinnten Theil der Gemeinde ihm gestatten möchte, das Recht zu behalten, neben der unirten Form der Abendmahlsfeier in einem Nebenabendmahl dasselbe nach der bisher gebrauchten Wittenberger Agende zu verwalten. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Es folgten vergebliche Verhandlungen. Angesichts der nahen Jubelfeier wurde seine Suspension auf 14 Tage am Sonnabend, dem 19. Juni, verfügt. Trotzdem betrat er am andern Morgen die Kanzel, um das Unlutherische der neuen Agende darzuthun, indem er wegen dieses Verhaltens sich damit rechtfertigen wollte, daß ihm ja kein Termin für den Anfang seiner Suspension gesetzt sei, als ob dieselbe nicht mit der Ankündigung ihrer Verhängung eingetreten sei. Sein Protest gegen die Suspension blieb erfolglos. Die von ihm beabsichtigte Herausgabe von Druckschriften, die er am Tage der Jubelfeier vertheilen lassen wollte, wurde verboten. Seine Suspension wurde auf eine bestimmte Zeit verlängert, bis er eine die Annahme der Agende betreffende Erklärung abgegeben hätte, nur daß ihm die Erlaubniß zu Privatcommunionen gegeben wurde.
Inzwischen war am 25. Juni bei der Säcularfeier der Augsburgischen Confession das heilige Abendmahl nach unirtem Ritus, d. h. mit dem Brodbrechen als symbolischem Zeichen des Beitrittes zur Union und mit Anwendung der referirenden Spendeformel, gefeiert worden. S. erklärte völlig willkürlich und impfte seinen Anhängern die irrige Meinung ein, daß mit der Einführung der neuen Agende die lutherische Kirche aufgehört habe zu existiren, und daß mit der Bildung einer neuen wahrhaft lutherischen Gemeinde vorgegangen werden müsse. Er sammelte daher die Mitglieder der Elisabethgemeinde und anderer Gemeinden, die der Union nicht beigetreten waren, um sich, legte ein Verzeichniß [698] ihrer Namen an und ging sofort mit einer förmlichen Gemeindebildung vor, die gegen dreihundert Familien, meistentheils dem Bürgerstande angehörig, umfaßte, und an die sich von höheren Ständen die Professoren Huschke und Heinrich Steffens und der Oberlandesgerichtsassessor, später -Rath v. Haugwitz anschlossen. Diese Männer waren nun die Leiter der antiunionistischen Bewegung. S. selbst wählte aus der Menge der einzelnen, verschiedenen Parochieen der Stadt angehörenden Gemeindeglieder ein Repräsentantencollegium, welches aus 16 Personen bestand. Das landesherrliche Kirchenregiment wurde verworfen. Die neue Verfassung wurde als eine „vom heiligen Geist in seinem Reich gebotene“ bezeichnet. Die neue Gemeinde wurde als die Vertreterin der wahren lutherischen Kirche hingestellt. Die Bewegung verirrte sich somit von dem Boden des geschichtlichen Kirchenthums in die Bahnen des Separatismus. Es fehlte den Leitern völlig am rechten Verständniß für den Organismus des kirchlichen Gemeindelebens, auf dessen Grunde doch das lutherische Bekenntniß, wie in den Erlassen über die Union wiederholt bezeugt wurde, nicht beseitigt, sondern als zu Recht bestehend anerkannt war, und diejenigen, welchen dasselbe durch die Art der Einführung der Union gefährdet schien, auf den geordneten Wegen es hätten wahren können. Es war ein fundamentaler Irrthum, sich einzubilden, daß durch eine Summirung von einzelnen Personen aus den verschiedenen bestehenden Kirchengemeinden zu einer Versammlung, die sich selbst mit Wort und Sacrament versähe, eine lutherische Gemeinde entstehen könnte. Es war nicht zu verwundern, daß die Behörden dieses Vorgehen als ein revolutionäres ansahen und die Gemeinde als einen Haufen von Separatisten betrachteten, die sich hartnäckig gegen die Belehrung verschlossen, daß zwischen Annahme der Union und Annahme der Agende, die gegenüber der durch den Rationalismus geschaffenen Unordnung und Verwirrung auf dem Gebiet des Gottesdienstwesens um der kirchlichen Ordnung willen ein dringendes Bedürfniß war, scharf zu unterscheiden sei, und daß weder durch die Union noch durch die Agende der Bekenntnißstand der Gemeinden geändert werde. Wiederholte Eingaben der Repräsentanten wurden von Berlin aus nicht beantwortet, bis endlich ein Ministerialbescheid in Beantwortung aller Immediateingaben, welche der König dem Minister zur Bescheidung übergeben hatte, die Bitte um Erlaubniß zur Bildung einer altlutherischen Gemeinde als unzulässig abwies. „Zu solchem separatistischen Begehren, hieß es darin, läge kein Grund vor, da mit der Einführung der neuen Agende keine Glaubensveränderung vorgenommen, sondern nur eine unerläßliche Norm des öffentlichen Gottesdienstes aufgerichtet sei. S. blieb bei seinem Widerspruch und Widerstand. Die Union, erklärt er dem Magistrat, dulde auf ihren Altären fremde Lehre; darum könne er sich derselben nicht anschließen, auch nicht damit sich zufrieden erklären, daß unirte Prediger neben lutherischen fungirten. Hierauf wurde ihm alle und jede Amtshandlung, auch das ihm bis dahin noch gestattete Ertheilen von Privatcommunionen, verboten, solange seine Suspension dauere. Es war dies die nothwendige Folge der Ungesetzlichkeiten, die er sich durch Amtshandlungen in verschiedenen Gemeinden hatte zu Schulden kommen lassen. Die Noth der separirten Gemeinde, die sich meistentheils während der Fortdauer von Scheibel’s Suspension zu dem streng lutherischen, aber sich ruhig verhaltenden und darum unangefochtenen Prediger Berger in Hermannsdorf bei Breslau hielt, stieg in Bezug auf die Amtshandlungen immer höher. Sie erreichte nach Eintritt der Cholera, die eine Absperrung jenes Ortes zur Folge hatte, den höchen Grad, indem die Separirten auch die von lutherischen, der Union nicht beigetretenen, landeskirchlichen Geistlichen verrichteten kirchlichen Handlungen perhorrescirten. Da ging S. einen Schritt weiter in seinem willkürlichen Verfahren, indem er den Rath ertheilte, daß Laien die kirchlichen [699] Amtshandlungen mit Ausnahme der eigentlichen Schriftauslegung und der Handhabung der Schlüsselgewalt verrichten sollten. Er suchte das mit den gekünsteltsten und willkürlichsten Gründen aus der Schrift und den Bekenntnissen zu rechtfertigen. So wurden Laientaufen, Laiencommunionen und Privatgottesdienste gehalten. In Folge aller dieser Ordnungswidrigkeiten wurden polizeiliche Maßregeln ergriffen und Geldstrafen verhängt; die Laiengottesdienste wurden verboten.
In einer neuen Eingabe an den Minister vom 12. Januar 1832 erklärt er, daß er binnen drei Wochen eine definitve Entscheidung seiner Angelegenheit erheischen müsse. Er habe als Doctor der Theologie seinen Rath, daß die Gemeinde mit Verwaltung von Predigt und Sacrament sich selbst helfen solle, „nur nach dem Kirchenrecht der hl. Schrift“ ertheilt, und die Ueberzeugung gewonnen, wie nach der hl. Schrift die lutherische Gemeinde in Schlesien „nach der Verfassung des heiligen Geistes“ von allen weltlichen Behörden getrennt sein solle. Der Minister antwortete ihm am 28. Februar 1832 in mildem Ton und macht ihm mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß ihm die Union nicht aufgedrungen werde, nochmals das Anerbieten, daß ihm und seiner Gemeinde die Sacramentsverwaltung nach lutherischem Ritus gestattet werden solle; er möchte doch der Gemeinde dadurch zu der gestörten Ruhe wieder verhelfen, daß er sein Amt nach den bestehenden kirchlichen Vorschriften der neuen Agende gemäß verwaltete. S. schlug dieses Anerbieten ab, legte seine beiden Aemter an der Elisabethkirche und an der Universität nieder und nahm seinen Aufenthalt in Dresden, wo er bald einen ausgedehnten Wirkungskreis mit Vorlesungen, Religionsunterricht und Predigen fand.
Aber auch in Dresden machte er sich durch seine Unklugheit unmöglich. In einer Reformationspredigt erging er sich in heftigen und bitteren Auslassuugen über die Union, die reformirte Kirche und über seine Breslauer Erfahrungen und brachte auch hier seine aegyptischen Ideen vor. Heftig deshalb angegriffen gerieth er auch hier in argen Conflict mit den Behörden. Ihm wurde die Kanzel vom Oberconsistorium in Dresden verboten. Die von ihm dagegen angerufene Facultät in Leipzig fand das Verbot wegen des Inhalts seiner Predigt wohlbegründet. Das Ministerium, gegen welches er ein günstiges Gutachten der Facultät zu verlangen gehofft hatte, verweigerte ihm die geforderte Darlegung der Gründe für jenes Verbot. Er verließ Dresden, nachdem ihm der fernere Aufenthalt daselbst verboten war, 1833, und fand eine Zuflucht bei dem Herrn v. Heinitz in Hermsdorf bei Dresden, wo er mit litterarischen Arbeiten beschäftigt in Ruhe lebte, bis er 1836 nach Glaucha übersiedelte. Aus Sachsen zog er endlich 1839 nach Nürnberg, wo er am 21. März 1843 unter ergreifender Bezeugung seines kindlichen Glaubens mit dem Ruf: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ verschied.
- Dr. Wangemann, Sieben Bücher preußischer Kirchengeschichte. Bd. I, Buch 2: Lebensgeschichte von J. G. Scheibel, Berlin 1859. – H. Steffens, Was ich erlebte, Bd. 8. – (Thiel) Die Sache der neuen preußischen Agende und Union. Sendschreiben an zwei lutherische Geistliche in Schlesien, Stuttgart 1835. – L. v. Gerlach in Hengstenbergs Evangel. Kirchenzeitung von 1850, Nr. 97.