ADB:Hagen, Friedrich Wilhelm
Pestalozzi’schen Erziehungsmethode. 1832 bezog er die Universität Erlangen um Theologie zu studiren; in der Befürchtung einer der politischen folgenden kirchlichen Reaction verließ er ungern dies Studium und wandte sich der Medicin zu, deren wissenschaftliche Seite hauptsächlich ihn anzog. Besonders hoffte er Mittel und Wege zu finden zur Erkenntniß des Zusammenhanges der geistigen Natur mit der physischen. Am 18. August 1836 promovirte H. Zum Gegenstand seiner Dissertation hatte er gewünscht, einen Stoff aus dem Gebiete der Psychiatrie zu gewinnen. Er that dies unter der Leitung des als Gerichtsarzt nach Weißenburg in Mittelfranken versetzten Prof. Friedrich, wobei er gleichzeitig in Ausübung seines Biennium practicum dessen Armenpraxis versah. Unter Ausnutzung von Friedrich’s reichhaltiger Bibliothek bearbeitete er in Buchform (348 Druckseiten): „Die Sinnestäuschungen in Bezug auf Physiologie, Heilkunde und Rechtspflege“, Leipzig 1837, vgl. auch die spätere Abhandlung „Zur Theorie der Hallucinationen“. Dann besuchte er die Universitäten München und Erlangen. Da Irrenanstalten damals nur nebenher von Aerzten besorgt zu werden pflegten, suchte er vorläufig ärztliche Praxis in dem Städtchen Velden an der Pegnitz; dabei verblieb ihm viel Zeit zu wissenschaftlichen Arbeiten, er schrieb ein Buch „Beiträge zur Anthropologie“, welches Abhandlungen enthielt über die psychische Bedeutung der Hirn- [701] und Nervenorgane, über Constitution und Temperament, und über die Wechselwirkung der Gemüthsbewegungen mit dem physischen Leben. Trotz der Jugend des Verfassers, der sich in alten Tagen selbst über seine Kühnheit dabei wunderte, fand das Buch eine günstige Aufnahme; sein früherer Lehrer Rud. Wagner forderte ihn zur Mitarbeiterschaft an dem Handwörterbuch der Physiologie auf. Freilich mußte er noch bis 1844 unter bedrängten Verhältnissen in Velden bleiben, bis Wagner ihm ein Reisestipendium verschaffte; er besuchte Jakobi in Siegburg, Guislain in Gent, war in mehreren Londoner Irrenanstalten; dann in Paris, ferner bei Roller in Illenau, in Heidelberg und zum Schluß bei Zeller in Winnenthal. Unterwegs besuchte er Justinus Kerner in Weinsberg. Erst 1846 wurde er zum Assistenzarzt der neuen Irrenanstalt in Erlangen ernannt unter Solbrig’s Leitung. Er führte die ersten 46 Kranken dorthin aus der alten Irrenanstalt Schwabach, wo er einen Theil der Kranken nackt auf Stroh fand, mit einer Kette um den Hals an der Wand befestigt. 1847/48 war er einige Monate in Wien und Prag. 1849 wurde er Director der neuen Anstalt Irrsee. 1857 veröffentlichte er ein Buch „Der goldene Schnitt“; bei Forschungen über die Ursachen der Geisteskrankheiten hatte er zahlreiche Messungen von Schädeln und Gehirnen gemacht, dabei glaubte er das Verhältniß des goldenen Schnitts (worunter man eine solche Theilung des Ganzen in zwei ungleiche Hälften versteht, daß die kleinere Hälfte sich zur größeren verhält, wie die größere zum Ganzen), in seinen Resultaten wiederzufinden. 1859 wurde H. Solbrig’s Nachfolger in Erlangen; unter seiner Leitung wurde die Anstalt allmählich sehr vergrößert. Ueber die ersten 25 Jahre berichtete er unter dem Titel: „Statistische Untersuchungen über Geisteskrankheiten“. 1870 wurden gesammelte Vorträge als „Studien auf dem Gebiete der ärztlichen Seelenkunde“ von ihm herausgegeben. Ein späterer Vortrag über die Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn erschien im Band XXXIII der Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. Einen seiner Zeit berühmten Fall veröffentlichte er 1872: „Chorinsky, eine gerichtlich-psychologische Untersuchung“. Viel genannt wurde er bei der Begutachtung der Geisteskrankheit des Königs Ludwig II. von Baiern.
Hagen: Friedrich Wilhelm H., geboren zu Dottenheim in Mittelfranken (Baiern) am 16. Juni 1814, erhielt den ersten Unterricht von seinem Vater, dem dortigen Pfarrer und früheren a. o. Professor an der Universität Erlangen, einem begeisterten Anhänger der damals neu aufgekommenenBald nach seinem Ausscheiden aus der Professur und Direction starb H. am 13. Juni 1889. Neben seiner wissenschaftlichen Bedeutung ist sein hoher Idealismus und unverwüstlicher Optimismus im Leben und Streben hervorzuheben.
- Laehr, Gedenktage der Psychiatrie S. 129, 178, 180, 231, 262, 366; ein ausführl. Verzeichniß seiner Publicationen findet man S. 180/181. – Nekrolog in d. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. 45, S. 298–306.