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ADB:Gerling, Christian

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Artikel „Gerling, Christian“ von Karl Christian Bruhns in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 26–29, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gerling,_Christian&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 06:53 Uhr UTC)
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Gerling: Christian Ludwig G., Astronom und Physiker, geboren am 10. Juli 1788 zu Hamburg, † am 15. Jan. 1864 zu Marburg. Sein Vater war ordentlicher Professor der Theologie zu Rostock und nicht unbekannt als theologischer Schriftsteller, darauf Pastor an der Jakobikirche und Senior des Ministeriums in Hamburg. Der junge G. erhielt als Knabe den ersten Unterricht im elterlichen Hause und von vorzüglichem Einfluß bei demselben war der spätere Professor der Mathematik am Johanneum und Gymnasium zu Hamburg, Karl Friedrich Hipp, der G. auch in das Studium der Sprachen einführte und zu gleicher Zeit der Lehrer von J. F. Encke war. G. und Encke wurden überhaupt, da die Väter Amtsbrüder an derselben Kirche waren, Schul- und Spielkameraden, die sich gegenseitig zum Lernen anregten. Encke verlor seinen Vater schon als er 3½ Jahre alt war, G. den seinigen im 12. Jahre seines Lebens, der noch auf dem Sterbebette Hipp die Sorge für den Unterricht seiner Söhne übertrug. Gerling’s Neigungen richteten sich früh auf den Stand eines Lehrers und mit der Ausbildung zu diesem Berufe sollte er das Studium der Theologie verbinden. Sein Fleiß in der Schule wurde durch eine halbjährige Nervenkrankheit im J. 1804 unterbrochen; die Krankheit hatte jedoch den wohlthätigen Einfluß, die schwächliche Gesundheit des 16jährigen Knaben zu kräftigen und nachdem er unter Hipp, Gurlitt u. A. erst als Schüler des Johanneums, seit 1808 des Gymnasiums, sich für die Universität vorbereitet, verließ er 1809 Hamburg und wurde zu Helmstädt als Theologe immatriculirt. Mathematische Studien bei Professor Pfaff, bald auch eine kleine Anstellung als Hülfslehrer für Mathematik an den unter Professor Wiedeburg’s Leitung stehenden Pädagogium, führten ihn mehr und mehr in seine spätere Richtung. Die Universität zu Helmstädt wurde bekanntlich aufgelöst und G. war der letzte Helmstädter Student, indem Pfaff’s Vorlesungen für ihn noch im Gange waren, nachdem alle anderen schon aufgehört und die Professoren zum Theil schon Helmstädt verlassen hatten. G. ging zu Ostern 1810 nach Göttingen und widmete sich sofort den mathematischen und astronomischen Vorlesungen. Ganz jedoch gab er die Theologie und Philologie erst auf, als die trüber und trüber werdenden politischen Verhältnisse ihm die Aussicht, einst als Lehrer in seiner Vaterstadt thätig sein zu können, ganz zu rauben schienen. Zugleich beschäftigten ihn, fast gleichzeitig mit Encke, Nicolai, Wachter u. A., Arbeiten auf der Göttinger Sternwarte unter der Leitung von Gauß und Harding, sowie astronomische [27] Rechnungen, die zum Theil auch in der monatlichen Correspondenz oder in Bode’s Jahrbuch publicirt sind, und von denen er die Bearbeitung und jährliche Vorausberechnung des Laufes des kleinen Planeten Vesta noch längere Jahre fortgeführt hat. Im J. 1812 erwarb G. durch eine Abhandlung über die Berechnung der Sonnenfinsternisse und ihre Anwendung auf die ringförmige Finsterniß vom 7. Sept. 1820 die philosophische Doctorwürde, und folgte im October desselben Jahres einem Ruf als Professor an das Lyceum zu Kassel. Diese Stellung bekleidete er 4½ Jahre und wurde endlich 1817 nach Muncke’s Abgang nach Heidelberg als ordentlicher Professor der Mathematik, Physik und Astronomie an die Universität Marburg berufen, in welcher Stellung er bis zu seinem Tode verblieb. In dieser langen Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit hat G. in den verschiedensten Zweigen der Wissenschaft gearbeitet. Seine Stellung als Lehrer veranlaßte ihn zunächst zur Herausgabe einiger Elementarbücher; seines bekannten kleinen Grundrisses der ebenen und sphärischen Trigonometrie (1815), der sich vor vielen ähnlichen durch die stete Berücksichtigung der wirklichen Bedürfnisse des Rechnenden auszeichnet; und später der Bearbeitung von Lorenz’ Grundriß der reinen Mathematik (seit 1820 mehrfach neu aufgelegt, zuletzt noch 1851 von G. umgearbeitet). Diese Bücher haben eine weite Verbreitung gefunden. In dieselbe Zeit fallen noch verschiedene astronomische Beobachtungen und Rechnungen über Vesta, Sonnenfinsternisse und Sternbedeckungen, das Marburger Antrittsprogramm über Zeit- und Polhöhebestimmungen aus gleichen Sternhöhen, und einige physikalische Arbeiten. Aber bald kam G. in eine andere praktische Richtung. Im Frühling 1821 faßte die kurhessische Regierung den Entschluß, eine große Vermessung des Landes zu unternehmen und darauf eine genaue topographische Karte zu gründen. Die Commission, welche die Pläne dazu ausarbeiten sollte, beschloß, die Vermessung soweit auszudehnen, daß sie eine wirkliche, selbständige Verbindung zwischen der Hannover-holsteinischen Gradmessung und den süddeutschen geodätischen Arbeiten bildete. G., als Mitglied der Commission, lenkte namentlich die Aufmerksamkeit auf die außerordentlichen neuen Schöpfungen von Gauß, sowol in der Anwendung neuer Hülfsmittel, des Heliotrops, als auch in der mathematischen Behandlung der geodätischen Aufgaben. Nach mündlichen Conferenzen mit Gauß konnte er schon im Herbst 1821 eine Recognoscirung des ganzen langgestreckten Terrains von Kurhessen vornehmen und hatte im Frühling 1824 die Vermessungen soweit fortgeführt, daß der Anschluß südlich an die baierischen, nördlich durch das große mit Gauß gemeinschaftlich gemessene Dreieck Brocken, Hohenhagen, Inselsberg an die hannöverschen Dreiecke hergestellt war. Aeußere Verhältnisse unterbrachen damals die Triangulirung, selbst die gewonnenen Resultate konnten erst 1831 in dem ersten Hefte der „Beiträge zur Geographie von Kurhessen“ veröffentlicht werden. Im Herbst 1835 wurden die Arbeiten wieder aufgenommen und 1837 durch die Verbindung des Frauenbergs bei Marburg mit den Sternwarten Göttingen und Mannheim mittelst Heliotropsignalen und Pulverblitzen durch die bekannte Längenbestimmung zwischen Göttingen und Mannheim, abgeschlossen. 1839 erschien daß zweite und Schlußheft der erwähnten Beiträge. Gerling’s Bemühungen um die Vervollständigung der Geographie seines Landes waren damit zwar im Wesentlichen, aber doch nicht ganz geschlossen; die Meereshöhe von Marburg, Polhöhen- und Azimuthbestimmungen beschäftigten ihn noch lange und ließen eine ganze Reihe kleinerer Aufsätze entstehen. Und im höheren Alter, 1861, erlebte er noch die Freude, daß ganze darauf gegründete Kartenwerk zu vollständigem und gediegenem Abschlusse kommen zu sehen. Als G. 1817 nach Marburg kam, waren die physikalischen und astronomischen Anstalten der Universität in sehr untergeordnetem Zustande. Die Verbesserung derselben [28] wurde ihm eine Lebensaufgabe. Während der Jahre der Vermessungen gelang es G., so viele Geldmittel anzusammeln, daß nur verhältnißmäßig geringe Neubewilligungen von Seiten der Regierung nöthig waren, um ein mathematisch-physikalisches Institut zu schaffen. Dasselbe ist im Wesentlichen ganz Gerling’s Werk und die kleine damit verbundene Sternwarte hat mehreren Astronomen als erste Bildungsstätte für ihre beobachtende Praxis gedient. Schon 1835 konnte G. sich den durch Gauß angeregten magnetischen Beobachtungen anschließen. Die Marburger Terminbeobachtungen wurden lange Jahre mit Regelmäßigkeit und Eifer fortgesetzt; sie erhielten einen neuen Aufschwung zur Zeit der südamerikanischen Expedition des Lieutenant Gilliß und sind, soweit sie mit dieser correspondiren, im sechsten Bande der U. S. Naval Expedition, früher in den Mittheilungen des magnetischen Vereins veröffentlicht. 1842 waren die Einrichtungen des Instituts im Wesentlichen vollendet; das Ganze hat G. in einem Universitätsprogramm 1848 ausführlich beschrieben. Seit der Triangulirung von Kurhessen wandte sich G. mit Vorliebe zur praktischen Geometrie. Von seinen Vorlesungen darüber ist jedoch neben kleineren Aufsätzen, z. B. über die Pothenot’sche Aufgabe, nur seine Ausgleichungsrechnung (1843) veröffentlicht. Dieses Werk enthält die Anwendung der Methode der kleinsten Quadrate auf geodätische Arbeiten in der Form, wie sie der Praktiker zur Selbstbelehrung braucht und es wird nicht leicht ein Fall der gewöhnlichen Rechnungspraxis vorkommen, in dem sich der Geometer zur Ausgleichung seiner Beobachtungen nicht Raths aus diesem vortrefflichen, wenn auch etwas weitschweifigen Buche erholen könnte. Unter den kleineren Arbeiten von G. möge hier nur der „De Parallaxi elationis“, eines Programmes über „Zeno des Eleaten Paradoxen über die Bewegung etc.“ erwähnt werden. Im J. 1847 machte er aufs neue auf die Wichtigkeit der Venusbeobachtungen für die Bestimmung der Sonnenparallaxe aufmerksam, nachdem dieser Zweck so lange außerhalb der astronomischen Bestrebungen der Zeit gestanden hatte. Lieutenant Gilliß zu Washington faßte mit Eifer Gerling’s Pläne auf und veranstaltete die bekannte Expedition nach Chile, welche zwar ihren nächsten Zweck verfehlte, aber durch die sonstigen Arbeiten und durch die aus ihr hervorgegangene Gründung einer Sternwarte ersten Ranges auf der Südhemisphäre der Erde, zu einer Zeit, wo außer ihr nur die königliche Sternwarte am Cap zur Erforschung des südlichen Himmels thätig war, für immer eine hervorragende Stelle in den Annalen der Astronomie einnehmen wird. Gerling’s Interesse für die chilenische Expedition war selbstverständlich immer rege und förderte er den physikalischen Theil derselben durch correspondirende magnetische Beobachtungen. Die neu errichtete Sternwarte zu St. Jago wurde unter die Direction eines früheren Zuhörers von ihm gestellt, welches ihm stets zur besonderen Befriedigung gereichte. Ganz besonders ist aber noch seiner ernsten und liebevollen Aufopferung zu gedenken, mit welcher er seinen Schülern, Zuhörern und den Geschäften der Universität sich hinzugeben gewohnt war. Noch im späteren Alter war er mit Aufopferung von Zeit und Nachtruhe stets bereit, jedes wissenschaftliche Streben der akademischen Jugend zu fördern. Ein gleiches Streben widmete er auch der Universität Marburg. Er hat mehrere glänzendere Anerbietungen zur Uebernahme von Professuren an anderen Universitäten ausgeschlagen und dies besonders deshalb, weil er der Ansicht war, daß die innige Verbindung zwischen Lehrern und Schülern sich auf einer größeren Universität vielleicht nicht so wiederfinden dürfte, wie er sie sich in Marburg geschaffen hatte. Die oft unangenehmen Geschäfte der Verwaltung des Universitätsvermögens führte er viele Jahre, von 1826–63 und trug nicht wenig zur Erhaltung desselben bei. Die Freiheiten und Rechte der Universität fanden in ihm stets einen ernsten und in der Geschichte der Universität wohlbewanderten Vertheidiger. Die Anerkennung blieb nicht aus; drei Mal, 1824, 1829 und [29] 1847–48 war er als Prorector der Universität ihre oberste Spitze, 1833 ihr Vertreter in der kurhessischen Kammer. 1857 wurde er zum geheimen Hofrath ernannt, sein Doctorjubiläum im J. 1862 gab erwünschte Gelegenheit, den Jubelgreis zu feiern. Er war in Folge seiner wissenschaftlichen Leistungen Mitglied zahlreicher gelehrter Gesellschaften, z. B. der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen etc. geworden und starb betrauert von mehreren Töchtern und deren Familien im 76. Lebensjahre.

Vgl. Astron. Vierteljahrsschrift, Leipzig 1866, 1. Jahrgang.