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ADB:Marpurg, Friedrich Wilhelm

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Artikel „Marpurg, Friedrich Wilhelm“ von Josef Sittard in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 20 (1884), S. 407–408, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Marpurg,_Friedrich_Wilhelm&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 05:05 Uhr UTC)
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Band 20 (1884), S. 407–408 (Quelle).
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Marpurg: Friedrich Wilhelm M., wol der bedeutendste Musikgelehrte seiner Zeit, dessen Werke heute zum Theil ihren positiv wissenschaftlichen Werth noch nicht eingebüßt haben und dessen Thätigkeit eine um so weitergreifende und einflußreichere war, als er auch geschichtliche Themata bearbeitet und als Kritiker in mancher Beziehung aufklärend gewirkt hat, ist am 1. October 1718 zu Seehausen in der Altmark, einem Gute, welches sonst auch der Marpurgshof hieß, geboren. Es ist der historischen Forschung bis heute noch nicht gelungen, über seine Jugendzeit Näheres und Positives zu erfahren und erst mit dem Jahre 1746 taucht M. aus dem Dunkel hervor, welches seine früheste Lebenszeit umgibt; daß er jedoch eine gründliche und umfassende wissenschaftliche Bildung genossen haben muß, bezeugen seine Werke. In obengenanntem Jahre treffen wir ihn als Secretär des Generals Bodenburg (v. Rothenburg) in Paris, woselbst er mit den bedeutendsten Männern der Kunst und Wissenschaft verkehrte, und unter Anderem zu Voltaire, d’Alembert und Rameau in nähere Beziehungen trat. Er blieb in der französischen Weltstadt drei Jahre, um nach längerem Aufenthalt in Berlin und Hamburg, sich von 1763 an dauernd in ersterer Stadt niederzulassen und das Amt eines königlichen Lotteriedirectors und Kriegsraths zu versehen. Er starb am Mai 1795 an der Schwindsucht. Sein Wissen war ein Universelles und auch in den alten Sprachen war er wohl beschlagen. Seine Hauptbedeutung liegt jedoch in seinen musiktheoretischen Schriften und hier tritt namentlich die kritische und polemische Seite hervor. Er war ein scharfer, alles bis auf den Grund durchdringender Geist, welchem alles oberflächliche Wesen fremd und verhaßt war. Aus allem, was er geschrieben, leuchtet uns ein gründliches Wissen, eine immense Belesenheit, sowie eine alle Gebiete der Wissenschaft vollkommen beherrschende Gelehrsamkeit entgegen und namentlich seine kritischen Schriften können heute noch vermöge ihres Scharfsinns und ihrer erschöpfenden Gründlichkeit als Muster dienen. Wenn er auch oft, wie dies im Zuge der damaligen Zeit lag, das persönliche Gebiet betrat und seine Hiebe rücksichtslos und schonungslos austheilte, so war es ihm in der Hauptsache doch stets nur um die Sache zu thun; aber ein unversöhnlicher Feind war er jenem Halbwissen gegenüber, welches sich nur mit der Oberfläche begnügt und nie zu dem Kern der Dinge zu dringen vermag, ein Feind jener Phraseologie, welche die eigene Ignoranz mit blassen Redensarten zu verdecken sucht, die Begriffe verwirrt und der Wissenschaft niemals zum Nutzen gereichen kann. Dagegen anerkannte er stets wirkliches Verdienst und ernstes Streben. Seine Werke umfassen beinahe das ganze Gebiet der Musiktheorie und hier kamen ihm seine umfassenden linguistischen Fähigkeiten und Kenntnisse, sowie sein historisches Wissen sehr zu Statten. Er sprach und schrieb ein gutes Latein und die griechischen und römischen Classiker sollen seine tägliche Lectüre gewesen sein. Sein Charakter wird als ein sanguinischer, heftiger und leidenschaftlicher von denjenigen geschildert, welche in näherer Beziehung zu ihm standen.

Unter seinen Schriften heben wir folgende hervor: „Handbuch beim Generalbasse und der Composition“, 3 Thle., 1757/58, nebst einem Anhang 1760. Diesem Werke, welches eine vollständige theoretisch-praktische Harmonielehre bildet, liegt das Rameau’sche System zu Grunde. Rameau machte bekanntlich den ersten Versuch ein Harmoniesystem aufzustellen, in welchem die Beziehungen [408] der Töne zu einander und ihre Verbindungen zu Intervallen und Accorden aus einem gemeinsamen Grundsatze hergeleitet werden. Sein System beruht auf dem Mitklingen der Töne eines gegebenen Grundtons, und aus dieser akustischen Erscheinung erklärt er die Entstehung aller Accorde und deren Umkehrungen. Einem alles scharf prüfenden Kopf wie M. konnten jedoch die Mängel dieses Systems, welches von der tonalen Verwandtschaft der Accorde ganz absah, nicht entgehen und manche Verbesserung und Abänderung hat das Marpurg’sche Harmoniesystem dem Rameau’schen gegenüber aufzuweisen, und bildete dasselbe die Grundlage aller später erschienenen Schriften über diese Materie. Der Anhang gibt, wenn auch eine kurze, so doch präcise Anschauung vom einfachen und doppelten Contrapunkt, vom Canon sowie der Fuge, sogar eine Anweisung zum zwei- bis neunstimmigen Satze. Dieses Handbuch ist auch in schwedischer Sprache unter dem Titel „Kort Begrep om General-Basen“, Stockholm 1782, erschienen. – Sein vorzüglichstes Werk ist die „Abhandlung von der Fuge“ nebst einem Anhang, welches von S. W. Dehn, dem bewährten Marpurgkenner, nach der Berliner Originalausgabe 1753/56, im J. 1858 (C. F. Peters, Leipzig) redigirt und herausgegeben wurde. Es ist dies ein Werk, welches heute noch unübertroffen dasteht und eine ganz immense Belesenheit und Gelehrsamkeit sowie eine absolute Beherrschung des so schwierigen und weitschichtigen Stoffes aufweist. Alles was vor M. an Theorie über den Contrapunkt erschienen, findet in demselben seine wissenschaftliche Zergliederung und Darstellung; namentlich was die Instrumentalfuge anbelangt ist dieses Werk das gründlichste und erschöpfendste aller bis jetzt erschienenen Bearbeitungen dieses Gegenstandes. Freilich hat die moderne Forschung manches Irrige in dem am Schlusse beigefügten „Kurzen Abriß der Geschichte des Contrapunkts und der Fuge“ aufgedeckt, hauptsächlich auch den Irrthum, als ob die Alten die Harmonie, die Mehrstimmigkeit gekannt und praktisch angewendet hätten, und man der neueren Zeit nur die Vervollkommnung des mehrstimmigen Satzes, die Einführung dissonirender Harmonien und des ungleichen oder verzierten Contrapunkts etc. zu danken habe. Auch manche seiner übrigen historischen Daten hat die neuere Forschung als irrige erkannt, während die von ihm aufgestellten theoretischen Lehrsätze heute noch unwiderleglich feststehen. Auch seine „Anleitung zum Clavierspielen“, 1755, war eine für die damalige Zeit werthvolle Schrift, welche sowol in die französische als holländische Sprache übersetzt wurde. Sein „Versuch über die musikalische Temperatur“ 1776 beschäftigt sich mit der mathematischen Theorie der Musik und enthält einen Anhang über den Rameau’schen und Kirnberger’schen Grundbaß. Dieser polemische Theil betrifft die Ableitung solcher Accords, welche in ihrem Umfange die Grenze einer Octave überschreiten. Die „Kritische Einleitung in die Geschichte und Lehrsätze der alten und neuen Musik“, 1759, ein Band mit 8 Kupfertabellen, ist mit einem großen Aufwand von Gelehrsamkeit geschrieben und versucht M. den Nachweis zu liefern, daß die Alten bereits die Harmonie gekannt hätten. Die „Historisch-kritischen Beiträge zur Aufnahme der Musik“, 1754/60, 5 Bde., enthalten Untersuchungen verschiedener musikhistorischer Fragen, sowie Kritiken über verschiedene auf Musik Bezug habende Werke, auch Uebersetzungen derartiger in anderen Sprachen abgefaßter Schriften. M. hat auch mehrere Compositionen veröffentlicht, als Sonaten, Fugen und fugirte Choräle, theils für Clavier, theils für Orgel. Namentlich in letzteren bethätigt er sich auch als tüchtigen Contrapunktisten. In seinen letzten Jahren beschäftigte er sich viel mit der Wasserorgel der Alten, über welche er eine Abhandlung schrieb und sogar ein Modell einer solchen anfertigte.

Gerber, Altes und neues Lexikon. Fétis und Schilling. Leipziger Allg. Mus. Ztg. Jahrg. II, S. 278, 553, 595, 872.