ADB:Müller, Johann Heinrich Traugott
[630] Domgymnasium zu Naumburg in der Provinz Sachsen angestellt und übernahm zu Michaelis 1835 zugleich noch den Unterricht in den Naturwissenschaften an der dortigen Gewerbschule. Bald darauf wurde derselbe nach Gotha berufen, um dort die Direction des zu errichtenden Realgymnasiums zu übernehmen. Nachdem er vom Juli 1836 bis Ende 1844 dieses Amt verwaltet, folgte er einem ehrenvollen Rufe nach Wiesbaden, um auch hier der Leitung des neu errichteten herzoglichen Realgymnasiums sich zu unterziehen, wo derselbe Ostern 1845 in seinen Wirkungskreis eingesetzt wurde.“ In diesen schlichten Worten schildert M. in dem ersten Jahresprogramme der durch ihn errichteten Anstalt seinen seitherigen Lebenslauf. Es wäre demselben ergänzend beizufügen, daß M. einziger Sohn eines Predigers war, der den hochbegabten Knaben selbst zum Gymnasium heranbildete; daß er ein Jahr dem theologischen, ein zweites dem medicinischen Studium widmete, bevor er über seinen eigentlichen Beruf Klarheit gewann. Mehr als über sein äußeres müssen wir über sein inneres Leben uns verbreiten, namentlich von der Zeit an, zu welcher seine Wiesbadener Wirksamkeit begann. Daß in dem Manne zugleich ein rüstiger Kämpfer für eine Idee gewonnen war, welche um die Mitte der vierziger Jahre eben auftauchte, beweist das gleiche, soeben angeführte Programm nebst dem des folgenden Jahres. In welcher Beziehung steht die lateinische Sprache zu den Lehrgegenständen der heutigen Realgymnasien? Für welche Fachwissenschaften haben die heutigen Realgymnasien vorzubereiten? Diese beiden Fragen beantwortet M. 1846 und 1847, die erste dahin, daß ein ausgiebiger Lateinunterricht durch alle Klassen des Realgymnasiums fortgeführt Mittelpunkt des Sprachunterrichts überhaupt ebensosehr wie Stützpunkt, von dem aus die neueren Sprachen, besonders das Französische, in Angriff zu nehmen seien, bilden müsse; die zweite Frage beantwortet M. mit der Behauptung, die richtige Vorbereitung zum ärztlichen Berufe könne nur das Realgymnasium geben. Bekanntlich ist diese Behauptung wie die entgegengesetzte Meinung in fortwährend erregtem Widerstreite auf der Tagesordnung der Schulmänner geblieben, und 40 Jahre haben nicht vermocht einen endgiltigen Austrag zu Stande zu bringen. M. that sein Mögliches die von ihm geleitete Anstalt auf solche Höhe zu bringen, daß sie die Fächer, welche ihr unterscheidendes Bereich gegenüber von dem der gelehrten Gymnasien bildeten, in widerspruchslos vorzüglicher Weise lehrte. Namentlich seit mit Ostern 1857 die unteren vier Klassen als höhere Bürgerschule losgetrennt und das Realgymnasium auf drei Klassen (die oberste mit zweijährigem Lehrgange) beschränkt wurde, nahm der mathematische Unterricht einen Umfang an, daß die mit dem Zeugnisse der Reife entlassenen Schüler der obersten Abtheilung über weit mehr Kenntnisse verfügten als es an anderen Orten üblich ist, ja über weit mehr als manche Lehrer an Universitäten für wünschenswerth erachten. Nicht blos ebene und sphärische Trigonometrie, analytische und descriptive Geometrie, auch Anfänge der Differential- und Integralrechnung, insbesondere das eigentliche Differentiren und Integriren, und der analytischen Mechanik gehörten bis vor Kurzem dem Wiesbadener Lehrplane an. Die descriptive Geometrie lehrte unter Müller’s Augen Emil Hildenbrand, der von 1848–1854 selbst als Schüler der Anstalt angehört hatte und der ebenso wie er im Geiste seines Lehrers wirkte, bei seinem 1881 im Alter von 46 Jahren erfolgten Tode Lehramt und Methode einem Zöglinge des Realgymnasiums, August Schmidt, vererbte. Ein anderer Schüler des Realgymnasiums war von 1846–1850 Wilhelm Unverzagt, dessen wissenschaftliche Bedeutung zu würdigen wir für einen besonderen Artikel uns vorbehalten. Etwa ein Jahr nach der Neueinrichtung des Realgymnasiums 1858 traf M. ein leichter Schlaganfall, der ihn auf der rechten Seite des Körpers lähmte. Wenn auch körperlich unbeholfener, aber mit [631] ungeschwächter Geistesfrische setzte M. seine Schulthätigleit fort, allerdings ab und zu genöthigt bei überhandnehmenden Leiden sehr gegen seinen Willen eine Unterbrechung eintreten zu lassen. Der Tod am 28. April 1862 war ein unerwarteter, indem M. unmittelbar vorher sich verhältnißmäßig sehr wohl gefühlt hatte und nichts auf einen wiederkehrenden Schlaganfall hindeutete. War M. ein hervorragender Schulmann, geliebt und verehrt von Schülern und mitwirkenden Lehrern, so ist auch seiner schriftstellerischen Thätigkeit mit Anerkennung zu gedenken. So seiner „Allgemeinen Arithmetik“, 1836. Sein „Lehrbuch der Geometrie“ (1844–1851 in 3 Bänden) enthält neben gut verarbeitetem bekanntem Stoff auch Eigenes und Neues. Seine „Geometrischen Ausläufer“ (1846) bieten, was ihr Name kennzeichnend genug ausspricht, gewissermaßen Fühler, mit welchen, ohne den eigentlichen Schulboden zu verlassen, in andere Gebiete versuchsweise übergegriffen wird. Kleinere und größere Abhandlungen in Grunert's Archiv (Bd. 2–24), in Poggendorff's Annalen (Bd. 81–90), Programmbeilagen von 1852, 1858, 1860 zeigen den kenntniß- und gedankenreichen Trigonometer, Krystallographen, Historiker. In letzterer Beziehung darf sein Programm von 1860, „Beiträge zur Terminologie der griechischen Mathematiker“, mit besonderer Auszeichnung genannt werden.
Müller: Johann Heinrich Traugott M., Mathematiker, geb. den 6. August 1797 in Friedersdorf bei Sorau in der Niederlausitz, † am 28. April 1862 in Wiesbaden. „Er bezog, nachdem er das Gymnasium zu Sorau fünf Jahre besucht, Ostern 1817 die Universität Leipzig, wo er fünf Jahre Theologie und später Mathematik und Naturwissenschaften studirte, wurde den 6. Juli 1822 als Oberlehrer hauptsächlich für die Fächer der Mathematik und Physik am- Programme des Realgymnasiums zu Wiesbaden. Poggendorff, Biogr.-liter. Handwörterbuch II, 226 u. 1430. Gedächtnißrede auf J. H. T. Müller, gehalten vom Kirchenrath Dietz (handschriftlich).