ADB:Richter, Karl Thomas
Richter: Karl Thomas R., Nationalökonom und Schöngeist, als letzterer unter dem Pseudonym Karl Thomas, wurde am 4. November 1838 zu Leitmeritz in Böhmen als Sohn eines dortigen Bürgers geboren, und starb am 15. October 1878 als Professor an der Universität zu Prag. Dieser Mann stellt eine seltene Vereinigung dar von hoher geistiger Begabung, wissenschaftlichem Interesse, großer mit ausgeprägtem Gemeinsinn verbundener, ins gesellschaftliche Leben kraftvoll eingreifender Energie einerseits, mit einer nicht gewöhnlichen Rednergabe und praktischer Begabung andererseits, all’ das begleitet von unermüdlicher Arbeitslust und Arbeitskraft.
R. verließ mit seiner elterlichen Familie frühzeitig die Heimathsstadt, und übersiedelte nach Absolvirung der zum Theil in derselben und dann in Prag zurückgelegten Gymnasialstudien in die Nähe Wiens. Während seiner akademischen Lehrzeit spielte er vermöge seiner überlegenen und feurigen Natur, dann aber ganz besonders infolge seiner Rednergabe in den studentischen Kreisen eine leitende Rolle. Nach Promovirung zum Doctor der Rechte wirkte er kurze Zeit in Wien als Lehrer an einer Mittelschule, worauf er sich dann, anfangs der sechziger Jahre, auf Reisen, und zwar vornehmlich nach Berlin und Paris begab. Nach Wien zurückgekehrt, fand er als Secretär der Donau-Dampffschifffahrtsgesellschaft Beschäftigung und machte eine Reise nach dem Oriente. Daraufhin versuchte er seine Absicht, sich der akademischen Lehrthätigkeit zuzuwenden, auszuführen und erlangte sehr bald, schon im J. 1868, die außerordentliche und drei Jahre später die ordentliche Professur der Nationalökonomie in Prag, wo er von nun an bis zu seinem Lebensende ständigen Aufenthalt nahm. Richter’s rastloser, stets angeregter und anregender Geist, der schon in den wechselnden Schicksalen seines kurzen Lebenslaufes einigermaßen hervortritt, ist auch in seiner öffentlichen Wirksamkeit zu erkennen, sowohl in der schriftstellerischen, als in der rednerischen und organisatorischen. R. zeigte sich stets durch die äußeren Einflüsse des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens in seiner Thätigkeit beeinflußt, sowie er auf dasselbe seinerseits wieder lebhaft einwirkte; viele der meist kürzeren Reden und Schriften sind Gelegenheitsschriften im besseren Wortverstande, hervorgegangen aus den verschiedenen Phasen seiner äußeren Lebensstellung und seinen engeren Interessensphären. Abgesehen von dem durch den Pariser Aufenthalt angeregten größeren Werke über das „Staatsrecht der französischen Revolution“ (1865/66) [490] scheidet sich seine gesammte Wirksamkeit in eine volkswirthschaftliche und eine schöngeistige.
In volkswirthschaftlicher Beziehung wird R. häufig als einer der wenigen Schüler L. v. Stein’s bezeichnet, und er erinnert thatsächlich in seinen Schriften durch die stete Verwerthung derselben historischen Kategorien, dann durch die aprioristischen Constructionen und vornehmlich durch die Diction bedeutend an den Wiener Lehrer. Seine Schriften kennzeichnen sich, abgesehen von einigen wenigen, wie z. B. den Weltausstellungsschriften, meist durch Allgemeinheit des Inhaltes, bestehende Redewendungen und eine flüssige Sprache. Insbesondere gilt dies dort, wo sie aus Reden hervorgingen und es mag diesem Umstande, sowie ihrem Charakter als Gelegenheitsschriften in erster Linie zuzuschreiben sein, daß sie zumeist wiederholt aufgelegt wurden. Ein stets wiederkehrendes Gebiet in diesen Arbeiten ist der „Welthandel“, der gleichsam den Grundton aller seiner Arbeiten bildete. R. schrieb keine größeren oder systematischen Bücher, in denen seine Stellungnahme in der volkswirthschaftlichen Theorie niedergelegt wäre, doch ist seine liberale und freihändlerische Richtung nirgends zu verkennen. Die wichtigsten ökonomischen Schriften sind folgende. Als ganz junger Mann (1865) verfaßte er in Berlin „Kunst und Wissenschaft und ihre Rechte im Staate“ und „Kunst und Wissenschaft in Gewerbe und Industrie“ (1866, 2. Aufl. 1867 unter dem Titel: „Das Kunstgewerbe, die Gewerbe- und Kunstgewerbeschulen und Marken-, Muster- und Gewerbeschutz“), welche Schriften sich als Verbindung der beiden in R. lebenden Geistesrichtungen darstellen und seinen Namen rasch bekannt machten. Aus Vorträgen in Wiener Gewerbeverein und im Frauenerwerbverein entstanden „Ueber die Entwickelung des Arbeiterstandes“ (1866, 2. Aufl. im selb. J.) und „Das Recht der Frauen auf Arbeit und die Organisation der Frauenarbeit. Mit einem Anh. Ueber Ausstellungen der Frauenarbeit“ (1868, 2. Aufl. 1869). Als verspätete Frucht seiner Thätigkeit in der Donaugesellschaft kann die kleine Schrift „Oesterreichische Pioniere“ (Vierteljahrschrift für Volkswirthschaft und Culturgeschichte, 1872, I. Bd. und im S.-A.) bezeichnet werden. An akademischen Schriften sind die Prager Antrittsrede „Ueber das Studium der Volkswirthschaft in Oesterreich“ (1869) und die „Einleitung in das Studium der Volkswirthschaft“ (1871) zu nennen. In den folgenden Jahren war R. mit der Redaction des officiellen Wiener Weltausstellungberichtes beschäftigt, für welchen er mehrere Monographien über einzelne Industriegruppen, dann aber seine größte volkswirthschaftliche Schrift „Die Fortschritte der Cultur“ (1875) als Einleitung verfaßte. Diese letztere gibt in großen, R. so recht eigenen Zügen, ein zusammenfassendes culturhistorisches Bild der durch die Ausstellung zu Tage getretenen wirthschaftlichen Entwickelung, nebst einen noch zu erwähnenden, seine persönlichen Angelegenheiten berührenden Vorworte. Auch schon früher hatte sich R. mit Ausstellungen vertraut gemacht und seine „Betrachtung über die Weltausstellung“ (1867, 2. Aufl. 1868) geschrieben.
Bei Ausübung seiner Lehrthätigkeit kam R. seine rednerische Begabung sehr zu statten. Er wußte die Hörer durch große Ausblicke eröffnenende, stets frei und schwungvoll gehaltene Vorträge zu fesseln, nur litten dieselben – was gleichzeitig von seinen volkswirthschaftlichen Schriften, insbesondere den kleinen, aus Reden hervorgegangenen gilt – inhaltlich an einer gewissen Eintönigkeit durch Wiederholung derselben Ideen und an einem gewissen Mangel sachlicher Greifbarkeit. – Im Gemeinleben war R. unermüdlich thätig und nahm insbesondere den werkthätigsten Antheil an der Gründung des Frauenerwerbsvereins und der höheren Töchterschule in Prag. Eine peinliche Episode seines Lebens war seine Antheilnahme an der Wiener Weltausstellung des Jahres 1873. Er wurde in letzter Minute und in formlosester Weise (durch ein einfaches Telegramm) [491] zum Chefredacteur des officiellen Ausstellungsberichtes bestellt, übersiedelte für mehrere Monate nach Wien, organisirte in Hast und unter unsäglichen Schwierigkeiten einen großen Stab von Mitarbeitern und entwickelte durch ein Jahr, man könnte sagen Tag und Nacht, eine fieberhafte unermüdliche Thätigkeit. Dabei fand er nicht die geringste moralische Unterstützung seitens der leitenden Kreise, die ihn zum mindesten vergessen zu habe schienen, sowie er auch vergebens bemüht war, seine eigene Stellung zu präcisiren und nur mit Anwendung äußerster Mittel für die Mitarbeiter resp. Berichterstatter eine gewisse materielle Beihülfe durchzusetzen vermochte. All’ dies verbitterte ihn auf das empfindlichste, und als man nach Vollendung des gewaltigen in der Oeffentlichkeit allseitig annerkannten Berichtes auch noch sein geistiges Eigenthum an demselben anzutasten versuchte, da bäumte sich sein Stolz, und er stellte den ihm für seine Redactionsthätigkeit verliehenen Orden dem Monarchen wieder zurück. Diese rücksichtslose Behandlung, über die sich R. in dem erwähnten Vorworte zu „Fortschritte der Cultur“ des Näheren ausspricht, was dann die Confiscation des Buches zur Folge hatte, mag im Verein mit den überstandenen Anstrengungen den nachtheiligsten Einfluß auf Richter’s Gesundheitszustand ausgeübt haben. R. stellte fortan seine volkswirthschaftlich-litterarische Thätigkeit ein und beschäftigte sich vornehmlich wieder mit der Belletristik. Es erschienen während des Prager Aufenthaltes überhaupt seine Novellen und Epen, die zahlreichen Essay’s und Feuilleton’s, die kleineren Bühnenstücke und Lustspiele, und wurde gleichfalls in Prag seine Tragödie „Samson“ aufgeführt; auch sein Nachlaß enthielt zahlreiche Werke poetischen Inhaltes. Ueberhaupt war die Vorliebe für schöngeistige Arbeit tief in Richter’s Natur gelegen und hatte er dieselbe schon während des Pariser Aufenthaltes durch Sammlung von Materialien über Schiller’s Räuber („Schiller und seine Räuber in der französischen Revolution“, 1865) und über Anacharsis Clootz (1886) bethätigt.
R. wurde mitten in reger Thätigkeit von einem Herzschlage ereilt, nachdem er allerdings schon einige Jahre gelitten hatte; noch am Vormittage seines Sterbetages hatte er die Vorlesungen eröffnet. – Er war seit seinem Berliner Aufenthalte durch 13 Jahre mit Marie, der Tochter des Charakterspielers Heinrich Moritz vermählt, welche damals am Berliner Hoftheater ihre Künstlerlaufbahn begann; aus dieser Ehe entstammten drei Kinder. Seine Gattin ertheilte nach seinem Tode am Prager Conservatorium dramatischen Unterricht.
- Bohemia vom 16. Oct. 1878. – Wurzbach, Biogr. Lexikon, 26 Bd. S. 63 ff.