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ADB:Roller, Georg Jakob

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Artikel „Roller, Georg Jakob“ von Binder. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 29 (1889), S. 97–99, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Roller,_Georg_Jakob&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 10:50 Uhr UTC)
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Roller: Georg Jakob R., namhafter Schulmann besonders hinsichtlich des Taubstummenunterrichts, geb. am 4. März 1774 zu Wildberg an der Nagold in Württemberg, † am 27. Februar 1857 zu Friedberg in Hessen. R. war der Sohn eines Tuchfabrikanten; da der Knabe sich sehr befähigt zeigte, schickten ihn die Eltern in die neugegründete lateinische Schule des Städtchens, wo er unter der trefflichen Leitung seines Lehrers Duttenhofer außerordentliche Fortschritte machte und als Primus in Prima die Anstalt absolvierte. Das Vorbild dieses Lehrers weckte und entschied seine Neigung zum Lehrberuf, so daß er diesen dem zuvor gewählten Studium der Theologie vorzog. Da es damals noch keine Lehrerbildungsanstalten gab, so trat er behufs fachmännischer Ausbildung in den Präparandenunterricht eines geübten Pädagogen, des Lehrers Eisenmann in Wildberg, ein. Mit rastlosem Eifer wurde nun die Vorbereitung zum Lehramt betrieben, dabei aber auch die Lektüre der alten Klassiker als liebgewonnenes Privatstudium nicht vernachlässigt. Die nach Verlauf von zwei Jahren mit vorzüglichem Erfolg bestandene Prüfung verschaffte ihm eine Schulgehilfenstelle, wobei er zugleich beauftragt wurde, den Plan zu einer neuen Organisation seiner Schule zu entwerfen, der genehmigt und von ihm ausgeführt wurde. Drei Jahre später wurde er als Lehrer in die Nähe von Stuttgart berufen, wo er im Verein mit noch zwei Kollegen einer sehr bevölkerten Schule vorstand, deren Leitung er nach der Erkrankung dieser beiden Lehrer bald allein weiter führte. Die Nähe Stuttgarts mit seinen Lehranstalten und geistigen Anregungen sowie auch der Besuch naher und ferner Unterrichtsinstitute förderte Roller’s pädagogische Bestrebungen in erheblichem Maße. Seiner Thätigkeit bot sich indessen bald ein anderer Wirkungskreis. Auf die Empfehlungen des Kirchenrats Wolf in Heidelberg erhielt Roller eine Stelle als Erzieher des 1794 geborenen Kindes Carl Philipp aus der Gutsbesitzer- und Posthalterfamilie Ritter zu Frankenstein in der Pfalz. Die außerordentlichen Erfolge, die seine eigenartige individualisierende Unterrichts- und Erziehungsmethode erzielte, erregten die Aufmerksamkeit vieler Familien benachbarter Orte, wie Kaiserslautern, Neustadt, Bad Dürkheim u. a., die ihre Kinder nun ebenfalls Roller’s Leitung anvertrauten; so sammelte sich bald um den strebsamen Lehrer eine stattliche Schülerzahl, deren treffliche Leistungen seinem pädagogischen Geschick eine immer ausgedehntere Anerkennung verschafften. 1804 siedelte er einer wiederholt an ihn ergangenen Einladung folgend nach Otterberg bei Kaiserslautern über, um dort ein umfänglicheres Erziehungsinstitut zu gründen. Die Frankensteiner Zöglinge folgten ihm dorthin, und die neue Anstalt gewann nach kurzer Zeit schon solche Bedeutung, daß in der dortigen Gegend kein Lehrer eine Anstellung erlangte, der nicht mindestens ein Jahr lang dieselbe besucht, Roller’s Lehrweise kennen gelernt hatte und ein von R. über die Befähigung ausgestelltes Zeugniß vorlegen konnte, so daß das Institut als eine Art von Lehrerseminar betrachtet werden kann. Um seinen pädagogischen Gesichtskreis zu erweitern, machte R. 1810 in Begleitung eines seiner Zöglinge eine Reise nach Yverdon zu Pestalozzi. Groß war der Eindruck, den die Lehrart dieses Meisters und die Einrichtung seiner Anstalt auf R. übte. Er verweilte dort einige Zeit in innigem Verkehr mit den Lehrern und Zöglingen, nahm am Unterricht, den gymnastischen Uebungen und den Excursionen Theil, besuchte dann auf der Rückreise noch einige bedeutende Lehranstalten, und langte im Herbste jenes Jahres, reich an weiteren Erfahrungen, wieder in Otterberg an, wo er noch bis [98] 1813 dem dortigen Institute vorstand. In diesem Jahre wurde seiner weiteren und höheren Kreisen bekannt gewordenen Befähigung und Arbeitskraft eine neue und bedeutendere Wirksamkeit zugewiesen: R. wurde von der obersten Schulbehörde zu Mainz durch ein Dekret Napoleons als Leiter der Vorbereitungsklasse an das Gymnasium nach Worms berufen; hier bei den gesteigerten Anforderungen des höheren Lehramts und bei dem täglichen Verkehr mit seinen Amtsgenossen war reiche Gelegenheit zu weiterer geistiger Anregung und Fortbildung gegeben. Obwohl diese neue Stellung eine fünfstündige Lehrtätigkeit täglich beanspruchte, schien dem regsamen Manne dieses Schaffen für seine Arbeitslust zu kurz bemessen; um seine noch freie Zeit auszunützen, gründete R. auf das Ersuchen der angesehensten Familien der Stadt eine Art von Mädcheninstitut, wo er in drei Kursen einer großen Zahl von Schülerinnen täglich während der ihm von Berufsarbeiten freigebliebenen Stunden in den verschiedenen Lehrfächern erfolgreichen Unterricht erteilte. Auch den um jene Zeit mit allgemeinem Interesse aufgenommenen Turnübungen wandte R. seine Aufmerksamkeit und Thätigkeit zu; mit Erlaubniß der Regierung errichtete er eine Turnanstalt für das Wormser Gymnasium, dessen Leitung er selbst übernahm. Mitten aus diesem regsamen, vielseitigen Wirken sollte ein Zufall R. einer ihm bisher völlig fremden und fernliegenden Lehrthätigkeit zuführen, die in der Folge die eigentliche Hauptaufgabe seines Lebens wurde und die der Persönlichkeit des Mannes erst ihre volle Bedeutung gibt. Im Jahr 1820 wurde R. ein taubstummer Knabe zum Unterricht übergeben. Der Taubstummenunterricht war ihm ein vollständig neues Gebiet. Nie hatte er zuvor von einer Methode dieses Unterrichts etwas gehört oder gelesen. Nun erwachte sein Interesse geweckt durch das Mitleid mit den Unglücklichen. Er unterzog sich der Aufgabe mit dem gläubigen Vertrauen, daß sein ernstes Streben wohl den zum Ziel führenden Weg finden werde. Sein Bemühen hatte in der Tat glücklichen Erfolg; bald traten noch drei taubstumme Schüler in seinen Unterricht ein, der sich durch tägliche Erfahrungen und Uebungen stetig vervollkommnete; von der anfänglich gebrauchten Zeichensprache ging er bald zur Laut- und Schriftsprache über. Lesen, Rechnen und auch die Religionslehre wurden in den Bereich des Unterrichts gezogen. Nachdem R. so auf autodidaktischem Wege eine Summe von Kenntnissen und Erfahrungen gewonnen hatte, suchte er nun durch eifriges Studium fachmännischer Schriften auch theoretisch seine Methode zu verbessern oder zu sichern. Der Ruf seiner Erfolge führte seinem Unterricht nach und nach eine so große Anzahl auswärtiger Zöglinge zu, dass R., um die von seinen dienstlichen Pflichten freie Zeit ganz seinen taubstummen Schülern widmen zu können, das einträglichere Mädcheninstitut trotz seiner zahlreichen Familie opferfreudig aufgab. Um diese Zeit lenkte sich das Interesse mehrerer Regierungen wie in Preußen, Bayern und auch in Hessen der Errichtung von staatlichen Taubstummenanstalten zu und R. wurde von der hessischen Regierung, die auf seine Bestrebungen und Erfolge aufmerksam geworden war, 1837 mit der Organisation eines zu Friedberg errichteten derartigen Institutes betraut und ihm die Direktion desselben überwiesen. Jetzt hatte R. das Ziel seines Strebens, seinen eigentlichen Beruf gefunden. Vor der Übernahme seines Amtes besuchte R., von der Regierung unterstützt, noch mehrere bedeutende auswärtige Taubstummenanstalten und trat dann im Mai desselben Jahres in seine neue Stellung ein. Hier entfaltete nun R. in langjährigem Wirken auf dem mit inniger Neigung gewählten und seiner Befähigung vornehmlich zusagenden Gebiete im Kreise seiner geliebten und ihn liebenden Zöglinge mit stets wachsenden Erfolgen den ganzen Reichthum seines Gemüthes, seiner Kenntnisse und pädagogischen Erfahrung. Von früh bis spät war täglich seine mit Berufsfreude und Pflichtgefühl geübte Sorgfalt auf die geistige Führung seiner Pfleglinge gerichtet und [99] die Anstalt gedieh rasch in segensreichem Wachsthum. In dieser Stellung als Direktor und Lehrer der Anstalt war ihm aber auch zugleich die Möglichkeit gegeben, sein Wissen und seine Erfahrungen im Taubstummenunterricht auch zur Anleitung künftiger Lehrer oder Förderer derartiger Institute zu verwerthen. Es stand nämlich seine Anstalt in enger Verbindung mit dem Friedberger Prediger- und Lehrerseminar und R. fiel die Aufgabe zu, in diesen beiden Anstalten Vorlesungen über Methodik des Taubstummenunterrichts zu halten und zugleich den Candidaten der Seminare durch den Zutritt in seine Unterrichtsstunden einen praktischen Einblick in seine Lehrart zu geben. Roller’s Methode und Persönlichkeit galt bald als Autorität im Kreise seiner Fachgenossen. Auf der in den vierziger Jahren zu Cannstadt stattfindenden Versammlung der Taubstummenlehrer war R. der geistige Mittelpunkt und der Leiter derselben. Die hessische Regierung ehrte seine Verdienste durch die Verleihung des Ludwigsordens und die Universität Gießen durch die Ertheilung der Doctorwürde. Nach langem segensreichem Wirken trat R., 81 Jahre alt, durch körperliche Schwäche gezwungen, in den Ruhestand. Er starb wenige Tage vor seinem 83. Geburtstage.

Vgl.: Heindl, Biographien der berühmt. und verdienstv. Pädagogen.
Binder.