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ADB:Raebiger, Julius Ferdinand

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Artikel „Raebiger, Julius Ferdinand“ von Carl Heinrich Cornill in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 184–186, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raebiger,_Julius_Ferdinand&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 01:48 Uhr UTC)
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Raebiger: Julius Ferdinand R. wurde geboren am 20. April 1811 zu Lohsa in der damals noch sächsischen Oberlausitz als jüngstes von acht Kindern eines ländlichen Besitzers. Während die Geschwister im elterlichen Stande verblieben, war der hochbegabte Jüngste schon früh fest entschlossen, Theologie zu studiren. Nachdem er auf dem Gymnasium in Bautzen einen tüchtigen Grund gelegt und sich namentlich eine solide classische Bildung angeeignet hatte – die lateinische Sprache beherrschte er zeitlebens meisterhaft –, studirte er seit 1829 in Leipzig und seit 1831 in Breslau Philosophie und Theologie. In Breslau gewannen wissenschaftlich der gründliche Kenner des Alten Testaments und der semitischen Sprachen Middeldorpf und theologisch der anerkannte Wortführer des Rationalismus David Schulz bestimmenden Einfluß auf ihn. Nach einer längeren Hauslehrerzeit erwarb er sich am 18. November 1836 in Breslau den philosophischen Doctorgrad, wobei das Diplom seine Kenntniß der orientalischen Sprachen besonders rühmt, und am 17. Februar 1838 die theologische Licentiatenwürde, welcher sofort seine Habilitirung an der theologischen Facultät folgte. Von dem Sommersemester 1838 bis zu seinem Todesjahr ist er ununterbrochen 53 Jahre lang als Lehrer an der Breslauer Hochschule thätig gewesen und hat eine reiche Wirksamkeit entfaltet, getragen von der dauernden Liebe und Verehrung seiner zahlreichen Schüler. Die erste Periode seines akademischen Lebens war ein schweres Martyrium: er hatte das Loos des mißliebigen Freisinnigen gründlich auszukosten. Erst im Juli 1847 konnte die Facultät seine Ernennung zum außerordentlichen Professor erreichen. Als er, der stets mit warmem Herzen und lebhaftem Interesse auch im kirchlichen Leben stand, vollends von 1849 bis 1851 die „Schlesische Zeitschrift für evangelische Kirchengemeinschaft“ herausgab, welche im Geiste der Union im ursprünglichen Sinne für ein von jeder confessionellen Engherzigkeit und jeder geistlichen Bevormundung freies kirchliches Gemeindeleben eintrat, war er in den Augen des Ministeriums [185] v. Raumer gerichtet, und wurde, wie das damals üblich war, durch eine Anstellung als Custos der Universitätsbibliothek abgefunden. Wohl ernannte ihn die Facultät 1853 zum Doctor der Theologie honoris causa; aber das Ordinariat brachte ihm an der Schwelle des fünfzigsten Lebensjahres erst die neue Aera mit dem neuen Cultusminister v. Bethmann-Hollweg im October 1859: und so sehr hatte man die Empfindung für das Symptomatische des Falles, und so sehr sah man in R. das charaktervolle Opfer von Mannesmuth und Ueberzeugungstreue, daß, so wie seine Ernennung bekannt geworden war, die gesammte Breslauer Studentenschaft ihm einen imposanten Fackelzug darbrachte. Es war ihm noch 32 Jahre vergönnt, sich dieser Wendung zum Bessern zu erfreuen. Allgemein verehrt von seinen Collegen, die ihn für das Amtsjahr 1869/70 einstimmig zum Rector der Universität, sowie von seinen Mitbürgern, die ihn 25 Jahre hintereinander zum Stadtverordneten wählten, bis er wegen hohen Alters sein Ehrenamt freiwillig niederlegte, bis zuletzt in ungebrochener geistiger und körperlicher Frische schaffend, ist er am 18. November 1891 gestorben.

Die wissenschaftliche und Lehrthätigkeit Raebiger’s ist ziemlich gleichmäßig dem Neuen wie dem Alten Testamente gewidmet. Sein neutestamentliches Hauptwerk sind Untersuchungen über die beiden Korintherbriefe, 1847, eine zweite Ausgabe 1886 erschienen, zu welchem eine Monographie über die Paulinische Christologie tritt; in der alttestamentlichen Wissenschaft hat er sich durch die 1864 von ihm besorgte vierte Auflage der Biblischen Archäologie de Wette’s am bekanntesten gemacht; selbständige Arbeiten veröffentlichte er über die Ethik der Apokryphen und über das Buch Hiob. Aber die Disciplin, die ihm am meisten am Herzen lag und welcher seine eigentliche Lebensarbeit galt, war die Encyklopädie, und so ist denn auch seine „Theologik oder Encyklopädie der Theologie“, welche er, schon fast ein Siebziger, 1880 als reife Frucht 40jährigen Lehrens und Forschens veröffentlichte, das Werk, welches seinen Namen in der theologischen Wissenschaft fortleben lassen wird. Schon der von ihm geprägte neue Name für die Disciplin „Theologik“ zeigt, daß R. mehr geben wollte, als eine bloße Uebersicht über die Theologie und ihre einzelnen Disciplinen. Sie muß „eine Theologie in nuce“ sein und hat „keine andere Aufgabe, als die Theologie als Wissenschaft darzustellen“: daß die Theologie eine Wissenschaft im vollsten Sinne des Wortes sei und sein müsse, war ein Punkt, auf welchen R. stets den größten Nachdruck legte, hatte doch auch seine Rectoratsrede vom 15. October 1869 das Thema „Die Entwicklung der Theologie zur Wissenschaft“. „Der oberste und höchste Zweck der Theologik ist, die Theologie als Wissenschaft zu erweisen“, und zwar nicht nur Theologen, angehenden wie schon ausgebildeten, sondern auch den Nicht-Theologen gegenüber. Sie soll aber auch an der Weiterbildung der Theologie mithelfen, indem sie „auf die Aufgaben hinweist, welche die Theologie in nächster Zukunft zu lösen hat“. Als wesentlichste dieser Aufgaben und alleinige Bürgschaft für eine Zukunft der Theologie als Wissenschaft betrachtet R. die Verschmelzung und gegenseitige Durchdringung derjenigen beiden Richtungen, welche zu seiner Werdezeit die herrschenden waren, nämlich der Schleiermacher’schen Gefühlstheologie und der speculativen im Sinne Hegel’s und seiner Schule. Als echter Sohn der philosophischen Aera hat er die Philosophie stets hochgehalten und ihre Unentbehrlichkeit für die Theologie als Wissenschaft stets nachdrücklich verfochten. „Will die Theologie selbständig, sei es mit der Philosophie, sei es gegen sie, an der schwierigsten Aufgabe der Gegenwart wirken, will sie das Christenthum in seiner allgemeinen Berechtigung und die Kirche als den zu seiner Verwirklichung nothwendigen Organismus erweisen, [186] so muß sie nicht nur von einem kirchlichen oder religiösen Interesse, sondern von dem Wahrheitsinteresse an ihrem Gegenstand sich leiten lassen und darum ihr intellectuelles Verhalten so bestimmen, daß sie, obschon eine positive und Offenbarungswissenschaft, durch ihren den übrigen Wissenschaften gleichartigen Charakter sich Anerkennung und Geltung verschafft.“

Auch im praktischen kirchlichen Leben hat R. stets gestanden, ihm liebevolles Interesse und aufopferungsvolle Arbeit zugewendet. Namentlich der Sache des Protestantenvereins war er mit ganzem Herzen zugethan. Er war Begründer und Vorsitzender des schlesischen, Mitglied des Ausschusses des deutschen Protestantenvereins. Der Besuch der Protestantentage war fast das einzige, was er sich an Erholung gönnte: er versäumte keinen und war stets im Mittelpunkt als Gegenstand lebhafter Ovationen.

Ueber R. als Menschen herrschte nur Eine Stimme. Freund und Feind erkannte in ihm einen echt mannhaften Charakter von unbestechlicher Wahrheitsliebe und unbeugsamem Wahrheitsmuth. Besonders ist aber hervorzuheben, daß er durch seine schweren Erlebnisse und die jederzeit ihm reichlich entgegengebrachte Feindschaft sich nicht verbittern ließ: er blieb stets mild und wohlwollend, und es war ihm Bedürfniß, überall das Gute anzuerkennen. So ist denn namentlich der persönliche Einfluß, den er ausübte, ein tiefgehender und nachhaltiger gewesen: noch heute bekennt sich eine große Anzahl von begeisterten Schülern zu ihm, als dem sie ihr Bestes verdanken.