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ADB:Nitzsch, Karl Ludwig

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Artikel „Nitzsch, Karl Ludwig“ von Friedrich August Nitzsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 723–725, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nitzsch,_Karl_Ludwig&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 17:37 Uhr UTC)
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Nitzsch: Karl Ludwig N., Vater des Zoologen Christian Ludwig (o. S. 718), des Theologen Karl Immanuel (u. S. 725) und des Philologen Gregor Wilhelm (o. S. 718), hervorragender theologischer Systematiker und praktischer Theolog. Er ward geboren am 6. August 1751 in Wittenberg, wo sein Vater (Ludwig Wilhelm) 1758 als Diakonus an der Stadtkirche starb, besuchte das Lyceum seiner Vaterstadt, dann die Fürstenschule zu Meißen, studirte von 1770 bis 1775 in Wittenberg und war seit 1781 Pfarrer in Beucha in der kursächsischen Diöcese Grimma, seit 1785 Pastor und Superintendent in Borna, seit 1788 Stiftssuperintendent und Consistorialassessor in Zeitz, seit 1790 aber, in welchem Jahre er sich auch die Würde eines Doctors der Theologie erwarb, Pastor an der Stadtkirche und ordentlicher Professor an der Universität in Wittenberg, zugleich Generalsuperintendent des sächsischen Kurkreises und Consistorialassessor. Nach der Aufhebung der Universität und der Einverleibung des betreffenden Territoriums in den preußischen Staat vertauschte er seine Professur mit dem Amte des ersten Directors des neu errichteten Predigerseminars in Wittenberg. Als solcher starb er am 5. December 1831. – Seine Bedeutung bestand in dem Zusammenwirken einer charaktervollen sittlichen Persönlichkeit (Dinter sagte von ihm: „in seinem Umgange hatte er etwas Epigrammatisches. Er sprach wenig; aber was er sprach, war kräftig“) mit großer wissenschaftlicher Selbstständigkeit und Originalität, sowie kirchenregimentlicher Erfahrung und Einsicht während einer in eine kritische Epoche des deutschen Geisteslebens gefallenen langjährigen, einflußreichen akademischen und kirchlichen Amtsthätigkeit. Was seinen theologischen Standpunkt anlangt, so bildeten die Grundlage desselben gewisse Principien der Ethik und Religionslehre Kant’s, von denen er sich auch dann nicht losgesagt hat, als er amtliche Verwarnung wegen seiner Anhänglichkeit an diesen Philosophen erlitt. Er erblickte in denselben nicht etwa eine Verleugnung des Christenthums, vielmehr eine energische Vertretung des sittlichen Kerns und Wesens der christlichen Religion, und es fragte sich nur, wie er mit denselben das positive Christenthum, an welchem er festhielt, vermittelt wissen wollte. Es gab eine Zeit, wo er im Hinblick theils auf die in der Sache liegende Schwierigkeit dieser Vermittelung, theils auf den im kurfürstlich sächsischen Kirchenregimente noch herrschenden Orthodoxismus, welchem gegenüber er auf Anstellung im Kirchendienst nicht glaubte hoffen zu dürfen, damit umging, auf diesen und den theologischen Beruf zu verzichten und zum Schulfach überzugehen, obgleich er während seines akademischen Studiums zwar nicht ausschließlich, doch vorwiegend sich mit Theologie im Sinne Semler’s und Ernesti’s) beschäftigt hatte. Indessen, als ihm der Kammerherr von Bodenhausen, in dessen Hause er eine Zeit lang eine Hofmeisterstelle bekleidete, das unter seinem Patronate stehende (1780 vacant gewordene) Pfarramt in Beucha anbot, nahm er den Ruf nach bestandener theologischer Candidatenprüfung an und erkannte von da ab je länger desto mehr in der Theologie seinen wahren und ihn vollkommen befriedigenden Beruf. Schon Kant selbst hatte zwar den Gedanken, daß die Offenbarung der Menschheit inhaltlich etwas gebracht habe, was nicht wenigstens in latenter Weise schon in ihrer eignen vernünftigen und sittlichen Anlage und Natur enthalten gewesen sei, als die Autonomie der menschlichen Vernunft aufhebend von der Hand gewiesen, jedoch für möglich erklärt, daß auf dem Wege der Offenbarung dieser rationale Inhalt promulgirt sei. Daran anknüpfend hatten mehrere deutsche Theologen auch ihrerseits einen Weg gefunden, trotz Festhaltung des Grundsatzes, daß Uebernatürliches und Uebervernünftiges des Evangeliums Inhalt nicht sein könne und nicht sei, der in Christus geschehenen Offenbarung einen gewissen Werth zu vindiciren. N. nun legte, indem er mit einem materialen Rationalismus einen formalen Supernaturalismus verknüpfte, [724] gleichfalls auf die Unterscheidung des ethisch rationalen Gehaltes des Evangeliums und der diesem Gehalte zunächst nur als Introductionsmittel dienenden Offenbarung großen Werth, aber er betonte zugleich mehr, als die anderen rationalistischen Kantianer, die Zweckmäßigkeit und Vollkommenheit dieses göttlichen Introductionsmodus. Er war nicht der Meinung, daß dieser Modus nur eben brauchbar und zwar lediglich vor Zeiten nützlich gewesen sei, suchte vielmehr die absolute Nothwendigkeit darzuthun, die derselbe nach Maßgabe der gegebenen Verhältnisse gehabt habe und die sich noch fortwährend in der Beschaffenheit unseres christlichen Volksunterrichts und Gemeindegottesdienstes spiegle; er betrachtete die die Stiftung des Christenthums constituirenden Thatsachen nicht als willkürliche Einkleidungsform, sondern als allein möglich gewesene Erscheinungsform der ewigen Wahrheit, die ja nicht für Gelehrte als solche, sondern für alles Volk bestimmt gewesen und noch bestimmt sei. Ferner verstand er unter Offenbarung nicht bloße Mittheilung einer Lehre, sondern unmittelbar lebendige, persönliche Darstellung des Göttlichen durch einen Weltheiland – gegenüber einem gefallenen Geschlecht, in welchem die in sein eigenes Innere hineingelegten Keime der Wahrheit und Sittlichkeit dermaßen unterdrückt gewesen seien, daß das wahre Leben in ihm nur von außen her wieder habe erweckt werden können. Wir seien, lehrte N., zwar nicht befugt, die Unmöglichkeit des gottgefälligen Sinnes ohne Kenntniß der Geschichte Jesu für jeden einzelnen Menschen, unter welchen Umständen und zu welcher Zeit er auch leben möge, zu behaupten; aber eine gemeinschaftliche und öffentliche wahrhaft religiöse Bildung sei in der Menschheit nicht zu ermöglichen gewesen ohne eine solche Hilfe, wie sie durch Christus der Welt bereitet wurde, d. h. ohne ein solches Zusammenwirken zwanglosen göttlichen Ansehens mit einer lebendigen, begeisternden Darstellung des Gottgefälligen, wie es in dem ganzen öffentlichen Leben Jesu und insonderheit in seinem Kreuzestode als der Vollendung seines Gehorsams und dem entscheidendsten Beweise seiner gottgefälligen Lauterkeit und Stärke hervortrat. Selbst die Wunder Christi, deren Möglichkeit N. übrigens nur hinsichtlich des Zweckes, nicht hinsichtlich des Grundes erörterte, galten ihm als Zeugnisse des messianischen Berufes und als Zeichen des Heiles) für unentbehrlich. Mit dem allen trat er dem theologischen Naturalismus auch solcher Zeitgenossen entgegen, welche Kantianer hießen, indem er die Form der Uebernatürlichkeit als den für das Weltkundigwerden der göttlichen Wahrheit unentbehrlichen Modus und als ein wesentliches Attribut des Christenthums hinstellt. Die Zahl der Theologen, welche litterarisch das System Nitzsch’s fortpflanzten, war gering. Dennoch war dasselbe einflußreich, weil zu seinen Füßen zahlreiche dankbare Zuhörer saßen, welche seine Gedanken mit in ihre praktischen Pfarr- und Schulämter hinübernahmen; und es war verdienstlich, weil es, wie das Schleiermacher’s, den dürren Intellectualismus der theologischen Zeitgenossen überwinden half, welche größtentheils lediglich die von der Person Jesu abgelöste angebliche christliche Lehre ins Auge faßten, hingegen nicht auf das achteten, was durch Christus unmittelbar realisirt, in die Welt wirksam eingeführt, in der Kirche sichergestellt und dem innersten Bewußtsein seiner Gläubigen eingeimpft war und allezeit durch Anschauung seiner lebendigen Person und gesammten Wirksamkeit anstatt durch bloße Anerkennung seiner Lehre angeeignet werden muß. Im Uebrigen schloß sich N. allerdings der Theologie Schleiermacher’s, durch welche die der Kantianer noch bei seinen Lebzeiten verdrängt zu werden begann, nicht an. – In praktischer und kirchenpolitischer Hinsicht verdienen, abgesehen von seinen einerseits die Lehrfreiheit andrerseits die Union der beiden evangelischen Confessionen begünstigenden Gedanken, seine Ideen über Kirchenverfassung Beachtung, welche, zunächst auf lutherische Territorien berechnet, sich dadurch vor denen fast aller Zeitgenossen auszeichneten, daß [725] sie zwischen einem hochfliegenden, geschichtswidrigen Idealismus und einem trägen Kleben am Herkömmlichen einen Mittelweg vorzeichneten. N. betrachtete es als wesentliche Bedingung der wünschenswerthen Kirchenfreiheit, daß die kirchliche Gesetzgebung und in wichtigeren Uebertretungsfällen, wo nicht sowohl das gemeine Recht, als vielmehr der Zweck der Kirche berücksichtigt werden müsse, auch der richterliche Ausspruch aus Wahlen hervorgegangenen Synoden zugewiesen werde; dem Staate aber wollte er nicht nur die Prüfung und Bestätigung der legislativen und richterlichen Acte der Synoden eingeräumt wissen, sondern auch die Verwaltung des Kirchenwesens, nämlich durch kirchliche Staatsbehörden (Consistorien oder Kircheninspectionen) und einzelne mit bürgerlichem Ansehen bekleidete Kirchenbeamte (vom Staate bestätigte Pfarrer und Superintendenten). Er trat also zwar für Presbyterial- und Synodalverfassung ein, zugleich jedoch für eine Beschränkung derselben durch die territoriale Staatsgewalt. Zur Verwaltung – erklärte er – könnten, sofern diese Zwangsbefehle und Zwangsmittel fordere, rein kirchliche und somit auf lediglich moralische Wirksamkeit hingewiesene Synoden nicht hinreichen. Hiermit verwarf N. die Verallgemeinerung der im Juni 1819 von der Berliner Provinzialsynode und im September desselben Jahres von der westphälischen ausgegangenen Vorschläge, welche auf eine reine Synodalverfassung mit Ausschluß aller consistorialen Factoren hinausliefen. Aber er wollte den Staat nur als das beschränkende, schützende und nachhelfende Princip betrachtet wissen, als das hervorbringende hingegen auch seinerseits die Kirche. Daher verlangte er, daß jedes allgemeine sowohl, als provinzielle, ja örtliche Kirchengesetz von den Synoden ausgehn und die Bestätigung dieser Gesetze von den Staatsbehörden niemals ohne einleuchtenden Grund verweigert oder verzögert werden solle. Von den gefürchteten Reibungen zwischen den Synoden und den von diesen getrennten kirchlichen Staatsbehörden erwartete er zum Theil Heilsames: Abschleifung manches Unnützen und Nachtheiligen, sowie Verhütung von Einseitigkeiten, Uebereilungen und Vielthuerei.

Eine kurze Zusammenfassung seiner theoretischen und praktischen Grundgedanken in einer für jeden Gebildeten verständlichen Form gab N. in drei kleinen Abhandlungen über das Heil, unter dem Titel: „Ueber das Heil der Welt“, 1817; „Ueber das Heil der Kirche“, 1821, und „Ueber das Heil der Theologie“, 1830. Weiter ausgeführt, in streng wissenschaftlicher Methode begründet und auch geschichtlich fundamentirt, findet sich sein theologisches System theils in elf nur einzeln erschienenen „Prolusiones de judicandis morum praeceptis in N. T. a communi omnium hominum ac temporum usu alienis“ (Wittenberger Universitätsprogramme von 1791–1802), theils in zwei umfassenderen Collectionen solcher Einzelabhandlungen, nämlich in der Schrift „De revelatione religionis externa eademque publica prolusiones academicae“, 1808, und in dem Buche „De discrimine revelationis imperatoriae et didacticae prolusiones academicae“, 2 Bde., 1830.

E. A. D. Hoppe, Denkmal des verew. Dr. C. L. Nitzsch in einer Auswahl seiner Pfingstpredigten, nebst einer Zugabe (Biogr.) über ihn, Halle 1832. – J. C. H. von Zobel, Das Leben und Wirken der Pastoren und Superintend. i. d. kgl. sächs. Stadt Borna, Borna 1849, S. 65–72; endlich der betr. Art. in Herzog’s Theolog. Realencyklopädie.