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ADB:Scaria, Emil

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Artikel „Scaria, Emil“ von Richard Sternfeld in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 30 (1890), S. 476–478, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Scaria,_Emil&oldid=- (Version vom 4. November 2024, 21:14 Uhr UTC)
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Scaria: Emil S., einer der bedeutendsten dramatischen Sänger und der größte Bassist unserer Zeit, wurde am 18. September 1840 im steirischen Graz als der Sohn eines angesehenen Arztes geboren. 1856 bezog er die Universität Wien, wo er Gelegenheit fand, seine vielversprechende Gesangsanlage unter der Leitung des tüchtigen Gentiluomo auszubilden. Bald entsagte er dem Rechtsstudium und fand die Mittel zur Existenz, wie zur Weiterbildung durch Nachhülfe, welche er andern Schülern seines Meisters leistete. In Pest betrat er dann 1860 zum ersten Male die Bühne als St. Bris in den Hugenotten. Aber ihm geschah es, wie manchem andern Künstler, wie z. B. seinem bedeutendsten Kunstgenossen Franz Betz: der erste Versuch endete mit einem Mißerfolg und mit der Versicherung des Directors, daß aus dem jungen Sänger nichts werden würde. In Brünn und Frankfurt erging es diesem nicht viel besser. Da entschloß er sich 1862, obwol soeben jung verheirathet, nach London zu gehen und unter Garcia’s Anleitung von neuem zu studieren. Dort hörte ihn Franz Abt und empfahl den mittlerweile bedeutend Vorgeschrittenen nach Dessau. Hier wirkte e: aber nur ein Jahr; ebensolange dann in Leipzig, um bald einem Rufe nach Dresden Folge zu leisten. An der sächsischen Hofbühne entfaltete er nun von 1864 bis 1872 eine große und vielseitige Thätigkeit. Seine Stimme, ein [477] wuchtiger, aber noch wenig geschmeidiger Baß, erlangte durch fleißiges Streben weiteren Umfang nach der Tiefe und Höhe und eine bei dieser Fülle des Materials nicht gewöhnliche Beweglichkeit; ebenso wuchs seine dramatische Darstellungskraft, so daß schon 1870 ein maßgebender Dresdener Kritiker, L. Hartmann, von ihm sagen konnte, daß er innerhalb der deutschen Bühne als Landgraf (Tannhäuser), Hercules (Alceste), Melchthal (Tell) kaum einen Rivalen hätte. Daß er vermöge seiner musterhaften Declamation den Forderungen des späteren Wagner’schen Stils ganz besonders gerecht werden konnte, zeigte er schon damals in der Rolle des Pogner (Meistersinger), die er zu einem „vorzüglich gelungenen Meisterbilde“ gestaltete. Als man dann versuchte, ihn als Baßbuffo zu verwenden, verhalfen ihm sein Fleiß und sein Talent zum Charakterisiren auch in diesem Fache zu den besten Erfolgen. Seine komischen Leistungen als Dulcamara (Liebestrank), Bürgermeister (Czar und Zimmermann), Falstaff (Lustige Weiber) gefielen ebenso, wie seine ernst-dramatischen. Es war natürlich, daß sich auf diese „Säule des Repertoires“ die Blicke anderer Bühnenleiter richteten; Gastspielreisen, auf denen S. im Monat 25 Mal aufzutreten im Stande war, verbreiteten seinen künstlerischen Ruf. 1869 wirkte er im großen Musikfest zu Düsseldorf, 1870 in den Weimarer Musteraufführungen mit; überall trat er vortheilhaft durch Lernlust, Sicherheit und feinsinnige Durcharbeitung der Partien hervor. So war es kein Wunder, daß 1872 die Wiener Hofoper den jungen Sänger unter glänzenden Bedingungen anwarb. An diesem gerade in der nächsten Zeit in glänzendem Aufschwung begriffenen Kunstinstitut hat er dann an 14 Jahre bis beinahe zu seinem Tode gesungen. Je mehr sich sein Rollenfach, das nun bald alle Baß- und viele Baritonpartien in sich begriff, erweiterte, je mehr die Schönheit und Größe seiner Mittel sich offenbarten, desto bedeutender war seine Stellung an der Hofbühne, desto verbreiteter sein Ruf; in einer Zeit, wo richtige Bässe so selten sind, wie echte Tenöre, hatte er wenige Rivalen, die neben ihm auch nur genannt werden konnten. 1876 war er von Richard Wagner ausersehen worden, den Hagen in der „Götterdämmerung“ darzustellen. Leider endete die Mitwirkung Scaria’s in unerquicklicher Weise mit der Abreise des in seinen Forderungen allzu anspruchsvollen Sängers noch vor der Aufführung; nur in einer Probe konnte er zeigen, welch gewaltige Figur er aus dem dämonischen Nibelungensohne gestaltet hätte. Im Laufe der nächsten Jahre machte er sich dann auch die Hauptrollen der späteren Wagner’schen Dramen zu eigen; so schuf er einen herrlichen Hans Sachs, einen edlen König Marke, vor allem einen zugleich majestätischen und tief empfindenden Wotan. In dieser letzten Partie trat er in Berlin auf, als Angelo Neumann hier mit den erwähltesten Kräften Mai 1881 im Victoriatheater zum ersten Male den „Ring der Nibelungen“ aufführte. Im Anschluß daran fand am 2. Juni im königl. Opernhause eine „Lohengrin“-Vorstellung statt; S. sang den König Heinrich und hob diese sonst nicht so bedeutsame Rolle durch seine wuchtige und hoheitvolle Kunst zu ungeahnter Höhe. Stets war er des größten Erfolges sicher; auch Wagner selbst, der voller Bewunderung seinen Wotan gehört hatte, vergaß allen Groll und forderte S. auf, im nächsten Jahre im „Parsifal“ in Bayreuth mitzuwirken. Hier trat er nun am 26. Juli 1882 in der ersten Aufführung des Bühnenweihfestspiels als Gurnemanz auf und hatte damit den Höhepunkt seiner Laufbahn erreicht: wohl kaum jemals hat eine Bühnenleistung so einstimmigen und nachhaltigen Enthusiasmus erregt. Im Sommer 1883 und 1884 wirkte S. dann in derselben Rolle in Bayreuth, während er an der Wiener Hofoper und in Gastspielen seine reiche und befriedigende Thätigkeit fortsetzte. Da drangen 1885 zum ersten Male beunruhigende Nachrichten über seine Gesundheit in die Oeffentlichkeit. Schon seit mehreren Jahren hatte das Behalten des Textes dem [478] Sänger Schwierigkeiten bereitet; er bedurfte mehr als andere des Souffleurs. Diese Gedächtnißschwäche steigerte sich allmählich, bis sie in trauriger Weise zur Katastrophe führte; der einst so sichere und unfehlbare Künstler hatte seine altvertraute Rolle während der Vorstellung vergessen! Fehlte es nicht an Stimmen die in thörichter Verblendung die anhaltende Hingabe an die schwierigen Wagnerschen Rollen für das furchtbare Geschick Scaria’s verantwortlich machten, so wurde von anderer Seite den Aufregungen des Börsenspiels die Schuld des jähen Verfalls beigemessen. Auffallend war es schon früher, daß der hünenstarke Mann bereits so jung vollständig ergraut war. Jetzt war er gezwungen sich gänzliche Ruhe zu gönnen; er zog sich mit seiner Familie nach seiner Besitzung bei Loschwitz in der Nähe von Dresden zurück. Aber es war ihm nicht mehr vergönnt zu genesen; in der Blüthe des Lebens, 46 Jahre alt, ist er am 22. Juli 1886 gestorben: genau um die Zeit, als in Bayreuth der Parsifal nach längerer Pause zum ersten Male wiedergegeben wurde – zum ersten Male ohne den ersten und größten Gurnemanz!

An diese Meisterleistung muß man auch anknüpfen, wenn man in kurzen Zügen die Eigenart Scaria’s und seine Bedeutung für die dramatische Kunst unserer Zeit kennzeichnen will. Richard Wagner hat für seinen Gesangsstil die vollkommene Deutlichkeit als erste Bedingung hingestellt, „ohne welche Drama wie Musik, Rede wie Melodie gleich unverständlich bleiben“. Diese Deutlichkeit des Sprachgesangs kann aber nur erreicht werden, wenn jeder Silbe, auch der kleinsten, ihr Recht wird, wenn die schöne, melodische Linie des Vortrags nicht durch die Anstrengungen falschen Affects, durch heftige und unvermittelte Accente durchbrochen wird. Diese Forderung klingt einfach und ist doch fast niemals erfüllt worden, denn nur höchst selten vereinigen sich die beiden dazu nöthigen Eigenschaften: musterhafte Aussprache und mühelos in allen Lagen und Stärkegraden ansprechende Stimme. Scaria’s Organ verband beides. Die fast beispiellose Deutlichkeit und Eindringlichkeit der Sprache, die Fülle und Sonorität des Tons, dem wuchtigste Kraft und weichste Zartheit in gleicher Weise zu Gebote standen, ergaben in ihrer Verschmelzung eine Schönheit der Declamation, welche dem Ideale des Wagner’schen Stils sehr nahe kam. Da diese mächtige Stimme ohne Anstrengung über den Wogen des Orchesters schwebte, da überdies die musikalische Sicherheit des Sängers die Schwierigkeiten ungewöhnlicher Intervalle wie spielend überwand, so empfand der Hörer gar nicht die Gefahren dieser großen Recitationsweise; ohne Mühe konnte er jenen bedeutsamen dramatischen Erzählungen des Wotan, des Gurnemanz folgen, in welchen die Exposition der „Walküre“, des „Parsifal“ besteht und welche leicht ermüdend wirken, wenn nicht eine vollendete Vortragskunst, wie sie eben Scaria besaß, Verstand und Gemüth stets gleichmäßig rege erhält. Denn zum Gemüthe zu sprechen, war diesem Sänger ebenfalls in höchstem Maße gegeben, sein gewaltiges Organ war nicht nur ein tönendes Erz, sondern es strömte aus ihm auch eine Fülle von Empfindung, die aber nie durch falsche Sentimentalität, durch selbstgefällige Berechnung zu wirken versuchte. Daher gelang ihm die Darstellung des beginnenden noch rüstigen Greisenalters ganz vortrefflich, wie es in Gurnemanz und Hans Sachs sich so bieder, edel und männlich ausprägt. Scaria’s große und kräftige, reckenhafte Gestalt, sein durchdachtes, naturwahres, eindringliches und den wechselnden Momenten der Handlung stets angepaßtes Spiel unterstützte hier aufs wirksamste seine wundervolle Stimme; derart, daß diese seltene Vereinigung Unvergleichliches hervorbrachte und jedem, der sich einmal daran erlabt hat, unvergeßlich geblieben ist. Und so war der frühe Tod dieses begnadeten Sängers ein wirklich unersetzlicher Verlust; noch heute harrt die deutsche Bühne vergebens auf einen würdigen Nachfolger.