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ADB:Friedlein, Johann Gottfried

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Artikel „Friedlein, Johann Gottfried“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 7 (1878), S. 398–399, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Friedlein,_Johann_Gottfried&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:24 Uhr UTC)
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Band 7 (1878), S. 398–399 (Quelle).
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Friedlein: Johann Gottfried F., Schulmann und fruchtbarer Schriftsteller auf dem Gebiete der Geschichte der Mathematik, geb. 5. Jan. 1828 zu Regensburg, † 31. Mai 1875 zu Hof. Er war der Sohn eines Bäckermeisters, welcher starb, als Gottfried erst 10 Jahre alt war. Der Mutter fiel die Aufgabe zu, das große Geschäft zu leiten und für die Erziehung von 4 Kindern zu sorgen. Gottfried, ihr zweitältester, war in seiner frühen Begabung, mit seinem eisernen Fleiße, seinem bei aller Energie sanften Wesen ihr Stolz, und sie setzte seinem Wunsche zu studiren keinerlei Hinderniß in den Weg. Er bezog 1846 die Universität München, um sich der Philologie und der Mathematik zu widmen. Trotz einer gefährlichen Gehirnentzündung, welche er sich durch Ueberarbeitung zuzog, und welche ihm längere, unfreiwillige Ferien auferlegte, bestand F. schon 1849 den Concurs für das Gymnasiallehramt, 1851 den für das Lehramt der Mathematik an Gymnasien. Er war von nun an als Lehrer thätig in Regensburg, Erlangen, Ansbach, Hof, wo er die doppelte Stellung des Rectors der Studienanstalt und einer von der Stadt gegründeten höheren Töchterschule bis zu seinem Tode vereinigte. Ueberall war seine Wirksamkeit als Lehrer eine hochgeschätzte. Schüler wie Collegen waren ihm zugethan, und letztere bezeugten ihm ihr Wohlwollen, indem sie ihn in die Redaction einer für ihre Interessen gegründeten Zeitschrift wählten. Für die gelehrten Bestrebungen Friedlein’s waren zwei wissenschaftliche Gebiete gleichmäßig eröffnet: das der Mathematik und das der klassischen Philologie. Was Wunder, daß er sich am liebsten auf der Grenzstrecke tummelte, welche seinen beiden wetteifernden Neigungen Nahrung bot, wie sie von dem sie Bebauenden die doppelten Werkzeuge sprachlicher und mathematischer Kenntnisse voraussetzte. Die Geschichte der Mathematik, und zwar fast ausschließlich diejenigen Theile derselben, in welchen nur griechisch und lateinisch schreibende Autoren in Betracht kommen, war für ihn das eigentliche Arbeitsfeld. Unbestrittene und bedeutende Verdienste hat er sich auf demselben namentlich durch Herausgaben einiger Schriftsteller erworben, welche theils nur handschriftlich, theils in veralteten unbrauchbaren und überdies sehr selten gewordenen Drucken zugänglich waren. Zu den ersteren zählt die Geometrie des Pediasimus, (eines Nachahmers des Heron von Alexandrien) aus dem XIV. S., welche er 1866 als Gymnasialprogramm in Ansbach, und das Rechenbuch des Victorius, eines aquitanischen Bischofs aus dem V. S., welches er 1871 zum Abdrucke brachte und als Gegenstand begleitender kritischer Betrachtungen behandelte (Zeitschrift für Mathem. u. Physik. Bd. XVI und Bulletino Boncompagni Bd. IV). Zu der zweiten Gattung gehört die Herausgabe der mathematischen Schriften des Boethius 1867 und des Commentars des Proklos Diadochos zum ersten Buche der euklidischen Elemente 1873, welche als Theile der unter Gelehrten wohlbekannten Sammlung Bibliotheca Teubneriana erschienen. Daß F. in seiner Boethius-Ausgabe auch die unter dem Namen dieses Verfassers auf uns gekommene Geometrie mit aufnahm, gilt als Zeichen von Selbstüberwindung, da der Zweifel an der Echtheit dieses Werkes einen der wichtigsten Streitpunkte zwischen F. und Fachgenossen von ihm in historisch-mathematischer Beziehung bildet. Daß über Echtheit oder Unechtheit einer Geometrie ein lebhafter Kampf durch Jahrzehnte hindurch [399] geführt werden konnte, mag dem Nichtfachmann absonderlich erscheinen. Zur Erklärung diene, daß je nachdem jenes Schriftstück dem VI. oder XI. S. angehört, wie die beiden Parteirichtungen annehmen, auch die Kenntniß unserer Zahlzeichen von 1 bis 9 jedoch ohne 0, der einen oder der anderen Epoche zukommt und damit sehr wichtige kulturhistorische Folgerungen verbunden sind. Auf das Detail der Streitfrage kann hier um so weniger eingegangen werden, als der Verfasser dieser Lebensskizze der entschiedenste Gegner von Friedlein’s Ansichten in der genannten Frage war. F. hat seine Meinung mit unleugbarem Geschicke und Aufwand von großer Gelehrsamkeit in einer Reihe kleinerer und größerer Abhandlungen vertheidigt, vgl. sein „Gerbert, die Geometrie des Boethius und die indischen Ziffern“, 1861, dann einige Aufsätze in der Zeitschrift für Mathem. u. Physik von 1864 und 1865, endlich „Die Zahlzeichen und das elementare Rechnen der Griechen und Römer und des christlichen Abendlandes vom 7. bis zum 13. Jahrhundert“, 1869. Die übrigen historischen Arbeiten Friedleins beziehen sich besonders auf die Geometrie der Griechen, wobei er gleichfalls einer äußerst skeptischen Richtung angehörte. Unbestritten ist auf diesem Gebiete seine Entdeckung, daß von den sogenannten zwei Büchern des Hypsikles das zweite viel später als das erste entstanden und fälschlich jenem Verfasser zugewiesen werden konnte. Ob, wie F. behauptet hat, auch die Definitionen des Heron fälschlich diesen Namen führen, ob die Geometrie der Egppter auf so niedriger Stufe stand, daß denselben die Kenntniß der Winkel und deren Eigenschaften durchaus abging etc., das sind bis auf den heutigen Tag noch strittige Dinge, über welche wir fast durchgehend die entgegengesetzten Ansichten hegen. Friedlein’s von Hause aus nicht kräftige Natur unterlag vollends der ungemeinen Arbeitslast, die er sich aufgeladen hatte. Eine Lungenkrankheit raffte ihn dahin. Sein Charakter wird von allen, die ihn persönlich kannten, als liebenswürdig, mild, fast schüchtern geschildert. In der schriftlichen Polemik trat er wesentlich aus dieser seiner eigenen Natur heraus, so sehr hing er mit Kopf und Herzen an der wissenschaftlichen Sache, welcher er seine Dienste, man kann fast sagen sein Leben geweiht hatte.

Vgl. Allgem. Zeitung, Beilage Nr. 192 vom 11. Juli 1875 (Nekrolog von S. Günther) und Zeitsch. Math. Phys. Bd. XX. Histor. litterar. Abtheil. S. 109 ff. (Nekrolog vom Herausgeber).